Sensationen des Alters

Peter Härtling entwirft in seinem letzten Roman „Der Gedankenspieler“ einen Protagonisten, der mit den Herausforderungen des Alterns kämpft

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Menschen dauerhaft alleine leben, ist heute keine Seltenheit mehr. Die Konsequenzen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Voraussetzungen, die der Wandel in Lebens- und Familienkonzepten mit sich bringt, werden von Politik und Gesellschaft nur allmählich wahrgenommen. Ein Beispiel für diese Veränderung ist das Singledasein im fortgeschrittenen Lebensalter. Die zunehmende Flüchtigkeit von Paarbeziehungen hat die Eingebundenheit in ein familiäres Gefüge fragwürdig werden lassen. Problematisch wird das Fehlen des familiären Netzwerkes im Alter, wird doch erwartet, dass sich vor allem die Kinder der hilfsbedürftigen Senioren annehmen. Wie verändert sich das Leben eines Menschen im Alter, der nicht auf den Rückhalt einer Familie vertrauen kann? Auf welche alternativen Netzwerke kann er zurückgreifen? Mit dieser Frage beschäftigen sich nicht nur Sozial- und Pflegewissenschaftler, das Figurenmodell des kranken Alten wird auch in der Literatur immer wieder variiert und auf sein metaphorisches Potenzial hin befragt. Als Prototyp des einsamen Alten hat sich in der erzählenden Literatur der alternde Intellektuelle herausgebildet. Vor allem seine kritische Haltung zur Gegenwart, die oft mit dem Verhaftetsein in der Historie oder der Philosophie einhergeht, bedingt die gesellschaftliche Außenseiterposition. Der Protagonist nimmt diese aber nicht zwangsläufig wahr, gibt es doch eine Reihe von Gesprächspartnern, mit denen der Austausch möglich ist. Da der Ruhestand für den geistigen Arbeiter keine Veränderung seines Alltags bedeutet, bricht das Alter in dieses Leben meist in Form von Krankheiten ein. Dieses Modell greift Peter Härtling in seinem letzten Roman Der Gedankenspieler auf. Zwar war die Arbeit am Manuskript vor seinem trotz langer Krankheit überraschenden Tod weitgehend abgeschlossen, die finale Korrektur des Textes durch den Autor stand allerdings noch aus. So ist der Roman in doppeltem Sinne ein Alterswerk. Ein alter und erfahrener Romancier erzählt vom Lebensende eines Protagonisten, der aufgrund seines Alters und einer Verletzung des Psoas Major mit seiner Körperlichkeit konfrontiert ist.

Nachlassende körperliche Kräfte

Da ein Blutgerinnsel die Beweglichkeit des großen Lendenmuskels erheblich einschränkt, ist Johannes Wenger wochenlang nicht in der Lage, zu gehen. Zu Beginn des Romans fühlt man sich etwas an Gerhard Köpfs Novelle Ein alter Herr erinnert, entwirft Härtling doch einen 83jährigen Protagonisten, der beruflich als Architekt und Architekturkritiker erfolgreich war, sein Leben als überzeugter Single verbrachte, mit wenigen Freunden vertrauten Umgang hatte, sich aber in seinem Alltag sehr gut eingerichtet hat. Mit Köpfs emeritiertem Professor teilt er nicht nur das Lebensmodell, sondern auch das Unbehagen gegenüber den aktuellen zeitgeschichtlichen Entwicklungen. Und doch ist die Geschichte, die Härtling erzählt, eine ganz andere. Sein Protagonist leidet nicht an Demenz sondern lediglich an den nachlassenden Kräften seines Körpers. Dieser nötigt ihn, auf völlig neue Art und Weise soziale Beziehungen einzugehen und sich als Teil eines großen Ganzen zu fühlen. Ist es zu Beginn der Lendenmuskel, der Wenger Probleme bereitet, sind es im Verlauf des Romans die Nierenwerte, die darauf verweisen, dass der alternde Körper seine Selbstheilungskräfte verloren hat.

Fiktive Briefe und alltägliche Kommunikationsprobleme

Zurückgeworfen auf den eigenen Körper, der Alltag rhythmisiert durch die Anwesenheit des Pflegepersonals, erkundet der Protagonist die Möglichkeiten, die ihm noch bleiben. Er will seine Wohnung nicht als Gefängnis akzeptieren, sondern begibt sich im Rollstuhl immer wieder auf Erkundungstouren. Neben der Bibliothek, in der er für einen Vortrag recherchiert, kann ihn sein Weg dabei auch in unwegsames Gelände führen, in dem er auf Hilfe angewiesen ist, oder ins nächste Gasthaus, wo er sich einen Rausch antrinkt, um so sein Gefängnis zumindest für kurze Zeit zu überwinden.

Dabei kennt der Architekturkritiker durchaus andere Möglichkeiten, aus der räumlichen Enge seiner Wohnung zu entfliehen. Wie der Name des Romans bereits andeutet, begibt sich der geistig rege Senior in Gedanken auf Reisen. Diese führen ihn weniger in bekannte und unbekannte Gebäude, sondern vor allem in einen intellektuellen Raum, in dem er sich mit Geistesgrößen der Vergangenheit auseinandersetzt. So sind in den Roman in Gedanken oder handschriftlich verfasste Briefe unter anderem an den Architekten Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), den türkischen Autor Nazim Hikmet (1902–1963) oder Dubslav von Stechlin, den Protagonisten von Theodor Fontanes (1819–1898) letztem Roman, eingeflochten. Für einen Vortrag setzt sich Wenger noch einmal intensiv mit dem Werk von Kurt Ackermann, dem Architekten des Münchner Olympiastadions, auseinander. Die schnelle Auffassungsgabe und Scharfsichtigkeit zeigt sich aber nicht nur in seinen Texten, sondern macht auch vor der Alltagskommunikation nicht halt.

So setzt sich Härtling intensiv mit Fragen der Veränderung der Kommunikation im Alter auseinander. Seinen Gedankenspieler zeichnet eine auf kritische Befragung der Gegenwart ausgerichtete Haltung aus, die mit einer im Ausdruck präzise geschliffenen Sprache artikuliert wird. Zurückgeworfen auf eine Alltagskommunikation, die in einfachen Sätzen scheinbar Nebensächliches thematisiert, reagiert er daher meist sarkastisch. Durch diese Reaktion auf sein körperliches Gebrechen und den Verlust seiner Selbständigkeit wird er für Ärzte und Pflegepersonal zu einer Herausforderung. Gerade die Pflegekräfte, die von einem mit der körperlichen Hinfälligkeit einhergehenden geistigen Verfall ausgehen, brüskiert die Verweigerung des alltäglichen Small Talks. Wohingegen Wenger die Ansprache, die eines Zehnjährigen würdig wäre, wiederholt kränkt. Auch wenn aufgrund der unterschiedlichen Sprachebenen das Scheitern der Kommunikation vorprogrammiert ist, enthalten die Dialoge ein komisches Potenzial, das die Lektüre zum Vergnügen macht.

Familienersatz und Großvatergefühle

Rettung und Verständnis findet der Protagonist – und auch hier zeigt sich noch einmal eine Parallele zum Roman von Köpf – bei seinem Arzt und Freund der späten Jahre Jonathan Mailänder. Der wesentlich jüngere Mann hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Älteren nicht nur als Arzt, sondern auch als Freund beizustehen. Auf diese Weise lotet der Roman auch die Herausforderungen der Freundschaft im Alter aus. Das ist insofern spannend zu lesen, als sich im Lauf des Romans herausstellt, dass das Singledasein Wengers auf ein frühkindliches Trauma zurückzuführen ist. Konnte Wenger nach den traumatisierenden Bombennächten und dem Selbstmord seiner Mutter kurz nach Kriegsende – er selbst war ja noch ein Kind – keine Nähe zulassen, so erstaunt ihn jetzt die Vertrautheit mit Mailänder, die sich im Lauf des Romans auf dessen Frau Karola und deren Tochter aus erster Ehe überträgt.

Auch wenn der Freund Mailänder und seine Familie versuchen, den alten Wenger aus seinem emotionalen Gefängnis zu befreien, dominiert die Einsamkeit. Immer wieder zieht er sich zurück, wünscht, nicht besucht zu werden, obwohl er die Besuche vermisst. Es fällt ihm schwer, sich auf die Nähe einzulassen, die Mailänder und seine Familie ihm anbieten. Neben Spaziergängen im Park und der Arbeit an einer „kleinen Welt“ aus Papier und Streichhölzern mit der quirligen Tochter Katharina ist es vor allem ein Ferienaufenthalt in Travemünde, der den alternden Architekten und kritischen Beobachter der Gegenwart in eine Welt entführt, die an Thomas Manns Romane gemahnt. Auch der für den alten Mann engagierte Herr Paul, der sich nicht nur um seine körperlichen Bedürfnisse kümmert, sondern im Gegensatz zu seinen bisherigen Pflegekräften auch zu seinem Gesprächspartner wird, scheint der fiktiven Welt des Lübecker Autors entsprungen zu sein. So gestaltet Härtling im Roman immer wieder Momente der Zufriedenheit, die aber aufgrund der körperlichen Hinfälligkeit und der frustrierenden Abhängigkeit nicht lange anhalten, wird doch das hohe Alter als Zeit des schmerzlichen Abschiednehmens empfunden.

Die Hölle des Alterns

In einer ganzen Reihe von Zitaten wird das Alter mit Verweis auf die Weltliteratur nicht nur als eine Zeit des Abschiednehmens, sondern auch der Erfahrung von Höllenqualen geschildert, da diese Lebensphase das Leben als Sein zum Tode ständig vor Augen führt. Und doch ist die Beschreibung trotz der negativen Erfahrungen von positiven Momenten durchzogen. Die Erfahrung von Freundschaft und Nähe mit dem Arzt Mailänder und seiner Familie ermöglichen dem alten Mann ein neues Erleben des Eingebundenseins in eine Gemeinschaft, die er auf diese Weise bislang nicht erfahren durfte. Das Risiko, sich auf diese neue Form des Zusammenlebens einzulassen, ist für den alten Mann hoch. Ihn auf diesem Weg zu begleiten, ist für den Leser über weite Strecken eine spannende Lektüreerfahrung. Im Verlauf der Lektüre kommt er mit einer Figur ins Gespräch, die sich selbst mit Gesprächspartnern aus der Literatur umgibt, und so wird er eingeladen, sich auf das Gedankenspiel des Romans einzulassen.

Titelbild

Peter Härtling: Der Gedankenspieler. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
228 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051773

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch