Der wahre Roman der Überlebenden

Mit „Das schwarze Herz des Verbrechens“ zeichnet Marcelo Figueras die Entstehung eines der bekanntesten argentinischen Werke zur Zeit der Militärdiktatur nach

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marcelo Figueras, 1962 in Buenos Aires geboren, ist in Deutschland kein Unbekannter. Bereits drei Romane von ihm liegen vor, darunter der erfolgreich verfilmte Kamtschatka (dafür gab es 2003 den Publikumspreis der Berlinale). Hier erzählte der Autor das Leben in Zeiten der argentinischen Militärdiktatur aus der Sicht eines Zehnjährigen, der mit seinen Eltern aus der Stadt in ein entlegenes, einsames Landgut fliehen muss. Die Vergangenheit hat den Autor in ihren Bann geschlagen: In allen Büchern beschäftigt er sich mit der jüngeren Geschichte seines Landes. So auch diesmal.

Das schwarze Herz des Verbrechens spielt 1956. Diktator Perón wurde ein Jahr zuvor durch einen Putsch gestürzt, und es beginnt eine Zeit großer politischer und gesellschaftlicher Instabilität, denn keine Regierung ist ohne die Beteiligung der Peronisten möglich, die in den ärmeren Bevölkerungsschichten stark vertreten sind. Präsident Aramburu hingegen will die Ära von Juan und Evita Péron aus dem Gedächtnis streichen, beide Namen dürfen nicht mehr genannt werden, und der Leichnam Evitas wird heimlich außer Landes geschafft (diese Odyssee ist wunderbar nachzulesen im Roman von Tomás Eloy Martínez: Santa Evita).

Im Juni wird etwa ein Dutzend Zivilisten verschleppt und hingerichtet, weil die Militärs vermuten, sie seien in eine Verschwörung gegen die Regierung verwickelt. Vermutlich wäre dieses Verbrechen nie aufgeklärt worden, hätte ein damals eher unbedeutender Journalist und Verfasser mittelmäßiger Detektivgeschichten, R. (= Rodolfo Walsh), nicht zufällig die Bekanntschaft mit einem „Überlebenden“ des Massakers gemacht.

Figueras erzählt spannend und mit kriminalistischem Geschick die Einzelheiten der Aufklärung, die mühseligen Versuche, die Details der bewiesenen militärischen Übergriffe der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die etablierte Presse zeigte kein Interesse, nur marginale Blätter wagen den Druck, denn das bedeutet Lebensgefahr. Der Journalist R. verliert im Verlauf seiner Arbeit die Ehefrau und kann die geliebten Töchter nur noch selten sehen, da er immer mehr in den Untergrund gedrängt wird. Aber obsessiv hält er am Thema fest, erfährt immer neue Details, lernt andere „Überlebende“ kennen, desgleichen die Familienmitglieder der Ermordeten (eine mutige Kollegin steht ihm hilfreich und später liebevoll zur Seite), bis er schließlich ein nahezu lückenloses Mosaik zusammengestellt hat.

In einer verlassenen Hütte im Tigris-Delta gelingt es ihm dann, aus allem eine „Geschichte“ zu machen – Das Massaker von San Martín. Das ist der erste Text des Genres „wahre Fiktion“, das Truman Capote neun Jahre später mit Kaltblütig weltweit bekannt gemacht hat.

Figueras lässt den Leser am Entwicklungsprozess bei R. teilhaben, erläutert seine Überlegungen, wie derartiges am besten geschildert werden kann, damit es die Leser packt und durch öffentlichen Druck vielleicht sogar Strafverfolgungen erzwingt. Das bis heute faszinierende Buch von Rodolfo Walsh ist längst ein Klassiker geworden, dem Autor gelingt der Schritt vom Journalisten zum Recherche-Romancier, er ist heute Vorbild vieler junger Journalisten-Schriftsteller Lateinamerikas, die jetzt „cronistas“ heißen. Zugleich schrieb er Erzählungen, von denen „Diese Frau“ (über Evita) vielen Kritikern als eine der besten Argentiniens im 20. Jahrhundert gilt (Nachzulesen in der Zeitschrift Die Horen Nr. 238: Eine Lesereise durch zwei Jahrhunderte argentinischer Erzählkunst und Poesie, 2010).

Figueras wollte mit diesem Roman dem Autor Rodolfo Walsh eine Hommage erweisen, hat auch Passagen des Massakers von San Martín (dt. 2009) in seinen Text integriert. Walsh steckte im März 1977, inzwischen längst berühmt, einen „Offenen Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta“ in die Post und starb kurz darauf bei einem Schusswechsel mit Soldaten, denn natürlich stand er seit langem unter kontinuierlicher Beobachtung.

Die Hommage ist gelungen, aber Figueras bietet viel mehr: Er hat einen packenden zeitgeschichtlichen Roman geschrieben, der sich wie ein Krimi oder Thriller liest und darüber hinaus ironische Verweise auf die literarischen Debatten der fünfziger Jahre enthält: Borges versus Roberto Arlt; die allmähliche Aufwertung seit 1945 des zuvor geächteten „Schwarzen Genres“ durch die Publikationen der von Borges und Bioy Casares herausgegebenen Reihe El Septimo Círculo. Es gibt ein paar vergnügliche Seitenhiebe auf eben diese Großmeister, wir erfahren von der zunehmenden Bewunderung für Leopoldo Lugones, Arlt oder Esteban Echeverría. Sozusagen en passant erfährt der Leser viel über die Literatur Argentiniens.

Diesen Roman kann man nicht aus der Hand legen, bevor nicht die letzte Seite gelesen ist, denn nicht erst beim letzten Satz stockt dem Leser der Atem. Sabine Giersberg hat ihn schön übersetzt und ohnehin sind dem Autor sehr viele Leser zu wünschen, denn sein Buch ist großartig: Chapeau! Das Nachwort für deutsche Leser, eigens für diese Ausgabe geschrieben, enthält zudem wichtige Hintergrundinformationen und eine Kurzanalyse der aktuellen Situation Argentiniens.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marcelo Figueras: Das schwarze Herz des Verbrechens. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Sabine Giersberg.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2018.
459 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783312010660

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