Ordnung im Durcheinandertal

Peter Rusterholz hat das Spät- wie auch das zeichnerische Werk Friedrich Dürrenmatts ins Zentrum seiner Aufsätze gerückt

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Rusterholz, bis zu seiner Emeritierung Ordinarius der Germanistik in Bern, ist seit den 1980er Jahren mit Veröffentlichungen zu Dürrenmatt – dabei insbesondere zu intertextuellen wie -medialen Aspekten – hervorgetreten und hat darüber hinaus das von der Literaturwissenschaft im Ganzen vernachlässigte Spätwerk mit dem Achterloo-Komplex, dem Mitmacher, den Stoffen und eben auch dem hier titelgebenden Durcheinandertal intensiv behandelt. Das Düsseldorfer Herausgeberteam Henriette Herwig und Robin-M. Aust hat Rusterholz’ Aufsätze, die mitunter an entlegener Stelle erschienen, nunmehr gesammelt und thematisch geordnet.

Der Dürrenmatt-Kenner wird hier vieles von dem wiederentdecken, was für dessen Werk charakteristisch ist: der Einzelne, der seine Lebenswelt zu bewältigen hat (Minotaurus, Cop, Ill et cetera), die Labyrinth-Metaphorik, die dramaturgische Bedeutung von Einfall und Zufall sowie nicht zuletzt das Paradox. So stellt der Mensch, der evolutionstheoretisch betrachtet bereits einen kolossalen Zufall repräsentiert, als dasjenige Lebewesen, das um seine Sterblichkeit weiß, aber sich letzten Fragen lediglich anzunähern vermag, ein Paradox dar – auch so lässt sich Dürrenmatts Ausspruch „Durch den Menschen wird alles paradox.“ deuten. Das schließt Versuche ein, die Existenz Gottes logisch abzuleiten und im Zuge dessen derart zu abstrahieren, dass eine individuelle Beziehung zu Gott verunmöglicht wird. So wurde Dürrenmatt nach eigener Aussage „durch Karl Barths Dogmatik […] zum Atheisten.“ Was zunächst paradox anmutet, erweist sich als Konsequenz des Durchdenkens der Dogmatik.

Rusterholz sieht zu Beginn der Karriere des Schriftstellers ein „christliches Paradox“, bestehend aus dem Widerspruch, der darin bestand, dass Dürrenmatt einerseits der Auffassung war, dass „ohne Gauben nichts möglich“ sei, andererseits jedoch für sich selbst zu der Erkenntnis gelangte, der Mensch sei eine „Fehlkonstruktion eines offenbar gleichgültigen, wenn nicht stumpfsinnigen Gottes.“ Rusterholz konstatiert in diesem Zusammenhang zu Recht, Naturwissenschaft und (Subjekt-)Philosophie, insbesondere Søren Kierkegaard, hätten die eingangs beim Dramatiker auffindbaren christlichen Bezüge zunehmend abgelöst. Stützen lässt sich diese These durch Dürrenmatts Aussage, die schockhaft-faktische Erkenntnis der Sterblichkeit sei der Grund dafür gewesen, dass sich der Mensch dazu genötigt sah, gegen jene in Form der Philosophie, Theologie und Kunst fiktionale Bastionen zu errichten. Gleichfalls ist Rusterholz zuzustimmen, wenn er das frühe Schaffen noch von einem traditionellen Autor- und Werkverständnis geprägt sieht, mit dem Mitmacher als „Übergangsphase“ hin zu „neueren Konzepten.“ Hierbei ließe sich unter anderem an die Problematisierung der Autorenrolle anhand der Büchner-Figur in Achterloo denken.

Zwar sind nicht alle versammelten Arbeiten auf diesem generell kenntnisreichen Niveau. Beispielsweise thematisiert Der Ausbruch aus dem Gefängnis. Wandlungen des Schweizer Kriminalromans weit eher Texte Friedrich Glausers und Felix Bettlers als Dürrenmatts, wobei zu letzteren dann auch noch wenig Neues ersichtlich wird. Durchaus lobenswert ist aber der Einbezug des zeichnerischen und malerischen Werks. Hierbei legt Rusterholz den Schwerpunkt einerseits auf die Karikaturen, andererseits auf die dramaturgischen Elemente in der Katastrophe sowie deren Bedeutung für die Genese der Stoffe.

Die eindeutigen Stärken der Veröffentlichung liegen in den Bereichen Textgenese und Deutung des Spätwerks. So zeichnet Rusterholz anschaulich den chronologischen wie intertextuellen Zusammenhang nach, der zwischen Mondfinsternis und Der Besuch der alten Dame besteht. Gerade zum – nach Rusterholz’ eigener Einschätzung „imponierenden“ – Spätwerk gelingen ihm stimmige Einsichten. Nicht nur postuliert er im Gegensatz zu Gerhard P. Knapp und Jan Knopf die Existenz eines solchen, sondern weist auch hastig formulierte Kritik à la Reich-Ranicki, der das Durcheinandertal als „schriftstellerische Katastrophe“ bezeichnet hatte, zurück. Rusterholz argumentiert demgegenüber weit subtiler: Er gelangt aufgrund textgenetischer Studien zu der Schlussfolgerung, der Text sei als „sinnvoll organisierte Form“ anzusehen.

Die Lektüre des Aufsatzbandes ist durchaus bereichernd, auch wenn man sich zur Verdeutlichung der Querverbindungen einen Index gewünscht hätte. Abschließend sei angemerkt, dass der gewählte Buchtitel irreführend erscheint, denn wer nach einer Verortung von Dürrenmatts Literatur vor dem Epochenhintergrund der Renaissance sucht, sucht vergebens.

Titelbild

Peter Rusterholz: Chaos und Renaissance im Durcheinandertal Dürrenmatts.
Herausgegeben von Henriette Herwig und Robin-M. Aust.
Ergon Verlag, Würzburg 2017.
242 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783956502897

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