Strukturwandel in violettem Licht

Zum Romandebüt von Marie Gamillscheg

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem schon längst aufgelassenen Bergwerk, tief drinnen im Inneren des Berges, macht Merih, ein junger Mann aus der nahe gelegenen Stadt auf der Suche nach Arbeit, eine merkwürdige Entdeckung:

Irgendwo tropft es, ganz nah. Dann etwas weiter weg, dann auch hinter ihm, und plötzlich von allen Seiten. Der Raum scheint auf einmal viel größer als vorhin, scheint ganz und gar aus Tropfen und Glänzen zu bestehen. Wie das glänzende, farbige Wasser von den Decken fällt und sich auf die Steine legt, so müssen die Steine einmal begonnen haben zu glänzen, und so besteht alles, was glänzt, eigentlich nur aus diesem Quellwasser, das aus den Tiefen des Berges kommt –

Merih fühlt sich, als hätte er seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen.

Und er  fragt sich: „Warum soll sich hier jemand umbringen“.

Das Schaubergwerk, der Schauplatz des mittlerweile viel gelobten Romandebüts Alles was glänzt von Marie Gamillscheg, wirkt ebenso tot wie die Siedlung am Fuße des Berges; kein Wunder, dass die Einheimischen den Ort in Scharen verlassen, kein Wunder auch, dass die Touristen ausbleiben: Alles fällt zusammen, die Stollen, die Häuser, die Preise im einzigen Gasthaus des Ortes. Was bleibt, angesichts eines solchen Strukturwandels, fragen die Zurückgebliebenen, was bleibt uns anderes als der Selbstmord?

Alles schläft. Nicht die Nacht, der Tag höhlt die Häuser aus. Tagsüber schwarze, leere Löcher. Manche sind ausgebrannt. Da hat wer randaliert. Da hat wer die alten Matratzen verbrannt, und jetzt liegen nur mehr Drahtgestelle herum. Nachts kann man glauben, dass hier Menschen schlafen, dass hier am nächsten Morgen Menschen aufstehen, in Autos steigen und zur Arbeit fahren. Aber seit der Journalist hier war, sind viele in die Stadt gezogen, und Susa vermietet ihre Zimmer dauerhaft zum Nebensaisonpreis.

Der Schauplatz weckt düstere Vorahnungen. Aber mit der Tradition des Antiheimatromans, der in den 1970er Jahren das Schwarz-Weiß der alten Heimatromane durch ein Weiß-Schwarz ersetzt und doch eine Zeit lang ordentlich geblüht hat, vor allem in Österreich, mit dieser Tradition hat Marie Gamillscheg gottlob nichts mehr im Sinn. Die hier eingangs zitierte Schlüsselstelle ihres Romans verweist denn auch schon explizit darauf, dass inzwischen ohne Weiteres wenigstens im Raum der Literatur durchaus unterschiedliche, auch diametral entgegengesetzte Perspektiven durch- und zu Ende gespielt werden können.

Von Eisenerz, von der Stadt (im Norden der Steiermark) am Fuße des Erzbergs, die in den letzten Jahrzehnten massiv unter der weltweiten Krise in der Eisen- und Stahlindustrie gelitten hat, ist in diesem Roman nie ausdrücklich die Rede. Der Schauplatz der Handlung hat keinen Namen; er ist – anders als das Modell, das gleichwohl gelegentlich durchschimmert – schon vollkommen in Dunkel gehüllt, jederzeit einsturzgefährdet, dem Untergang preisgegeben. Wer durch diesen Ort geht, bemerkt gleich: Hier passiert was oder hier ist was passiert, hier gibt es keine Bewegung mehr, hier kann man jederzeit umkommen. Nur der große Knall steht noch aus.

Merih allerdings, wohl ein Türke, wie sein Name vermuten lässt, sieht das anders. Er kann weder mit dem guten alten Schwarz-Weiß noch mit dem neumodischen Weiß-Schwarz etwas anfangen, er sieht (oder malt) die Welt lieber bunt. Auf einer Bergtour (immer hat und behält er den Abbauberg vor Augen) zieht er schließlich Bilanz: „Ob schon je jemand diese Färbung in der Abendsonne gesehen hat, wenn der Berg an der Ostseite nicht gleich von orange zu rot zu dunkelrot zu schwarz übergeht, sondern kurz im Violetten verharrt?“ Ein hoffnungsloser Romantiker? Nicht nur Susa ist überzeugt, er werde eines Tages „richtig dumm sterben“. Merih indes hat sich vorgenommen, ausgerechnet an diesem zerbröselnden Ort einen Job als Regionalmanager anzunehmen, Vorschläge zur Wiederbelebung des Ortskerns vorzulegen, die Wohnraum- und auch gleich die Beziehungsstrukturen zu modernisieren und zur Krönung seines Projekts ein riesiges Fest zu veranstalten. Er will dem Stillstand den Kampf ansagen. Ein Träumer? Vieles deutet darauf hin. Seine privaten Probleme. Seine Besorgnis, er könnte am Ende doch nicht mehr seinen Mann stehen. Aber, so sicher ist’s nicht; sicher ist nämlich in dieser (fiktiven) Welt gar nichts. Auch dann nicht, wenn am Schluss viele, fast alle Illusionen zerplatzen und folglich noch einmal konstatiert werden muss: Alles schläft.

Ein Lob des Stillstands soll dieser Roman allerdings nicht sein. Marie Gamillscheg erzählt, in einem beinah unheimlich ruhigen, unaufgeregten Ton, nüchtern und doch zugleich schwärmerisch-wirklichkeitsfern, was sich zuträgt, wenn allerorten der soziale Zusammenhalt bröckelt und niemand sich mehr erinnert oder auch vermisst, was einmal doch möglich gewesen oder im Hinblick auf die Zukunft noch ausgedacht, ersehnt, betrieben worden ist. Sie nutzt über weite Strecken nicht das Präteritum, sondern das Präsens oder sogar das Perfekt als Erzähltempus und charakterisiert so die bleierne Atmosphäre, die über allem hängt, was die Eingeborenen denken, reden und tun. Sie konfrontiert die Träume der alten Bergleute mit dem griesgrämigen Gerede der Nachkommen, die sich vor jeder Bewegung fürchten und längst ihre Hände in den Schoß gelegt haben. Sie zeichnet so ein beklemmendes Bild; aber nur die kleinmütigen Figuren, auch das zeigt das Bild, sehen keinen Ausweg aus dem Schlamassel.

Radikal anders als in den diversen Transformationen des Heimatromans erhält in diesem Roman die Konstituente des Erzählers / der Erzählerin keinen signifikanten Vorrang mehr. Es sind vielmehr die Perspektiven der Figuren, die hier dominieren; sie werden vor-, jedoch nie bloßgestellt, sie werden weder bewundert noch gescholten, sie werden in kein Korsett gebunden: Die Leser/innen sind am Wort. Ein viel versprechendes Romandebüt.

Titelbild

Marie Gamillscheg: Alles was glänzt. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875613

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