Vom Papier erzählen

Neil Holt, Nicola von Velsen und Stephanie Jacobs haben gemeinsam einen Band über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs herausgegeben

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Anspruch der Herausgeber*innen des Buchs mit dem schlichten Titel Papier ist hoch, wenn sie im Vorwort schreiben: „Eine solche Geschichte des Papiers scheint so noch nicht erzählt worden zu sein.“ Tatsächlich wird der Band diesem Anspruch gerecht: Das Buch vermittelt eine Fülle von Wissen über Material und Medium, ohne den Leser zu belehren oder ihn gar zu langweilen. Es bietet darüber hinaus ein ungewöhnliches Blätter- und Lesevergnügen: Seite um Seite lässt sich mit viel Lust und Staunen immer wieder Neues entdecken oder vorgängig Gewusstes in einem neuen Kontext sehen. Papier könne man nur sieben Mal falten, liest man und glaubt es nicht, greift also zum dünnsten Papier, das zur Hand ist, und ja, es stimmt: Schon der siebte Falz ist nicht mehr präzise, und danach nimmt selbst ein dünnes Papier nur noch eine knubbelförmige Gestalt an. An solchen Überraschungen hält das Buch einiges bereit, aber entscheidend für das Gelingen dieses Bands sind die gründlichen Recherchen im Vorfeld der Publikation. Sie schlagen sich zum einen in der Vielfalt der zur Sprache kommenden Aspekte nieder und zum andern in den eingestreuten kleinen lexikalischen Übersichten sowie einem umfassenden Anhang, der unter anderem weiterführende Literatur und Papiermuseen auf der ganzen Welt verzeichnet.

Man stellt sich vor, wie ein Brainstorming den Anfang gesetzt hat und die Frage im Raum stand: Wo überall trifft man auf Papier? Es ist Trägermaterial für Zeichnungen, Fotos, Notizen, Druck, Landkarten, Spielkarten, Werkstoff für Modelle, Bücher, Faltungen, Verpackungen, Möbel, Tapeten. Papier umhüllt den Tabak für Zigaretten und schützt(e) Zitrusfrüchte. Es gibt Buntpapiere, Dekorpapiere, Vorsatzpapiere, Marmorpapiere… Papier ist autonomes Kunstmaterial, dient als Collagematerial in der Kunst, und es ist alltäglich genutzter Werkstoff für Geld, Karteikarten, Haftnotizen, Zuckertütchen oder Tragetaschen. Papier spielt schließlich eine wichtige Rolle in Haushalt, Kosmetik und Hygiene, geadelt durch Gerhard Richters Werkserien Klorolle (Toilet Paper) und Loo Paper aus den 1960er und 1990er Jahren – im Buch leider ausgespart.

In der Überfülle möglicher Erinnerungen, Assoziationen, Erfahrungen und Vorstellungsbilder setzt die Trias „Material, Medium und Faszination“ einen schlüssigen Akzent, illustriert durch die Abfolge dreier doppelseitiger Fotos, die den Rohstoff, das blanke Papier auf Rollen, und bedruckte, im Umblättern begriffene Seiten aus einem Buch zeigen. Sechs Kapitel informieren mit jeweils einer Reihe wohltuend kurzer Beiträge über Papier als Material, Medium, Symbol und Fläche sowie über „Papier und Volumen“ und „Papier und Buch“. Dass der Werkstoff aktuell aufgrund seiner Rückläufigkeit im Zeichen der Postdigitalität ins Bewusstsein rückt, wird ein wesentlicher Anstoß für die Arbeit an dieser Publikation gewesen sein. So heißt es im Vorwort:

Die Allgegenwart und das „Zur-Hand-Sein“ von Papier hätte man bis vor wenigen Jahren an einem exemplarischen Tagesablauf beschreiben können – etwa entlang der Brötchentüte, dem Kaffeefilter über die Zeitung, die Post, einen Taschenkalender oder Notizblock. Wie sich der Umgang mit Papier mit der Zunahme digitaler Medien drastisch verändert, erlebt jeder individuell, sobald sie oder er dieser Frage für einen Augenblick nachsinnt.

Ein weiterer Grund, weshalb man sich gerne und gewinnbringend mit dem Buch befasst, liegt in der ausgewiesenen Fachkompetenz der Autor*innen, Heike Gfrereis beispielsweise, die von der Materialität des Papiers auf die Schreibprozesse der Literaten schaut: vom weißen Papier über das Wasserzeichen, von Farb-, Muster- und Altpapieren bis hin zum Format des Papiers, dessen Bedeutung sie für den Entstehungsprozess von Gottfried Benns Gedicht Ein Wort nachweist. Der Umgang mit dem Papier verbindet schließlich die Schreiborte Friederike Mayröckers und Franz Kafkas, knapp und kurz auf den Nenner gebracht mit „Viel Papier“. Philipp Hontschik widmet sich der Bedeutung der Notizen und Zettel im Werkprozess eines Arno Schmidt oder Albert Einstein. Siegried Gohr befasst sich mit dem Papier im Kontext der bildenden Kunst, bei Thomas Demand etwa. Der baut Tatorte, die zumeist durch Pressefotos in das öffentliche Bewusstsein gelangt sind, oder Orte des alltäglichen Lebens eins zu eins in Papier nach, um diese temporären Modelle fotografisch festzuhalten. Im Kontext eines Buchs über Papier wird selbst einem Demand-Kenner viel klarer, wie die makellosen Papieroberflächen das Grauen in der Banalität eines blau gefliesten Bads mit gelbem Duschvorhang verstärken, die Monotonie der Architektur eines Garagenhofs, ebenso aber auch die Schönheit eines Zeichensaals. Im Abstraktions- und Verfremdungsprozess kommt hier dem Papier eine Erkenntnisfunktion zu. Das im Buch abgebildete Foto Demands, Daily #27 (2016), zeigt fast als Abgesang auf die papierene Kommunikation die durch den Briefschlitz einer Tür hineingeworfene tägliche Post. Adressfelder und Umschläge sind blank. Raoul Mörchen beschreibt, wie John Cage in der Werkreihe Music for Piano den Kompositionsprozess durch den Blick auf ein leeres Blatt Papier initiiert. Denn kein Blatt ist wirklich makellos, und Cage überträgt die Topografie aller Einschlüsse, Flecken und Unebenheiten auf ein Notenblatt. Musik entsteht im Papier. Mit Nanne Meyer kommt eine Künstlerin selbst zu Wort. Für sie sind Papiere „Gründe zum Zeichnen im zweifachen Sinne“, als Untergrund und als Motivation. Das gilt insbesondere für die vorgefundenen Papiere. Sie führen, so Meyer, im Atelier oft ein „Augenwinkeldasein“, bis der richtige Moment kommt. Dies sind nur einige wenige Beispiele von rund 60 kleinen Autorenbeiträgen, in die man je nach Interesse quer durch den Band hineinschauen kann, ob zum Thema „Handel mit grafischen Papieren“, „Lochkarten“, „Ephemera“ oder „Gefaltete Zeit“.

Gestalter des Buchs ist Neil Holt, einer der Herausgeber des Buchs. Die Typografie spiegelt die Vielfältigkeit der Aspekte: Es variieren Block- und Flattersatz, der Satzspiegel wechselt, und im Rhythmus von Verdichtung einerseits und großzügigem Weißraum andererseits sowie durch die unterschiedlichen Medien der Illustrationen wird Spannung erzeugt. Die den Themenblöcken zugeordneten Farben bilden als Gegengewicht eine Art Leitorientierung. Vor allem sind es die Fotos von Thorsten Kern, durch die die Materialität des Papiers sinnlich erfahrbar wird. Das oft historische Illustrationsmaterial und eine Orientierung auf das Handwerkliche lassen den Werkstoff Papier vergangener erscheinen, als er tatsächlich ist. So erlebt seit einigen Jahren die Papiertüte in der Abkehr vom Plastik eine Renaissance, worauf Nicola von Velsen in ihrem Begleittext auch verweist; im Buch ist die Papiertüte nur durch Abbildungen dreier nostalgischer Beispiele aus der ehemaligen DDR repräsentiert. Was dann jedoch wieder die Qualität des Buches ausmacht, ist auf der gegenüberliegenden Seite der Abdruck von fünf Skizzen mit Legende, und wie nebenher ist man in Bild und Text über die verschiedenen Falt- und Klebetechniken bestens informiert: „Die gängigen Papiertüten heißen gewickelte oder geklebte Spitztüten, Flachbeutel, Kreuzbodenbeutel und Klotzbodenbeutel.“ Allein die Versammlung der Wörter! Zugleich lassen sich auf der Basis dieser Informationen die abgebildeten Modelle aus der ehemaligen DDR mühelos dem Kreuzbodenbeutel-Typus zuordnen.

Wunderbar ist das Spiel mit dem Papier im Buch selbst, der Wechsel zwischen Condat matt Perigord, einem matt gestrichenen Bilderdruckpapier, und Munken Premium Cream, einem ungestrichenen Papier, das der eleganten, glatten Haptik des erstgenannten Papiers eine raue, natürliche Haptik entgegensetzt. Überraschenderweise funktioniert die eher zierliche, feine Caecilia-Schrifttype mit beiden Papieren. Die offene Fadenheftung, inzwischen eher als modisch einzuordnen, erweist sich hier als sachdienlich, einmal wegen des guten Aufschlagverhaltens des knapp 300 Seiten umfassenden Buchs, aber auch wegen des impliziten Verweises auf die Buchherstellung, gezielt gesteuert durch die Korrespondenz zwischen dem als Frontispiz abgedruckten Foto von noch nicht gehefteten, ungeordnet übereinander gestapelten Papierlagen und den bei dem offenen Buchrücken in einer festgelegten Folge geordnet und geheftet sichtbaren Papierlagen des Buchblocks. Gewöhnungsbedürftig ist der in verschiedenen Farben und Intensitäten markierte Bund beziehungsweise Rand. Und ohne allzu streng sein zu wollen, mag auch die Typografie des Buchtitels Papier in Form einzeln herausgeklappter Großbuchstaben, hellgrau vor rotem Grund, ein wenig zu didaktisch erscheinen. Das aber bricht die Freude an diesem uneingeschränkt zu empfehlenden Band nicht – und vielleicht sind es gerade diese Gestaltungsmittel, die Aufmerksamkeit wecken und zum Kauf verführen.

Titelbild

Neil Holt / Nicola von Velsen / Stephanie Jacobs (Hg.): Papier. Material, Medium und Faszination.
Prestel Verlag, München 2018.
272 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783791383057

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