Zwischen Bewegungsfreiheit, Schematismus und Normierung

Manuel Mackasares quellengestützte Studie untersucht den fachdidaktischen Diskurs zum Deutschunterricht und die Lektüreauswahl im deutschen Kaiserreich (1871–1914)

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Muttersprachlicher Unterricht in deutscher Sprache hat – was häufig übersehen wird – im Vergleich zu anderen Unterrichtsfächern wie den „alten“ Sprachen Latein und Griechisch oder den traditionell auf logischer Denkschulung ausgerichteten Fächern Mathematik und Philosophie eine recht kurze Geschichte. Historisch betrachtet existiert ein eigenständiger, didaktisch-methodisch sowie systematisch reflektierter Deutschunterricht erst seit dem 19. Jahrhundert. Das Fach etablierte sich unter dem Eindruck der preußischen Reformen, wie Manuel Mackasare plausibel in seiner Studie über – so der Untertitel – die „Konstituierung eines literarischen Kanons im Kontext des deutschen Unterrichts“ darlegt: „Als das Preußische Edikt vom 25. Juni 1812 den deutschen Unterricht nicht nur als eigenständiges Fach, sondern […] als abiturrelevantes Hauptfach einführte, waren die gesellschaftspolitischen Überlegungen im Zuge der Preußischen Reformen […] leitend: Die Reformer identifizierten Sprache und Dichtung als kulturelle Grundlage des Deutschen.“

Mackasare zeichnet die Entwicklung des damals so bezeichneten „deutschen Unterrichts“ nach und widmet sich in neun Kapiteln den Entwicklungsdimensionen, Paradigmenwechseln und der Trias aus Unterrichtszielen, Unterrichtselementen sowie Unterrichtsmethoden. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei auf der Zeit des Kaiserreichs zwischen 1871 und 1914.

Einführend zeigt sich die Quellenfundierung der Studie. Die Kapitel eins, fünf und acht beruhen auf den authentischen Dokumenten der Abiturprüfung von 1912 am Realgymnasium zu Langenberg im Rheinland, die im Stadtarchiv Velbert überliefert sind. Es werden die Prüfungsthemen, Prüfungsmodalitäten, die Durchführung und Bewertung sowie die Aspekte des Aufsatzunterrichts an einem Einzelfall dokumentiert und zum Ausgangspunkt grundsätzlicher Reflexionen erhoben. Mackasare arbeitet dabei mehrfach heraus, dass im Kaiserreich der Deutschunterricht als „deutscher Unterricht“ den Menschen „als das zentrale Objekt der Kunst“ nahegebracht werden sollte, mit nachhaltigen Folgen für die Lektüreauswahl und die Unterrichtsgestaltung. Keineswegs Obrigkeitshörigkeit oder preußische Untertanenmentalität seien die Hauptintentionen des damaligen (gymnasialen) Deutschunterrichts gewesen, wie viele etablierte Standardwerke zur Fach- und Bildungsgeschichte nahelegten, sondern es sei um ein höheres Menschheitsideal durch das „Konzept der Charakterbildung“ gegangen, welches auf der anspruchsvollen Schulung von Verstand, Wille und Gefühl basierte. Man mag darin eine humanistische Überzeichnung sehen, aber die in der Studie herangezogenen Quellen stützen diese These, indem sie den „deutschen Unterricht“ in den Diskurs der Bildungs- und Wissenschaftstheorien des 19. Jahrhunderts einordnen.

Die „Grundlagen“ dazu werden im gleichnamigen zweiten Kapitel gelegt, das kritisch den bisherigen Forschungsstand aufarbeitet und viele klassische Deutungen, etwa die von Joachim Frank in seiner zweibändigen Geschichte des Deutschunterrichts, als „Meistererzählungen“ unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs kritisiert. Mackasare hingegen interessiert sich für die „Vermittlung literarischen Wissens im deutschen Unterricht“: Er wertet systematisch die zeitgenössischen Quellen (vorrangig theoretische Schriften zum deutschen Unterricht und unterrichtsmethodische Handbücher) aus und verwendet dazu eine historisch-diskursanalytische Methodik. Entsprechende Darstellungen von Robert Heinrich Hiecke, Philipp Wackernagel, Rudolf Hildebrand, Rudolf von Raumer, Wilhelm Schrader, Ernst Laas, Paul Goldscheider, Rudolf Lehmann, Otto Lyon, Gustav Wendt, Paul Geyer und Adolf Matthias finden Berücksichtigung. Mackasare arbeitet Positionen, Strömungen und Gegenpositionen dieser frühen Literaturpädagogen, Schulmeister und Bildungsverantwortlichen heraus. Beispielsweise konstatiert er, dass Laasʼ Konzeptionen den Deutschunterricht bis in die 1880er Jahre prägten und „Lehmanns ‚deutscher Unterricht‘ […] bis zur Jahrhundertwende konkurrenzlos“ war. Im Kern zeige sich früh ein Gegensatz „zwischen (zeitungebundenem) Idealismus und (gegenwartsbezogenem) Realismus“. Für Spezialisten zur Bildungs- und Schulgeschichte bietet Mackasares Studie insofern viele Impulse für die weitere Beschäftigung, und sie belegt zugleich die wachsende Bedeutung des Deutschunterrichts im 19. Jahrhundert: vom Nischenthema zum Gegenstand diskursiver Popularität, wie dies nicht zuletzt das seit 1887 erscheinende Periodikum „Zeitschrift für den deutschen Unterricht“ belege.

Eingeordnet wird dies im dritten Kapitel in die institutionellen und pädagogischen Kontexte der Zeit: Dem Schulwesen, der Bedeutung der staatlichen Schulaufsicht und der Lehrerausbildung, aber auch der Frage, was überhaupt im 19. Jahrhundert unter Pädagogik verstanden wurde, wird konzise nachgespürt.

Das vierte Kapitel ist dem „deutschen Unterricht“ in seinen verschiedenen Perspektiven (Ziele, Elemente, Methoden, didaktischer Diskurs) gewidmet: Das Ziel des Deutschunterrichts volatierte zwischen Charakterbildung und Kenntnis- respektive Fertigkeitserwerb, wobei vor allem die Klassikerlektüre als genuines Mittel gesehen wurde. Allerdings betont der Autor mehrfach, dass es bei keinem dieser Ziele vorrangig weder um „eine doktrinäre Bedeutung des Deutschen noch nationalen Chauvinismus“ gegangen sei. Mehrere Unterrichtselemente für das Fach Deutsch weist die Studie als zeitgenössisch relevant nach: Schüler am preußischen Gymnasium sollten in Rhetorik und Poetik, Stilistik, Literaturgeschichte, philosophischer Propädeutik und Grammatik geschult werden. Methodisch schwankten die nachweisbaren Empfehlungen zwischen lehrerzentrierter Deduktion und induktivem Vorgehen, je nach Lernkonzeption und didaktischer Zielsetzung. Hierbei stößt die Studie quellenmäßig an ihre Grenzen – die Mackasare selbst einräumt: „Der deutsche Unterricht schlechthin ist nicht darstellbar. Die raren Zeugnisse unmittelbarer Schülertätigkeit wie etwa die Aufsätze sind bloß Ausschnitte des wirklichen Unterrichtsgeschehens, das auf solcher Basis nur mittelbar interpretierbar wird.“

Bislang war noch wenig die Rede von der Kanonbildung, die im Untertitel der Studie prominent angesprochen wird. Entsprechende Prozesse und Diskurse beleuchten die Kapitel sechs und sieben, zugleich die jeweils umfangreichsten Einzelkapitel. Das sechste Kapitel unter der Überschrift „Lektüre“ zeichnet akribisch nach, wie und aus welchen Gründen (heute klassische) Texte von Uhland, Eichendorff, Kleist, Grillparzer, Hebbel, Ludwig und Freytag, aber vor allem von Lessing, Goethe und Schiller bedeutsam für den Unterricht wurden. Den zentralen Lektürestoff bildeten die Dramen der genannten Autoren, an denen Charakterisierungsformen zu den Handlungsträgern im dramatischen Handlungsverlauf eingeübt wurden. Dabei zeigt die Studie eine Entwicklungstendenz für die Kanonbildung: „Lessing als Wegbereiter, Goethe als Realist, Schiller als Idealist“, so lautete die Progression mit dem Ziel der „Charakterbildung“ bei den Schülern, wobei die Lektüreauswahl „in erster Linie ästhetischen und – daran geknüpften – pädagogischen Gesichtspunkten“ folgte. Jedoch wurde die Kanonbildung durch zwei maßgebliche externe Faktoren beeinflusst: die Bedeutung der Philosophie für die semantisch-inhaltliche Füllung des „Klassischen“ und die „psychologisierende Interpretation“ für die textliche Begegnung und Auseinandersetzung. Basis dieser Vorgehensweise war die Überzeugung der „Schulmänner“ und Bildungsverantwortlichen, dass es um die willensmäßige „Selbstkontrolle“ der Schüler gehe, was besonders am Beispiel der Tragödien Schillers geleistet werden sollte. Klassische Konzepte von „Erhabenheit“ und „Selbstaufgabe“ der Dramenautoren wurden dabei intensiv von den „ersten“ Deutschdidaktikern rezipiert und zum Fundament der Unterrichtsarbeit erhoben.

Diese intentionale Ausrichtung des „deutschen Unterrichts“ kulminierte in der Gestaltung und den Eigenheiten der Aufsatz-Produktion, wie sie im siebten Kapitel analysiert werden: Unter „Aufsatzlehre“ verstand das 19. Jahrhundert eine Königsdisziplin, die das zentrale Anliegen von Unterricht realisieren sollte: Menschenbildung durch systematische Auseinandersetzung beziehungsweise Textgestaltung. Mackasare zeigt stimmig die Spannungsfelder des damaligen Diskurses auf, etwa die Selbstständigkeit der Schüler beim Schreiben, das Verhältnis des zu erstellenden Textes zur Wissenschaftlichkeit, den Anspruch auf künstlerisch-ästhetische Gestaltung des Textes oder die Bedeutung der Rhetorik beziehungsweise Stilistik für das Schreibprodukt. Im Aufsatz sollten die Schüler zeigen, inwieweit sie dazu in der Lage waren, eigenständig die dramatischen Pflichtlektüren zu durchdringen: „Stil und Denken wurden eng aufeinander bezogen. Aus diesem wechselseitigen Einfluss sollte sich für den Lehrer die Möglichkeit ergeben, die Denkart eines Schülers einzusehen und auf dieselbe einzuwirken“. Dabei kam den literarischen Klassikern beziehungsweise den zu ihnen formulierten Aufgabenstellungen eine herausragende Bedeutung zu, da an ihnen Charakteristiken geschult und logische Operationen geübt werden sollten – mit einer teleologischen Ausrichtung: der Verbindung von Logik und Ethik. In den Worten des Autors: „Im Aufsatzunterricht lautete der […] Anspruch zunächst, über logisches Denken ethische Erkenntnis zu erzielen.“ Insofern konstatiert Mackasare ein synergetisches Verhältnis von „Klassik“ und Didaktik im Kaiserreich.

Abgerundet wird der Band neben einem umfangreichen Literaturverzeichnis durch ein Personen- und Stichwortregister, das einen schnellen Zugriff auf die in großer Zahl herangezogenen Quellen und Materialen ermöglicht.

Manuel Mackasares verdienstvolle Studie entstand im Rahmen einer Dissertation und wurde 2016 mit dem „Dissertationspreis Kulturwissenschaften“ der Ruhr-Universität Bochum ausgezeichnet. Dies verweist auf die Relevanz und Qualität der Forschungsleistung, die nicht nur neue Impulse für die historische Fachdidaktik speziell zur Konstituierung des Deutschunterrichts im Kaiserreich setzt, sondern auch belegt, inwiefern quellengestütztes Arbeiten tradierte und etablierte Allgemeinplätze in der Forschungsliteratur differenzieren und sogar falsifizieren kann. Es gelingt Mackasare dank einer wissenschaftlich präzisen, aber keineswegs zu abstrakten Sprache und dank einer hohen Reflexivität, über die zeitliche Diastase mancher Leitbegriffe durch semantische Überlegungen hinwegzuhelfen, sodass die dargestellten Sachverhalte plausibel und nachvollziehbar werden. Die Studie leistet das, was sie zu leisten intendiert: ein „historisches Verständnis der Fachdidaktik“ des Deutschen zu ermöglichen, wozu vertieftes Kontextwissen über „den historischen Umgang mit den ‚Klassikern‘ und mit literarischen Texten überhaupt“ erforderlich ist. Manch klassische Forschungsmeinungen aus der Phase des ideologiekritischen Deutschunterrichts der 1970er Jahre werden relativiert, zugleich werden neue Frageperspektiven durchaus provokant zugespitzt thematisiert, etwa ob der gegenwärtige Deutschunterricht „den Anspruch weltanschaulicher Einflussnahme qua normativer Lektüreauswahl“ bewahrt habe.

Titelbild

Manuel Mackasare: Klassik und Didaktik 1871–1914. Zur Konstituierung eines literarischen Kanons im Kontext des deutschen Unterrichts.
De Gruyter, Berlin 2017.
251 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110516050

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