Aufbrüche und Katastrophen

Daniel Schönpflug über die Schicksalsjahre zwischen 1918 und 1923

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er habe anders schreiben und sich der Geschichte anders nähern wollen, bekennt der Berliner Historiker Daniel Schönpflug in der Danksagung zu seiner Arbeit über die Jahre des Umbruchs zwischen 1918 und 1923. Das meint: ohne Fußnoten und gelehrten Apparat, ohne weitläufige theoretische Explikationen und begriffliche Absicherungen, anschaulich und eingängig, attraktiv für ein kulturell interessiertes, nicht unbedingt fachlich verbildetes Publikum, erzählend, dabei auf jede erstens, zweitens, drittens Argumentation verzichtend. Das ist, um es gleich zu sagen, weitgehend eingelöst. Man liest in einem Rutsch, ist beeindruckt von der Fülle der ausgebreiteten Beobachtungen und geneigt, über triviale Bilder, die sich hier und da in den Text verirrt haben, hinweg zu sehen:  Wendungen wie  die „Leidenschaft“, die „hell loderte“ oder die „frühere Liebe“, die sofort wieder „entbrannte“,  gehören zum Reich der arg verschlissenen Metaphern. Von blumiger Bemühtheit zeugt auch dieser Satz: Walter Gropius habe im Krieg „aus dem Feuer der Eifersucht“ wieder zurück gemusst in das „Feuer der Schlacht“.

Der Titel des Buches – Kometenjahre – ist inspiriert von der aquarellierten Zeichnung Paul Klees aus dem Jahr 1918 (Der Komet von Paris): Hoch über dem Eiffelturm balanciert ein harlekinisch anmutender Mensch auf einem Seil, auf der Stirn einen geschweiften Davidstern, der im Blick auf die viel diskutierte Judenfrage und den in Deutschland anschwellenden Antisemitismus für Aufschwung oder Höllensturz stehen könnte, um die Figur herum grüne, in den Umrissen zerfließende Punkte, in einem davon die Andeutung eines Himmelskörpers, der seine Bahn um den Kopf des Mannes zieht oder schon gezogen hat. Das Bild lässt ahnen, wie schwer es ist, in einer aus den Fugen geratenen Welt das Gleichgewicht zu wahren, sich zwischen der Unendlichkeit des Himmels und der nur angedeuteten Realität des gesellschaftlichen Lebens in der großen Stadt aufrecht zu halten und nicht in den Abgrund zu rutschen. Für Schönpflug symbolisiert der Komet das Unvorhersehbare: „ein Vorbote von großen Ereignissen, tiefgreifenden Veränderungen“, womöglich von „Katastrophen.“ Zugleich stehe er für das „Aufleuchten ungeahnter Möglichkeiten am Horizont, für unbekannte Zukünfte.“ Selten, fügt er hinzu, sei die Geschichte „so offen, so kontingent“ erschienen, „so in Menschenhand gelegt“.

Wer möchte einer solchen Feststellung nicht zustimmen. Allein, sie ist banal, zudem wenig spezifisch, denn Geschichte war und ist noch stets prinzipiell offen, ist immer kontingent, und gestaltet wird sie ebenfalls immer von Menschen. Niemand wird jedoch bestreiten, dass die Situation am Ende des jahrelangen Krieges, der den beteiligten Völkern in der Heimat wie an der Front schwere Lasten aufgebürdet hatte, eine ganz besondere war. Bei den Überlebenden paarte sich Erleichterung mit oftmals traumatischen Erinnerungen, die Sieger sonnten sich im Licht des Erfolgs, wurden gefeiert, die Verlierer hingegen marschierten zermürbt nach Hause, vor sich eine ungewisse, von vielen als demütigend empfundene Gegenwart und Zukunft. Dies wird vom Autor gespiegelt in den Schicksalen von gut einem Dutzend Männern und wenigen Frauen. Geschichte konstituiert sich hier in individuellen Geschichten, wird erfahrbar über die portraitierten Personen. Dargeboten ist das nicht als Kontinuum, sondern entlang der fortschreitenden Zeit gerät einmal dieser und ein andermal jene ins Blickfeld, ein take folgt in schneller Folge auf den nächsten. Es ist die Technik szenischen, fast möchte man sagen: filmischen Erzählens, die sich Schönpflug zum Vorbild erkoren hat, ­ eine kaleidoskopische Collage, die den Leser auf eine Art Schnitzeljagd entführt, in deren Verlauf er gefordert ist, selber die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen und sich einen Reim darauf zu machen.

Unmittelbar einleuchtend ist, dass die Darstellung in den letzten Wochen des Krieges beginnt, weniger überzeugend ist der gewählte Endpunkt. Für die Deutschen markierte das Jahr 1923 zweifellos einen tiefen Einschnitt. Die Überwindung der Inflation und der Übergang zu einer festen Währung versprachen die Rückkehr zu kalkulierbaren Verhältnissen und gewährten der Republik eine bitter nötige Atempause. Aber für die übrigen Nationen war das keine Zäsur von vergleichbarer Dimension: weder für Frankreich, noch für Großbritannien und schon gar nicht für die Vereinigten Staaten, von den Kolonien ganz zu schweigen. Man könnte darüber hinaus auch bemängeln, dass die Auswahl der Protagonisten ohne Begründung bleibt, dass dafür keine expliziten Kriterien benannt sind. Aber das wäre kleinkrämerisch, denn wer sich in die Erlebnisse und Gedankenwelten der geschilderten Figuren vertieft, wird rasch gewahr, dass damit ein im strengen Sinn zwar nicht repräsentatives, aber doch hinreichend breites, die Vorstellungskraft der Leser anregendes Spektrum an Verhaltensweisen, Erfahrungen und historisch bedeutsamen Konstellationen abgedeckt wird.

„Hurra, der Krieg ist vorüber, Hurra, der Kampf ist gewonnen“, jubelte der schottische Sänger Harry Lauder im Dezember 1918. Die Unterlegenen sahen das naturgemäß anders. Die erste Szene des Buches schildert, wie Matthias Erzberger, der Leiter der deutschen Delegation und einer der führenden Köpfe der katholischen Zentrumspartei, im Automobil durch die feindlichen Linien zu den Waffenstillstandverhandlungen fährt. Die von den Alliierten diktierten Bedingungen kommen einer Kapitulation gleich. Nach der Unterschrift spricht Erzberger sich und seinen Landsleuten Mut zu: „Ein Volk von siebzig Millionen leidet, aber es stirbt nicht.“ Wirklich tröstlich war das jedoch nicht. Die Enttäuschung über den ruhmlosen  Ausgang nach all den Anstrengungen und all dem Leid erschüttert nicht nur die Offiziere, sondern auch die Soldaten, jeden auf seine Weise, sehr nachhaltig die Matrosen in den Marinestationen an der norddeutschen Küste. Sie sind die ersten Aktivisten, die sich zu einer revolutionären Bewegung formieren und binnen weniger Tage das Reich überrollen. Einer von ihnen ist Richard Stumpf, der sich dagegen stemmt, sich später den reaktionären Freikorps anschließt, sich danach aber der gemäßigten Linken, der Sozialdemokratie, annähert. Was zuvor kaum jemand für möglich gehalten hat: Die scheinbar ehernen monarchischen Ordnungen verschwinden sang- und klanglos in der Versenkung. Kronprinz Wilhelm, der vergeblich hofft, das Kommando über die nach ihm benannte Heeresgruppe zu behalten, folgt seinem Vater in das selbst gewählte Exil nach Holland, wo ihm auf der Insel Wieringen in der Zuydersee ein karges Domizil zugewiesen wird.

„Nach dem Weltmoment vom 11. November 1918 (gemeint ist die Unterzeichnung des Waffenstillstands) zerfällt die Geschichte  wieder in unzählige individuelle, asynchrone Erzählungen“, konstatiert der Autor. Die Schriftstellerin Virginia Woolf, die wenig Neigung zeigt, sich von euphorischen Siegesfeierlichkeiten anstecken zu lassen, findet dafür ein einprägsames Bild: „Der Friede löst sich rapide in Luft auf, im Licht des Alltags.“ Was das für die Menschen bedeutete, wird mit einer Fülle von Episoden exemplifiziert. Wir werden Zeuge der ehelichen Auseinandersetzungen zwischen Alma Mahler und Walter Gropius, schauen George Grosz über die Schulter, wie er sich seinen Zorn über den Lauf der Dinge vom Leibe zeichnet, die Reichshauptstadt durchstreift, die er zum Exempel für das „Gewalttätige und Zerstörerische der menschlichen Existenz“ erhebt. Wir begleiten Marina Yurlova, die als jugendliche Kämpferin in einer Kosakeneinheit gedient hatte, auf ihren Irrfahrten durch das sibirische, von Revolution und Bürgerkrieg gebeutelte Rußland, ehe sie Wladiwostok erreicht, zunächst in Japan, dann in den USA als Tänzerin in eine geachtete bürgerliche Existenz findet.

Die Bildhauerin Käthe Kollwitz beobachtet in Berlin die um sich greifende Radikalisierung mit Sorge, sie ist als Anhängerin einer gemäßigten Republik für die Niederwerfung des Spartakusaufstandes, nicht aber für die dabei angewandten Methoden. In Paris erfährt die Journalistin und spätere Europaparlamentarierin Louise Weiss, eine leidenschaftliche Streiterin für die tschechischen Unabhängigkeitsbestrebungen, dass der Mann, der sie dazu inspiriert hatte, nämlich ihr Geliebter Milan Štefánik, sich an eine andere gebunden hat, ebenfalls in Paris schließt sich Nguyen Ai Quoc, den wir unter dem nom de guerre Hô Chí Minh kennen, der Sozialistischen Partei Frankreichs an und muß einsehen, dass dort das Interesse für die Belange der Kolonialvölker sehr begrenzt ist. Harry S. Truman, um nur ihn noch zu erwähnen, der den Feldzug in Frankreich als Artillerieoffizier mitgemacht hat, heiratet nach der Rückkehr seine angebetete Bess Wallace, eröffnet gemeinsam mit einem Kameraden ein für kurze Zeit florierendes Herrenkonfektionsgeschäft und engagiert sich in der Politik, wo er es 1945 als Nachfolger Delano F. Roosevelts bis zum Präsidenten der USA weit bringen wird.

Das Buch endet mit einer Szene in Deutschland. Sie spielt im Mai 1923. Rudolf Höß ermordet mit einigen anderen Freikorpsmännern einen vermeintlichen Verräter und wird dafür von der Justiz der Weimarer Demokratie nicht belangt: ein ‚Fememord‘, in dem die Gewalterfahrung des Nachkriegs kulminiert, zugleich eine Präfiguration des Geschehens zwanzig Jahre später in Auschwitz ­ mit Höß, dem Kommandanten, als Verantwortlichen für tausendfachen Mord. Der Komet des Anfangs hat – und damit schließt sich der Kreis – binnen weniger Jahre seine Umlaufbahn vollendet: Aus den Aufbrüchen, dem „Traumland“ voller Hoffnungen und Visionen ist zumindest in Deutschland, dem geographischen und politischen Zentrum des Kontinents, eine neue Düsternis geschlüpft, die – vorerst nur zu ahnen – bedrohliche Schatten auf die Zukunft wirft.

Titelbild

Daniel Schönpflug: Kometenjahre. 1918. Die Welt im Aufbruch.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
319 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783100024398

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