Meister des psychologischen Realismus

Zum Tod des Schriftstellers Dieter Wellershoff

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Ohne Lebenserfahrung könnte man gewiss nicht so schreiben, wie ich das tue. Das heißt aber nicht, dass ich in meinen Texten ständig eigene Lebensprobleme ausagiere. Wenn der Autor wissen will, was an den Menschen dran ist, muss er sie in Schwierigkeiten bringen“, beschrieb Dieter Wellershoff einst sein dichterisches Credo. Und so lässt sich ohne waghalsige Interpretationsartistik eine verbindende Motivklammer vom Frühwerk Ein schöner Tag (1966) bis zu seinem letzten Roman Der Himmel ist kein Ort (2009) setzen. Es ging Wellershoff in seinem Werk stets um die kleinen Alltags-Katastrophen, um zwischenmenschliche Störfeuer, um winzige Nadelstiche, die ein seelisches Ungleichgewicht auslösen können.

Im Jahr 2000 hatte Wellershoff, der am 3. November 1925 in Neuss geboren wurde, mit Der Liebeswunsch ein Meisterwerk des psychologischen Realismus vorgelegt – mit authentischen Dialogen, bestechenden Menschenbildern, alternierenden Erzählperspektiven und einer klaren, zupackend präzisen Sprache. „Vom ersten Einfall bis zum Beginn des Schreibens vergingen ungefähr fünfzehn Jahre. Und dann dauerte es noch einmal eineinhalb Jahre bis das Buch fertig war“, bekannte der Autor. Sein großes Werk krönte er 2009 mit seinem Roman Der Himmel ist kein Ort, der um den innerlich zerrissenen Pfarrer Henrichsen und den unter schweren Verdacht geratenen Lehrer Karbe kreist und der – dies war ein Novum – überaus spannend zu lesen war.

Dieter Wellershoff schien jedes Wort auf die berühmte „Goldwaage“ zu legen, seine Akribie wurde in der Vergangenheit als „theorielastig“ und seine Bücher als „ingenieurhafte Prosa“ bezeichnet.

„Ich will herausbekommen, was ich aufgrund meines Lebenswissens über das Leben anderer Menschen sagen kann, und zwar in einem Erkenntnisprozess, bei dem sich Einfühlung und Analyse untrennbar mit Wahrnehmung und Phantasie mischen“, erklärte der Autor vor einigen Jahren. Wellershoff begleitete die Literatur mehr als 60 Jahre aus den verschiedensten Perspektiven – als Wissenschaftler (1952 erfolgte die Promotion über Gottfried Benn), Lektor (zwei Jahrzehnte bei Kiepenheuer und Witsch), Essayist und Autor.

Nach der Veröffentlichung der Romane Ein schöner Tag und Die Schattengrenze (1969) bildete sich in Wellershoffs Dunstkreis die „Kölner Schule“ des neuen Realismus, der Schriftsteller wie Günter Herburger, Günter Seuren, Nicolas Born und Rolf-Dieter Brinkmann angehörten. Die Sirene (1980), Der Sieger nimmt alles (1983) und das Kriegserinnerungsbuch Der Ernstfall (1995) waren weitere herausragende Werke des ungekrönten Königs des psychologischen Realismus.

Zu seinem 90. Geburtstag war unter dem Titel Im Dickicht des Lebens eine Sammlung mit ausgewählten Erzählungen erschienen – versehen mit einem Vorwort des Schriftstellerkollegen Peter Henning. Am 15. Juni ist Dieter Wellershoff im Alter von 92 Jahren in Köln verstorben.