Ein buntes Trostpflaster für Old Filth-Fans

Jane Gardam versammelt in ,,Die Leute von Privilege Hill“ witzige, kuriose und unheimliche Geschichten – und es gibt ein Wiedersehen mit alten Bekannten

Von Franziska RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Jahre ist es her, dass Jane Gardam mit dem ersten Band um den untadeligen Edward Feathers die deutschen Leser (und die Verleger wohl nicht minder) in Begeisterung versetzte – wie lange zuvor schon das englische Publikum. Zwei Jahre ist es her, dass so mancher Leser wehmütig den letzten Band der Trilogie (Letzte Freunde)  um das Ende des britischen Empires aus der Hand legte, um sich schweren Herzens von Figuren zu trennen, die zu Bekannten geworden waren, und von einer mit Präzision und Leichtigkeit skizzierten Welt, in der es noch tadellose Manieren, Gentlemen mit seidenen Einstecktüchern und mehrreihige Perlenketten gab. Eine deutsche Neuerscheinung von Gardam lässt daher aufhorchen und wohl auch manche Herzen höher schlagen.

Die Leute von Privilege Hill enttäuscht nicht. Schon die erste Erzählung, Hetty, schlafend, prüft unaufgeregt, wie man es von Gardam kennt, einen Lebensentwurf: Hetty, Ehefrau und Mutter, Anfang dreißig, begegnet Heneker wieder, dem Mann, den sie zehn Jahre zuvor verlassen hat, obwohl sie ihn, so viel ist klar, immer noch wie verrückt liebt. Geheiratet hat sie einen anderen, aus Henekers Perspektive „ungefähr zehn Minuten später. Weiß Gott, was das sollte, ich wusste von nichts. Den Nächstbesten. Stand sogar in der Times. Hochzeit in Schottland mit den ganzen verwitterten Witwen, und ich war nicht eingeladen.“ Malerin ist Hetty auch nicht geworden, wie sie es damals wollte. Stattdessen hat sie nun zwei Kinder, mit denen sie gerade Urlaub macht, ihr Ehemann will nachkommen. Natürlich stellt die Begegnung mit dem Mann aus der Vergangenheit alles in Frage, natürlich flammen sofort alte Gefühle wieder auf – ein Sonntagabend-Herzkino-Plot scheint vorprogrammiert. Aber Gardam ist nicht Pilcher: Sie wirft einen nüchternen, wunderbar humorvollen Blick auf ihre Figuren und lässt sie ihre Verwirrung in knappen, nie kitschigen Dialogen selbst ausdiskutieren. Hettys Geschichte ist nicht tragisch, sondern einfach authentisch: Annäherungsversuche des ehemaligen Liebespaares werden von einem im Alptraum schreienden Kind oder vom klingelnden Telefon unterbrochen. Am Ende kommt der Ehemann und Vater gutgelaunt im Urlaubsdomizil an und das Leben geht weiter.

Die Leute von Privilege Hill versammelt sechzehn Erzählungen der meisterhaften Erzählerin Gardam, auf Englisch bereits im Jahr 2014 unter dem Titel The Stories veröffentlicht, nun gewohnt kongenial übersetzt von Isabel Bogdan. In der kurzen Form sind Gardams präzise Charakterzeichnungen, ihre Ironie und Spitzzüngigkeit zur Genialität verdichtet. Jede Geschichte wartet mit unverwechselbaren Charakteren auf, die über die Lektüre hinaus im Gedächtnis bleiben, und jede gipfelt in einer Pointe, die mal witzig, mal melancholisch, mal unheimlich und mal boshaft ist. Dabei beweist Gardam einmal mehr, dass sie eine Meisterin des Dialogs ist: Kein Wort ist zu viel, keines falsch platziert, keines ohne Bedeutung, doch wirken die Gespräche ihrer Figuren so natürlich und ungekünstelt, als seien sie im echten Leben mitgeschrieben worden. Gleichzeitig entlarven diese Dialoge ihre Sprecher, zeigen ihren Snobismus und ihren Egoismus, ihre Verblendung, aber auch ihre Verletzlichkeit. Dass die Dialoge meist ohne Erzählerkommentar für sich stehen, verstärkt die Wirkung nur noch mehr: Eine Wertung von außen gibt es nicht, die Figuren sprechen das Urteil über sich selbst – wie die drei High Society-Damen in Letzte Ehre, die anlässlich des Todes ihres gemeinsamen langjährigen Kindermädchens zusammentreffen: „Sie wusste, wo sie hingehört.“ „Oh, und dass sie kein Geld hatte – davon abgesehen hatte sie ein ganz schönes Leben, würde ich sagen. Ob sie überhaupt rentenversichert war? Ich hab nie etwas für sie eingezahlt, ihr etwa?“

Alle Erzählungen in dem Band sind Geschichten von Beziehungen: Hetty begegnet ihrer Jugendliebe, eine junge Literaturwissenschaftlerin widersetzt sich ihrem ehrgeizigen Professor, ein Schuljunge bringt einen anderen zum Sprechen (und beide retten einen Schwan), ein junges Paar verarbeitet den Verlust ihres ungeborenen Kindes, eine Frau verhandelt im inneren Zwiegespräch den Tod ihres Partners, und immer wieder geht es um das Verhältnis von Müttern bzw. Eltern und ihren Töchtern. Gardam stellt ihre Beziehungen nicht dar, sie seziert sie: Erbarmungslos zeigt sie etwa in Jeder ein stolzer Reiter, wie Eltern, die es doch nur gut meinen, an ihrer Tochter so lange vorbeireden, bis sie diese in die Verzweiflung und letztlich in den Suizid treiben. 

Der Erzählband ist angenehm abwechslungsreich: Stil und Erzählperspektive variieren, sodass man den Eindruck bekommt, die kurzen Erzählungen sind auch Fingerübungen für größere Formate. Die Schauplätze wechseln von England und Irland nach Hongkong, aber auch nach Italien. Das Setting ist mal historisch, mal völlig zeitlos. Literarische Bezüge durchziehen viele Texte: Da gibt es eine Geschichte um bisher unbekannte Briefe von Jane Austen, Shakespeare-Liebhaber, die vor dem Theater campieren, einen Italien-Urlaub mit Bezügen zu E. M. Forsters Zimmer mit Aussicht und ein Ehepaar, das bei ihnen kaum bekannten, aber außerordentlich gastfreundlichen Seelenverwandten übernachtet, die sich Philemon und Baucis gleich am nächsten Morgen in Bäume verwandelt zu haben scheinen.  Überhaupt enthalten einige Geschichten Skurriles und auch Unheimliches: Eine eigentlich schon verstorbene Frau fragt die Erzählerin von Ein schauriger Ort höflich nach der Uhrzeit, ein Junge verwandelt sich in ein Fahrrad, eine alte Dame stirbt unbemerkt mitten unter Bekannten, während ihr Begleiter spurlos verschwindet.

Die meisten Erzählungen sind Ausflüge in das Old Filth-Universum, der Ton vieler Dialoge, die distinguierte „Britishness“ vieler Figuren, die Schauplätze, die Lebensthemen, all das wirkt in dem erfrischenden Abwechslungsreichtum doch vertraut – schon Hetty aus der ersten Erzählung erinnert an Betty Feathers. Die letzte und titelgebende Erzählung schließt den Kreis: In Privilege House gibt es ein Wiedersehen mit Edward Feathers, Dulcie, Fiscal-Smith und Terry Veneering, der bei einer Jam Session mit Dulcies Enkel bisher unbekannte Seiten von sich zeigt. Gerade bei dieser Geschichte wäre jedoch ein Vorwort wie in der englischen Ausgabe des Bandes wünschenswert, das die Entstehung der Erzählungen zeitlich einordnet – dessen Fehlen wurde von Rezensentinnen bereits mehrfach kritisiert (so von Ursula März im deutschlandfunk und Maike Albath in der Süddeutschen Zeitung).

Gardams Erzählungen sind leicht und doch abgründig, humorvoll und doch oft mit sehr ernsten Themen befasst, dabei immer lesenswert. Aber für Fans ihrer Trilogie bleiben sie ein Trostpflaster: Bei vielen Figuren würde man sich wünschen, ihre Entwicklung über einen längeren Zeitraum verfolgen zu dürfen, ihre Vorgeschichte zu erfahren, noch tiefer in ihren Charakter einzutauchen. Die dreiteilige Erzählung Telegonie, die von einem komplexen Mutter-Tochter-Verhältnis über drei Generationen hinweg erzählt, wirkt bereits wie die Skizze eines Romans, die nur auf ihre Ausarbeitung wartet. Man wird von Jane Gardams Erzählungen wie erhofft nachdenklich gemacht und bestens unterhalten, aber gerade das weckt die Sehnsucht nach einem neuen Roman der Grand Old Lady. Oder besser gleich drei.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jane Gardam: Die Leute von Privilege Hill. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Isabel Bogdan.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
384 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256811

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