Von der Mündung bis zur Quelle
Eine sehr britische Donau-Reportage
Von Klaus Hübner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Besondere an dem 2013 im Original erschienenen Donau-Buch des 1960 in England geborenen und seit 1986 in Budapest lebenden Journalisten Nick Thorpe macht sein Untertitel deutlich. In der Einleitung zitiert der Autor einen pensionierten Fischer aus Sfântu Georghe, welcher sein Vorhaben mit „Sie werden wie der Stör sein!“ kommentiert habe, und fügt hinzu: „Flussaufwärts schwimmen, um zu laichen“. Thorpe folgt also ganz bewusst nicht dem altbewährten Schema „Von der Quelle bis zur Mündung“ (respektive: von Donaueschingen bis Wien oder Budapest oder gleich bis zum Schwarzen Meer). Da ihm von vornherein klar ist, dass die Donau durch eine „Region multipler Identitäten“ fließt – „schon allein der sich ewig wandelnde Strom ist eine“ –, darf man gespannt sein, was die ungewöhnliche Reiserichtung für Erkenntnisse zeitigen wird. Erkenntnisse? Wohl eher erhellende Einsichten. Denn eine wissenschaftliche Untersuchung ist Thorpes Opus nicht. Man liest ein in der Ich-Form gehaltenes erzählendes Sachbuch, ein subjektiv-eigenwilliges Reisebuch eines durch und durch britischen Radio- und Zeitungsmanns, der sich vor allem im Donau-Karpaten-Raum seit Jahren gut auskennt. „Das Rückgrat dieses Buches ist eine neue Reise donauaufwärts, doch ich habe hin und wieder auch andere Reisen in die Erzählung verwoben“.
Die Reise gegen den Strom beginnt in der Dobrudscha, wo die meisten der in Rumänien verbliebenen Türken und Tataren leben. Der Ton der Erzählung ist der eines sich immer wieder auf Begegnungen mit Einheimischen berufenden und prinzipiell kritisch auf seine Gegenwart blickenden Reporters – zur Information über die bewegte Geschichte und die heutige Bedeutung der Region gehören selbstverständlich auch Hinweise auf die katastrophalen Umweltschäden im Donaudelta. Nick Thorpe romantisiert nicht. Die Gegend zwischen Tulcea, Sulina und Sfântu Georghe hat es ihm besonders angetan – mehr als ein Viertel seines Buchs gilt der auch heute noch manchmal geheimnisvollen Delta-Region. Bisweilen kommen auch neue, sehr britische Rätsel hinzu:
Weiter draußen vermengt sich das Süßwasser der Donau ungestüm mit dem Salzwasser des Schwarzen Meeres, wie ein Rugby-Angriffsspieler, der sich durch die schiere Wucht seines Vorstoßes gegen einen stärkeren Gegner durchsetzt, dann aber zum Stehen gebracht wird, während die Heimmannschaft die Fersen in den Boden stemmt, die Muskeln spielen lässt und die anderen zurückschlägt.
Sagen wir es höflich: Mit derartigen stilistischen Eigenheiten ist der Leser immer wieder konfrontiert. Ob es, abgesehen von der Angemessenheit der wenig präzisen Formulierung, zum Verständnis der Geschichte des stalinistisch-nationalistischen Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend beiträgt, wenn man erfährt, dass der Kommunismus „ein blinder Glaube“ war, „der dem der mittelalterlichen Kirche glich, doch ohne die Gestalt Christi oder die Hoffnung auf Erlösung?“ Ob den Leser die Nachricht weiterbringt, dass an der bulgarisch-rumänischen Grenze bei Silistra „eine Art Balkan-Feeling“ in der Luft schwebte, „Balkan in diesem Fall als etwa Positives, sogar Heroisches, eine Art, an das Leben heranzugehen, bei der menschliche Beziehungen, etwa das Recht zu schlafen oder sich am Nachmittag zu lieben, wichtiger sind, als seinen Unterhalt zu verdienen?“
Damit keine Missverständnisse entstehen: Nick Thorpe hat über Geschichte und Gegenwart des Donau-Karpaten-Raums eine Menge Interessantes zu sagen – und das immer mit wachem Blick auf die dort lebenden Menschen, besonders auf die anderswo meistens zu kurz kommenden Roma. Seine Reisereportage beeindruckt immer wieder durch überraschende, oft die Geografie, die Archäologie oder die (Wirtschafts-)Geschichte betreffende Details, die den Leserblick auf die Donau erleuchten und aufschließen können. Solche erhellenden Aufschlüsse könnten natürlich auch durch Verweise auf die sich im Donaustrom spiegelnde Literatur erreicht werden, doch das geschieht selten; was dem Autor beispielsweise zu Elias Canetti und dessen Geburtsort Ruse / Rustschuk einfällt, ist nicht besonders originell.
Ausführlich und umfassend unterrichtet wird man über Geschichte und Gegenwart des Eisernen Tors und der Insel Ada Kaleh – das hat man vielleicht schon mehrmals gelesen, selten aber in solcher Intensität und Aspektfülle wie hier. Auf ähnlich unterhaltsame und lehrreiche Weise wird der Leser durch die Donaugegenden in Serbien geführt, und auch hier öffnet sich ein weiter historischer Horizont, von der Vor- und Frühgeschichte über das Mittelalter und die turbulente Neuzeit bis hin zu den Jugoslawien-Kriegen der 1990er-Jahre und deren weitreichenden Folgen . An der ungarischen und slowakischen Donau und speziell in seinem Wohnort Budapest ist Nick Thorpe dann in seinem ureigensten Element, und wer zum Beispiel noch nie vom weltweit einzigen Paprikamuseum in Kalocsa gehört hat, wird hier fündig. Selbstverständlich behält der Autor seinen saloppen, von zumindest impliziten politischen Wertungen nicht freien Stil bei: „‚Das war ja der Sinn im Kommunismus – jedem alles wegzunehmen und kaputtzumachen‘, sagte mir der Mann in der restaurierten Mühle in Ráckeve. Durch das Knarren der Planken im Wasser hörte ich, wie Karl Marx sich in seinem wässrigen Grab umdrehte.“
Hält man sich vor Augen, dass Nick Thorpe für seine Beschreibung der Donau zwischen Hainburg und Donaueschingen sechzig Buchseiten übrig hat – also wesentlich weniger als für seine Schilderungen aus dem Delta –, dann wird man nicht umhin kommen, den Buchtitel gehörig relativieren zu müssen. Dreißig Seiten werden Wien, Klosterneuburg, Tulln, Stein, Dürnstein, Melk, Linz und Ottensheim zugestanden, und leider finden sich auch hier immer wieder Formulierungen, die in ihrer ungebrochenen Pauschalität zumindest fragwürdig genannt werden dürfen. Kann man über den Dreißigjährigen Krieg ohne weitere Erläuterungen sagen: „So wie die Rivalität zwischen Habsburgern und Osmanen Ungarn zuerst in ein Schlachtfeld und dann eine Ödnis verwandelt hatte, verwüsteten die Häuser Bourbon und Habsburg Mitteleuropa?“
Dass das 13. Kapitel mit der von Bertolt Brecht übernommenen Überschrift „O Deutschland, bleiche Mutter“ mit Mauthausen in Österreich beginnt, „wo die Zeit stehengeblieben ist“, lässt sich historisch schlüssig begründen, selbst wenn man nicht alle Urteile des Autors eins zu eins übernehmen möchte. Nun verrutschen die Proportionen – sträflich vernachlässigt wird zum Beispiel die Stadt Regensburg, deren nicht allein historische Bedeutung für die gesamte Donau unglaublicherweise auf einer einzigen Seite abgehandelt wird. Die Reise gegen den Strom tröpfelt in Ulm und im Quellgebiet im wahrsten Sinne des Wortes aus, und man wird mit Bedauern feststellen, dass Thorpe die vielen Flusskilometer zwischen dem Prater und dem Palais Fürstenberg nicht sonderlich interessiert haben. Sein Fokus liegt, das macht auch das Nachwort deutlich, eindeutig auf den Regionen, die Thorpe mit der vor 1990 gängigen geografischen Peilung „Osteuropa“ nennt, was „in der westeuropäischen Phantasie eine Art Spiegelbild des Wilden Westens“ sei – „der Wilde Osten.“ Das knappe Literaturverzeichnis bestätigt diesen Befund. Der Leser, der ein instruktives Buch über Die Donau lesen wollte, liest im Endeffekt eine über weite Strecken unterhaltsame, aber nicht ohne Einschränkungen zu empfehlende Reisereportage über den großen europäischen Strom zwischen seiner Mündung und der Stadt Wien.
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