Wenn das Schlachten vorbei ist…

Eine umfangreiche Untersuchung nimmt den heimkehrenden Soldaten des Ersten Weltkriegs in den Blick und widmet sich dem Spannungsfeld von Politik und Poetik

Von Jonas NesselhaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Nesselhauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War die einhundertste Wiederkehr des Weltkriegsbeginns 1914 vor wenigen Jahren der Anlass einer intensiven Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und politischen Situation, die zur „Europäischen Urkatastrophe“ führte, steht das Jahr 2018 nun mit zahlreichen Publikationen und Ausstellungen ganz im Zeichen des Kriegsendes. Als der Waffenstillstand von Compiègne dann im November 1918 unterzeichnet und in Kraft getreten war, konnten die Gefechte endlich eingestellt und die Verluste des „Großen Krieges“ bilanziert werden.

So waren wohl alleine etwa 50 Millionen Soldaten aus Deutschland, Österreich/Ungarn, Frankreich, Russland, Großbritannien und den USA an den Kämpfen beteiligt, mindestens jeder Zehnte davon verlor in den Schlachten sein Leben, während die Zahl der verwundeten Kriegsheimkehrer um ein Vielfaches höher liegen dürfte. Damit veränderte gerade der Erste Weltkrieg das alltägliche Bild der europäischen Großstädte nachhaltig – nicht aufgrund der materiellen Kriegsschäden, da der Krieg zu größten Teilen in den Schützengräben ausgetragen wurde, wohl aber durch unzählige Kriegsversehrte, die auch über die folgenden Jahre das Bild des öffentlichen Raums prägen sollten.

In dieser Form noch völlig unbekannt aber war das Massenphänomen der Kriegstraumatisierung, das – zumeist „Shell Shock“ oder „Kriegsneurose“ genannt – alle Seiten der Front, der militärischen Ränge und der Truppenteile umfasste, das psychologische wie psychiatrische Verständnis der Zeit vor drastische Herausforderungen stellte und zu teils kruden und unmenschlichen „Therapierungen“ führte.

Damit ist der aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrende Soldat zweifellos eine spannungsreiche und gesellschaftlich brisante Sozialfigur, die in den vergangenen Jahren auch in den Blickpunkt einzelner Disziplinen rückte. So entstanden in der Literaturwissenschaft etwa zahlreiche Untersuchungen zu den jeweiligen Nationalliteraturen, Gattungen oder Motiven, während die Geschichtswissenschaft anhand repräsentativer Einzelfälle ein Bild der alltäglichen Probleme (mit Behörden, der Wiedereingliederung in das Arbeitsleben, dem gesellschaftlichen Umfeld und so weiter.) erstellte oder die Medizingeschichte beispielsweise die Entwicklungen in der Chirurgie (etwa der „Sauerbrucharm“) nachzeichnete.

Besonders fruchtbar wird der Blick auf den Kriegsheimkehrer allerdings, wenn die einzelnen Disziplinen zusammengezogen werden, wie dies etwa schon Stephanie Neuner in ihrer Untersuchung Politik und Psychiatrie (2011) gemacht hat: Die öffnende Perspektive auf disziplinäre Schnittstellen oder auf das teils konfliktbehaftete Zusammenspiel unterschiedlicher Diskurse lässt die Debatten der Nachkriegszeit überhaupt erst nachvollziehbar werden und macht deutlich, dass der Krieg für den Soldaten mit seiner Rückkehr nach Hause noch längst nicht beendet, schon gar nicht abgeschlossen war.

In ähnlicher Weise versucht auch die Zürcher Germanistin Sarah Mohi-von Känel in ihrer gerade im Wallstein Verlag veröffentlichten Dissertation nun Politik und Poetik zusammenzubringen. Herausgekommen ist eine erkenntnisreiche Mischung von spannenden Neulektüren einschlägiger Klassiker einerseits und der Einladung zur Entdeckung eher vergessener literarischer oder publizistischer Texte andererseits, vor allem aber ein guter Überblick auf „die problematische Reintegration der Veteranen“ zwischen 1914 und 1939. Ihre Schwerpunktsetzung liegt – gerahmt von einer ausführlichen, lesenswerten Einleitung und einem umsichtigen Fazit mit Ausblick – auf den drei dominanten Diskursen der Medizin, der sozialpolitischen Fürsorge und der Psychiatrie. Für jeden Bereich findet die Germanistin repräsentative Texte, die sie diskursanalytisch und textnah untersucht, etwa wenn sie sich der „gewaltsamen Verdrängung und Leibesenteignung des Versehrten“ in Bertolt Brechts Legende vom toten Soldaten (1917/18) widmet, Joseph Roths Roman Die Rebellion (1924) fruchtbar mit Ernst Tollers Hinkemann (1921/22) vergleicht oder durch den Blick auf literarische Texte allgemein aufzeigen kann, wie das „Versprechen“ der Reintegration kritisch gesehen wurde.

Eine Vielzahl verschiedener (literarischer und nicht-literarischer) Textsorten zusammenzubringen, stellt natürlich ein Risiko dar, geht bei Sarah Mohi-von Känel aber insgesamt gut auf, und vielleicht ist es beim gewählten Thema sogar in dieser Form notwendig, den Rezipienten mit Quellen unterschiedlicher Diskurse zu fordern. Und so überrascht die Untersuchung auch mit interessanten Interpretationen und Lesarten, etwa wenn Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt (1917/18) mit dem Diskurs der „Kriegsneurose“ zusammengebracht wird. Dies mag nicht durchgehend konzise erscheinen, ist aber ein spannendes Gedankenspiel, das letztlich erneut unterstreicht, wie stark das Nachdenken über den heimkehrenden Soldat in der Zwischenkriegszeit präsent gewesen sein muss.

So unterstreicht der gut lesbare Blick auf Politik und Poetik nicht nur die soziale Relevanz des Kriegsheimkehrers und spiegelt die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Debatten der Zeit, sondern verdeutlicht auch eindrucksvoll, wie sich verschiedene Disziplinen am Kriegsheimkehrer abarbeiten – teils idealistisch, teils hilflos. Tatsächlich sollte es noch bis in die frühen 1980er Jahre dauern, als die Kategorie der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ von der American Psychiatric Association als Krankheitsbild in ihr Diagnosebuch aufgenommen und „Shell Shock“ und „Kriegsneurose“ endlich offiziell anerkannt werden. Dass die Situation für traumatisierte Kriegsheimkehrer damit zwar erleichtert wird, sich aber tatsächlich bis heute weiterhin „unheimliche Echos von Deutungsmusterns“ aus dem Ersten Weltkrieg finden lassen, sollte zum Nachdenken anregen. Und – mit diesem Buch als Einladung – vielleicht sogar zur ein oder anderen (Wieder-)Entdeckung literarischer, publizistischer oder wissenschaftlicher Texte der Zwischenkriegszeit.

Titelbild

Sarah Mohi-von Känel: Kriegsheimkehrer. Politik und Poetik 1914-1939.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
522 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835332188

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