Wir sind mit Absicht nichts geworden

In ihren Storys „Signalstörung“ erweist sich Kirsten Fuchs als gewiefte Beobachterin unserer Gegenwart

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

19 „Storys“ enthält der erste Erzählungsband der heute in Berlin lebenden Kirsten Fuchs. Sie hat sich als Lesebühnenautorin einen Namen gemacht – Gewinnerin beim Open Mike 2003 – und in inzwischen drei Romanen – zuletzt erschien Mädchenmeute, für den sie 2016 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde – nachgewiesen, dass die komplexe Prosaform ihr nichts Fremdes ist. Nun also Texte, die im Kleinen dem Großen, im scheinbar Nebensächlichen dem Bedeutenden, in Scherz, Satire und Ironie der tieferen Bedeutung auf der Spur sind. Und – das sei gleich vorangestellt – auch in der kleinen Prosaform gelingt es Fuchs, uns Wesentliches über uns und unsere heutige Welt mitzuteilen.

Signalstörung erzählt von Helikoptereltern und Rechtsradikalen, clean gewordenen Ex-Trinkern und Jugendlichen auf „Stoff“-Suche. Fuchsʼ Protagonisten stellen Notfallpläne für Flüchtlingssonderzüge auf, plagen sich mit der Bürokratie im „Keinjobcenter“ herum oder tragen einen Schrank, dessen Schlüssel verloren gegangen ist, eulenspiegelmäßig zum Schuster, um ihn dort öffnen zu lassen. Selten – aber dann gekonnt – nimmt die Autorin auch einmal eine männliche Perspektive ein, in der Regel freilich erzählt sie aus der Sicht von Mädchen oder Frauen, die, wenn sie unter dem Namen „Frau Fuchs“ daherkommen, deutliche Wurzeln in der Biografie der Autorin haben dürften.

1977 im heutigen Chemnitz, dem damaligen Karl-Marx-Stadt, geboren, nimmt Fuchs in einigen der schönsten Erzählungen des Bandes den Leser mit zurück in das Land, in dem sie aufwuchs, „bis die Wende in mein Leben geballert [kam] wie ein Irrer mit der BRAVO in der Hand“. Man erfährt von Wendehälsen, die in der DDR einst das „tollste kleine Land auf der Welt“ sahen, um praktisch über Nacht „ihre Liebe einzustellen“ und von dem Mädchen zu verlangen, das ebenfalls auf der Stelle zu tun. Oder man vernimmt, was es für eine Zwölfjährige bedeutete, als „neue Menstruierende und Jungfrau“ mit jenen unpraktischen Hygieneartikeln umgehen zu lernen, die nach der Wende einschmeichelnd „Slipeinlagen“ hießen, in der DDR aber eher „Brettern“ ähnlich waren, „die man umständlich mehrere Stunden lang zurechtlaufen musste, damit sie sich in der Mitte der Mitte der Frau anpassten“. Tempi passati!

Die Lesebühnenerfahrung der Autorin merkt man den Pointen vieler ihrer kleinen Erzähltexte an. Wortschöpfungen von „steppenwolfig“ über „Fußei“ bis hin zu „Sekundenlöcher“ zeigen, wie produktiv Kirsten Fuchs mit Sprache umgehen kann. Und warum sollte es, wenn man jemandem nachfolgen kann, nicht auch das Gegenteil davon geben, also einen „Vorfolger“? Ganz und gar schwarzhumorig wird es, wenn eine Schriftstellerin, um über die Runden zu kommen, eine „Aufstockung“ ihrer aktuellen Bezüge im Jobcenter beantragt und dort erfährt, dass es auch eine „Grundsicherung an Humorleistung“ gibt, nämlich einen Hartz-IV-Witz im Monat „zum Totlachen“.

In Casablanca, einer der schönsten Erzählungen eines Bandes, der immer besser wird, je weiter man sich in ihn hineinliest, resümiert Dirk, die männliche Hauptfigur, eine Liebesgeschichte, die er ungeschickt vor die Wand gefahren hat. Nein, er wird sich nicht, wie Humphrey Bogart und Ingrid Bergman es in dem berühmten Film von 1942 vorgemacht haben, mit Ina auf die Gangway ins große Glück begeben. Stattdessen sitzt er im Flughafenbistro ganz allein und träumt bis zum Schluss davon, dass die Frau, die seine unromantische Ader immer störte, dieses eine entscheidende Mal doch noch erscheint. Doch Ina hat sich wohl festgelegt, was Dirks Eignung zum Empfinden der ganz großen Gefühle betrifft. Und so sitzt der Mann bis zum Abflug allein an seinem Tisch. Dass er der Kellnerin Antje dabei alles andere als gleichgültig ist, merkt er nicht einmal. Und so wird wohl auch dieses mögliche Glück letzten Endes an ihm vorübergehen.

Liebe und Tod, Sehnsucht und Nostalgie, Verzweiflung und (oft auch fehlende) Empathie – souverän beherrscht Fuchs die Klaviatur menschlicher Gefühle. Sie vermag ernst zu sein, wo es nottut – wie in den Erzählungen, in denen sich ein Sohn um seinen verfallenden Vater kümmern muss (Erbe) oder zwei Frauen in einem „gut organisierten Land“ versuchen, den Einsatz von Sonderzügen in der Flüchtlingskrise zu managen und sich letzten Endes mehr um das Überleben einer Spinne sorgen als um die vielen verzweifelten Fremden (Signalstörung). Noch besser liegt ihr allerdings jener heiter-nachdenkliche Sound, in dem sie ihrer Fabulierlust die Zügel schießen lassen kann, absurde Situationen zu erfinden vermag und den lockeren Ton junger Menschen von heute gekonnt Literatur werden lässt.

Titelbild

Kirsten Fuchs: Signalstörung. Storys.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018.
221 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100441

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