Vom Blick zum Durchblick

Fiona Pröll wirft einen Blick auf das Frauenbild in Irmgard Keuns Exilwerk

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor nicht einmal zwölf Monaten erschien die drei-bändige Werk-Ausgabe Irmgard Keuns. Fiona Prölls ebenfalls 2017 publizierte Untersuchung zum Frauenbild im Exilwerk der Schriftstellerin konnte verständlicherweise noch nicht auf diese künftige Standardausgabe rekurrieren, sondern zitiert nach diversen Einzelausgaben. Prölls kleinteilig gegliederte Arbeit will aufzeigen, inwiefern sich Keuns in den Exil-Jahren erschienene Romane – also Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (1936), Nach Mitternacht (1937), D-Zug dritter Klasse (1938) und Kind aller Länder (1938) – „auf einer höheren Sinnebene verstehen lassen“.

Einen „Schwerpunkt in Keuns Œuvre“ bildet die „Genderthematik“, konstatiert die Autorin nicht zu unrecht. Doch habe Keun sich und ihr Werk „stets von jeder Form eines radikalen Feminismus, der ‚irgendwie zu einer Sekte ausartet, distanziert“, wie Pröll gleich zu Beginn nicht versäumt zu betonen. Als Beleg zitiert sie nicht etwa Aussagen Keuns selbst, von denen es ja unzählige geben müsste, wenn sie dies tatsächlich ‚stets‘ tat, sondern verweist lediglich auf eine Studie Liane Schüllers.

Prölls Arbeit fußt auf der These, „dass die Zeit des Nationalsozialismus mit dem in den Werken [Keuns] aufgerufenen Bild von Weiblichkeit in Verbindung steht“, wobei die „männlichen Figuren […] als Abgleichfläche zum Weiblichen dienen“. Pröll möchte „über den Zugang des Blicks […] das antifaschistische Schreiben Keuns näher betrachten“. Ihr theoretisches Rüstzeug hierzu holt sie sich bei den Blicktheoremen von Luce Irigaray, Teresa de Lauretis und Laura Mulvey. Die von Pröll herangezogenen Texte der drei Theoretikerinnen stammen allerdings aus den 1980er  Jahren und sind im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhundert schon seit einiger Zeit nicht mehr state of the art.

Wichtiger noch als die bereits genannte Grundlagenthese ist die mit dieser zusammenhängende zweite Hypothese Prölls. Sie besagt, dass Keuns Romane „den weiblichen Blick als genuin weiblich ausweisen“. Dabei seien Keuns Frauenfiguren überhaupt „visuelle Charaktere“, deren „schärfster Sinn […] das Sehen“ sei, wobei sie „mit ihrem Blick auf den Faschismus“ treffen. Darum seien sie allerdings keineswegs bloß passive Rezeptorinnen, keine „Sammelbecken der Sinneseindrücke, die auf sie einströmen“. Denn das „weibliche Sehen“ führe die Frauenfiguren zur „weiblichen Erkenntnis, also vom Blick zum Durchblick“. Mehr noch, was Keuns weibliche Charaktere sehen „arbeitet in ihnen weiter, wird überdacht, strukturiert und dient letztlich als Handlungsmotivation“.

Um ihre These eines spezifisch weiblichen Sehens in den Romanen überhaupt plausibilisieren zu können, muss Pröll den Versuch unternehmen nachzuweisen, dass Keun die „Geschlechterrollen“ ihrer Figuren „typenhaft“ angelegt hat. Denn erst dies ermöglicht „das Konzept eines explizit weiblichen Blicks“ in den Werken. Dabei gerät Pröll in einige Schwierigkeiten, die sie auch schon mal zu argumentativen Verrenkungen zwingen. So muss sie zwar behaupten, dass die Geschlechterrollen von Keun „überdeutlich“ gezeichnet würden, andererseits aber legt sie auch – um einiges überzeugender – dar, dass die Geschlechterrollen von den Protagonistinnen „durchbrochen“ werden. So „besitzen“ Keuns zentrale Frauenfiguren Pröll zufolge „stereotype Weiblichkeit und haben sich zudem typisch Männliches angeeignet“. Mithin, so schließt sie, „entsprechen die Protagonistinnen in den Exilromanen modernen Ansätzen der Gender Studies, welche Weiblichkeit und Männlichkeit als zwei voneinander unabhängige Konstrukte und nicht nur als Entweder-oder-Entscheidung auffassen, sodass eine individuelle Geschlechterrolle Aspekte beider Kategorien in sich vereinigen kann“. Das mag so sein. Genau darum aber verkörpern die Frauenfiguren der Exilromane eben keine stereotype Weiblichkeit. Pröll aber verfällt für einen Moment in ein essentialistisches Argumentationsmuster. Denn sie meint zeigen zu können, dass Keuns Sprache „den Effekt der Typenhaftigkeit der Figuren“ verstärkt und schließt daraus, „umso leichter“ könne in Bezug auf Keuns Exilromane daher „von Weiblichkeit an sich gesprochen werden, wenn es sich um Protagonistinnen handelt“.

Der weibliche Blick jedenfalls sei „ein am Leben interessierter“, da er „die Alltagsperspektive“ einnehme. Hinzu komme, dass „ausgeprägte soziale Eingebundenheit als typisch weiblich“ gelte. Demzufolge „durchblicken“ die Protagonistinnen in Keuns Exilromanen „den Faschismus von ihrer weiblichen Position aus“ und können zu einer „nüchternen Sicht“ auf das „männlich geprägte NS-System“ kommen. Da Pröll als Gendertheoretikerin „klar voneinander abgrenzbare Geschlechterrollen“ negiert, spricht sie Männern die Möglichkeit nicht grundsätzlich ab, den Faschismus „distanzierter zu betrachten“ als ihre Geschlechtsgenossen dies gemeinhin tun. Allerdings müssen sie dazu die ‚weibliche‘ Perspektive übernehmen.

Nun ist der (weibliche) Blick in Keuns Exil-Romanen zwar das zentrale Thema von Prölls Arbeit, und er ist auch sicher einer solchen Untersuchung wert. Doch Prölls ausschließliche Fokussierung auf ihn führt dazu, dass sie seine Bedeutung in Keuns Exilromanen überschätzt und sogar Gefahr läuft, einem gewissen Tunnelblick auf den Blick zu erliegen.

Letztlich interessanter aber als ihre These von der Bedeutung des genuin weiblichen Blicks in Keuns Werk ist vielleicht eine zweite, unter anderem gegen die Keun-Interpretation Ritta Jo Horsleys gerichtete, die von Pröll ausführlich gewürdigt wird. Diese zweite These besagt, dass nicht nur Gilgi und das kunstseidene Mädchen, sondern auch die Frauenfiguren in Keuns Exilromanen „weiterhin als Vertreterinnen des Typus der Neuen Frau gelten“ können, ohne dass sie allerdings „exakte Kopien“ von Gilgi und Doris wären. Vielmehr seien die Protagonistinnen der Exil-Romane eine „Weiterentwicklung des Typus, welche die Bedrohung durch die faschistische Lebenswirklichkeit nötig gemacht hat“.

Titelbild

Fiona Pröll: Das Frauenbild in Irmgard Keuns Exilwerk – neu entdeckt.
Tectum Verlag, Marburg 2017.
235 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783828838864

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