Im dunklen Spiegel

Susanne Röckels mythischer Roman umspielt die Grenzen des Vernunftdenkens

Von Szilvia GellaiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Szilvia Gellai

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigmund Freud bezeichnete die Religion als Massenwahn. Sie entspringe dem unvergleichlich starken Bedürfnis nach Vaterschutz und beruhe auf der Einschüchterung der Intelligenz:

Die Vorsehung kann der gemeine Mann sich nicht anders als in der Person eines großartig erhöhten Vaters vorstellen. Nur ein solcher kann die Bedürfnisse des Menschenkindes kennen, durch seine Bitten erweicht, durch die Zeichen seiner Reue beschwichtigt werden. Das Ganze ist so offenkundig infantil, so wirklichkeitsfremd, daß es einer menschenfreundlichen Gesinnung schmerzlich wird zu denken, die große Mehrheit der Sterblichen werde sich niemals über diese Auffassung des Lebens erheben können.

Nun erscheint diese intellektuelle Selbstgewissheit mit Susanne Röckels Der Vogelgott in den Händen ebenso naiv wie fatal. Die Gretchenfrage stellt sich mehr denn je. Und dieser Roman zeigt bravourös, dass Ratio allein für eine angemessene Auseinandersetzung mit der Frage nicht hinreicht.

Die unheimliche Grundmelodie des Buches entspinnt sich um den düsteren Ursprungsmythos des Volkes der Aza, das ein phantastisches Wesen verehrt: einen riesigen und prachtvollen Greifvogel mit Augen wie schwarzglänzende Spiegel. Das Tier, eine Art zwischen Geier, Adler und Harpyie, entzieht sich konsequent der klassischen biologischen Systematik. Es hat keinen Namen. Will man es begreifen, muss man sich ihm anverwandeln. Dabei ist der Vogel Gott und Teufel zugleich. Sein schrecklicher Hunger lässt sich nur mit der allerkostbarsten Speise stillen, dem Fleisch von Menschenkindern. Dies ist der grausame Tribut für die Fürsorge des mächtigen Vogelgottes. Seine Gläubigen sind aber gewillt, ihn zu zahlen. Soweit der Kern jener Geschichte, die im Roman aus vier Perspektiven und in immer neuen Variationen erzählt wird.

Der Prolog enthält den Bericht des Ornithologen und dreifachen Familienvaters Konrad Weyde, der auf einer Forschungsreise vermutlich in den späten 1970er, frühen -80er Jahren dem Gott der Aza begegnet. Demgegenüber spielen die drei Hauptkapitel (zumindest nach dem Stand der Kommunikationstechnologien zu urteilen) in der Gegenwart, und zwar überwiegend in einer „kostspieligen“ deutschen Stadt, wo die Kinder Weydes leben. Auch sie schildern, wie sie den Vogelgott kennen und fürchten gelernt haben.

Der Jüngste unter den Geschwistern, ein ehemaliger Medizin-Student, führt ein zielloses Leben, bis er sich eines Tages unter dem nahezu hypnotischen Einfluss eines Fremden für die obskure Organisation „Save the World“ rekrutieren lässt und für ein Jahr ins Aza-Land fährt. Worin die Funktion des verwahrlosten Hospitals vor Ort besteht, bleibt im Dunkeln. Der Aufenthalt ist eine Aneinanderreihung beklemmend grotesker Situationen, die in einem blutigen Ritual gipfeln.

Das mittlere Kind, eine Kunsthistorikerin, verfolgt leidenschaftlich ein Ziel. Sie will das Rätsel eines Altarbildes erforschen, das sie und ihre verstorbene Mutter – die Welt der Lebenden und Toten also – wie ein symbolisches Band verbindet. Ihre Archivreisen führen zu einer namhaften Kunstsammlung, wo sie den neuen Direktor trifft. Dieser vermag sein Gegenüber mit einer unwiderstehlichen Macht in den Bann zu schlagen:

Lalyt fesselte uns alle, weniger durch die Worte, die er sprach, als durch seine ungeheure physische Präsenz. Sein Körper schien eine besondere Stärke oder Robustheit zu besitzen, was durch den zwar schwachen, doch sehr unangenehmen Geruch verstärkt wurde, der von ihm ausging und mich seltsamerweise an den Raum erinnerte, in dem mein Vater einst seine Vögel präpariert hatte. Man konnte den Blick nicht von ihm wenden, obwohl sein Gesicht mit der niedrigen Stirn, den tief liegenden, lauernden Augen, der großporigen Haut eher abstoßend wirkte.

Diese Figur tritt schließlich auch im letzten Kapitel auf – dort aber als Arzt des Städtischen Klinikums. Der ältere Weyde-Sohn, ein Journalist auf absteigendem Ast, wird durch seine Recherchen zu ihm geführt. Er möchte die Umstände eines tragischen Autounfalls aufklären, um sich so vom Zusammenbruch seiner Ehe abzulenken.

In der Gestalt eines gleichermaßen faszinierenden wie abstoßenden Mannes verfügt der Vogelgott über einen irdischen Stellvertreter, der sich letztlich aller Protagonisten bemächtigt, mögen sie noch so wissenschaftlich orientiert sein. Nicht nur soll das personifizierte, alterslose Böse schon an „allen möglichen Orten, in allen möglichen Epochen […] sein Unwesen getrieben“, sondern um die Jahrhundertwende als Soldat im Dienst der Engländer gestanden haben. Folgerichtig wird die Frage aufgeworfen, ob „er die unmäßige, vor nichts haltmachende Gewalt, die ihm zu Gebote stand und die er in anderen erwecken konnte, [nicht] von uns“ gelernt hat. Zwischen den Ideologien und Taten der Aza und der Christen werden ebenfalls markante Parallelen gezogen. Trotz diesen selbstkritischen Gesten wirkt es ziemlich klischeehaft und irritierend, wenn die Ursprünge des Bösen einmal mehr bald in Afrika, bald „irgendwo in Osteuropa“ lokalisiert werden. Das übliche Gefälle zwischen Westen und Osten beziehungsweise dem globalen Norden und Süden relativiert sich kaum dadurch, dass der faulig riechende Gottesvertreter im europäischen Maßanzug und teuren Oxford-Schuhen steckt und sich in „flüssigen und kultivierten Worten“ präsentiert.

Scharfsichtig fällt dafür die Pointe aus – und darauf deutet schon das unablässig bespielte sinnlich-olfaktorische Register hin –, dass sich das Wesentliche in diesem mythischen Geschehen jenseits von Worten abspielt. So sind die Figuren meist „außerstande, in wörtlicher Form wiederzugeben“, was „der Unheimliche“ jeweils genau gesagt hat. In allen Kapiteln wird man geduldig an die Grenzen des Sagbaren herangeführt; gekonnt werden die Kulminationspunkte des Schauers in begrifflich kaum noch fassbaren Grauzonen eingerichtet. Der kunsthistorische Fall des palimpstestuösen Gemäldes Madonna mit der Walderdbeere, in dem der „Schrecken aller Schrecken“ über Bildbeschreibungen transportiert wird, ist hierfür das wohl schönste Beispiel.

Es ließe sich darüber streiten, ob die haargenaue Verschaltung der einzelnen Kapitel miteinander so wirklich notwendig ist. Man hätte hier mehr auf die Mitarbeit der Leserschaft vertrauen, ja, ihr mehr Auslassungen, Andeutungen und Unvollständigkeiten zumuten können. Gleichzeitig aber besteht kein Zweifel daran, dass der Mythos, dessen Gravität im Buch spürbar werden soll, gerade von der variationsreichen Wiederholung, von den Wandlungen des Immergleichen lebt.

Ohne Moral zu predigen oder in Pathos zu verfallen, gelingt es der Autorin außerdem zu beschreiben, wie das Bedürfnis nach einem Daseinssinn und einer Bestimmung jegliche Rationalität aufzuzehren vermag, wie prägend die Hoffnung sein kann, „einen Vater zu finden, der sich als stark und gut erweist“ und wie verheerend die Erfahrung sich auswirkt, stattdessen auf abgewandte Väter zu treffen, deren Aufmerksamkeit (wenn überhaupt) nur mittels schrecklicher Opfer geweckt werden kann. Anhand der Weyde-Geschwister – allesamt prekäre Existenzen – wird nicht zuletzt auch die „Gesellschaft der Erfolgreichen, der Realitätstüchtigen“, die sich trotz völliger Ermattung „als Herren der Wirklichkeit aufspielen“, heftig angeklagt. Röckels elegante Prosa zieht uns gleichsam durch die dunkel spiegelnden Augen des Vogelgottes in den blinden Fleck des Vernunftdenkens hinein. Das Buch steckt von der ersten bis zur letzten Seite voller Spannung und steht den Klassikern der schwarzen Romantik, an deren Motive die Autorin souverän anknüpft, in Nichts nach.

Titelbild

Susanne Röckel: Der Vogelgott. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2018.
267 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272145

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