Besitzlose Liebe verstummt nicht im Schweigen

Zu Katrin Kohls Edition des Briefwechsels zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war wohl kein schönes Blatt: Eine schief geschnittene Seite aus einem Schulheft, zart bekritzelt mit scheuer Kinderschrift; in einen Briefumschlag hineingeknickt und mit einer schräg in die Ecke geklebten Marke versehen. So beschreibt Erika Mitterer 1949 in einem Gedicht jenen halb vergilbten Bogen, auf dem sie einst das erste Gedicht an Rainer Maria Rilke sandte. Dem eher lieblos erscheinenden Äußeren des Briefes setzt die erfolgreiche 43-jährige Schriftstellerin in ihrem Erinnerungsgedicht an ihr 18-jähriges Alter Ego die emotionale Gewichtung entgegen; denn so „ward nie mit heißerm Zweifelshoffen ein Brief, mit innigerem Traum begleitet“. Und wenn Mitterer ihr Gedicht mit dem Vers „Ach, flammt der Funken aus verschlacktem Wort?“ enden lässt, dann weiß sie freilich um das Feuer, das dies „verschlackte Wort“ einst zwischen ihr und Rilke entfachte.

Eben dieses sich einst rasant ausbreitende, schnell wärmende und auch verzehrende Feuer bringt die Herausgeberin Katrin Kohl, Professorin für Deutsche Literatur am Jesus College der Universität Oxford, in ihrer Edition des Briefwechsels zwischen Rilke und Mitterer von Mai 1924 bis Dezember 1926 wieder zum Auflodern. Kohl gebührt das Verdienst, erstmals den gesamten Briefwechsel in chronologisch geordneter sowie ungekürzter Form mit Dokumenten aus dem „Umkreis“ und erschließendem Kommentar vorzulegen. Sie weist auf die editorisch sehr komplexe Lage hin, da der Nachlass von Mitterer noch gänzlich unerschlossen, aber voll zugänglich, der von Rilke teilweise erschlossen, jedoch nicht beziehungsweise nur sehr begrenzt zugänglich sei. Ihre Ausgabe möchte sie auch nicht als definitiv kritische oder historisch-kritische verstanden wissen, sondern als eine umfassende Dokumentation für die künftige Forschung. Dem Anspruch, dies darf bereits vorweggenommen werden, wird die höchst sorgfältige und gründlich reflektierte Ausgabe allemal gerecht. Doch nicht allein die Rilke- und die Mitterer-Forschung darf sich glücklich schätzen, sondern auch interessierte Laien. Bevor editorische Aspekte des Buches näher betrachtet werden, soll der Briefwechsel kurz skizziert werden.

Dem ersten Brief der jungen angehenden Sozialfürsorgerin an Rilke gehen bereits Widmungsgedichte und Briefentwürfe in Lyrik und Prosa voraus. Diese Dokumente nimmt Kohl ebenfalls in die Ausgabe auf, ordnet sie dem „Umkreis“ des Briefwechsels zu und integriert sie in dessen chronologische Reihenfolge. In diesem konkreten Fall werden sie der späteren Korrespondenz als „Vorspiel“ vorangestellt. Ihr erster Brief besteht aus zwei Gedichten; dem ersten ist ein Zitat aus Rilkes Sonetten an Orpheus vorangestellt, der zweite beginnt mit der persönlich-intimen Anrede „Du“. Rilke greift die von Mitterer vorgegebene Form auf und antwortet seinerseits mit einem Gedicht, dem wiederum ein Zitat aus ihrem Brief vorangestellt ist. Das poetische Spiel ist eröffnet.

Der Briefwechsel intensiviert sich rasch. Oftmals überschneiden sich die Briefe auf dem Postweg, so dass ein komplexes Netz von textuellen Bezügen entsteht. Seinen Höhepunkt findet der Briefwechsel bereits nach wenigen Monaten im Juli und August 1924. Rilke hat sich hinreißen lassen, die Geliebte nach Muzot einzuladen, doch nur wenige Tage später, am 18. August, bricht er den Briefwechsel unvermittelt ab. Ursächlich für den Abbruch, so vermutet Kohl – und angesichts der typischen Beziehungsverläufe Rilkes erscheint es plausibel –, sei der drohende Einbruch des Realen in den Raum des Imaginativen. Schon in seinem Brief vom 7. August findet sich die für Rilkes Haltung bezeichnende Formulierung: „Halb ruf ich dich, halb halt ich dich von mir, dass ich den schönen Zauber nicht verstöre.“

Unerachtet Rilkes Schweigens schreibt Mitterer weiterhin gefühlvolle Briefe, in der Hoffnung, ihn zu erklärenden und sie damit entlastenden Zeilen zu bewegen. Für sie ist Rilke der ferne Meister, den sie innigst verehrt, der sie beseelt und sie nun in Unsicherheit und Zweifeln alleine lässt – und vor allem: an dem sie, gerade in der Zeit seines Schweigens, als Dichterin wächst. Interessanterweise gelingt es ihr, diese Stille für einen Brief am 1. Januar 1925 zu brechen, als sie zum ersten Mal aus dem sie einengenden Verskorsett der Briefe ausbricht und sich Weihnachten 1924 in Prosaform an ihn wendet. Rilke, der stets an der Versform der Briefe festhält, wenngleich gelegentlich in prosaischem Ton, lobt ihre Entwicklung als Dichterin und hüllt sich anschließend abermals nahezu elf  Monate in Schweigen. Auch in dieser Zeit schreibt Mitterer unermüdlich weiter Briefe und erst als sie ihn aus Sorge bittet, ihr von einer etwaigen Krankheit mitzuteilen, antwortet er ihr am 30. Oktober 1925. Dieser Brief wird für Mitterer Anlass, Rilke in Muzot für vier Tage zu besuchen.

Obwohl Mitterer Tagebuch führt, wird der Besuch in Muzot erst rückblickend 1926/1927 ausführlich in einem über mehrere Monate sporadisch verfassten Bericht geschildert. Sie besucht Rilke täglich in seinem Turm, abends essen sie zusammen in einem Restaurant und sie tauschen sich über literarische Themen und Gedichte ebenso aus wie über die Erlebniswelt der jungen Mitterer und über Erfahrungen Rilkes. Trotz der freundschaftlichen Atmosphäre, in der dieses viertägige Treffen stattfindet, ist dem Bericht Mitterers Verliebtheit deutlich anzumerken.

Nach ihrer Begegnung in Muzot wird Mitterer weiterhin bis zu Rilkes Tod Briefe schreiben, er hingegen antwortet ihr nur noch ein einziges Mal: Am 24. August 1926 schickt er ihr die Ode Taube, die draußen blieb. Darin feiert Rilke die überstandene lebensbedrohliche Operation der Freundin. Es ist eines seiner letzten Gedichte. Doch so wie Mitterer nicht alle Tagebucheinträge, Entwürfe und Gedichte, die durch den Austausch mit Rilke entstehen, auch tatsächlich an ihn verschickt, so setzt sich auch Rilke in seinem Schweigen weiterhin dichterisch mit seiner Beziehung zu Mitterer auseinander. All diese Texte, die den Dialog der beiden aus einer jeweils ungeteilt intimen Perspektive ergänzen und erhellen, sind in der Ausgabe von Kohl als Dokumente des „Umkreises“ aufgenommen.

Kohl wählt als Untertitel ihrer Edition Besitzlose Liebe und erinnert damit an Rilkes Ideal einer transzendenten Liebe, die den Geliebten nicht „besitzen“ möchte und die Individualität seiner Persönlichkeit nicht auf Greif- und Begreifbares begrenzt, sondern ihn „durchstrahlt“ und somit Raum zu dessen eigener Entfaltung lässt – oder mit anderen Worten: eine Liebe, die sich dem offenen Werden und nicht dem begrenzten Sein verschreibt. Sein letzter Eintrag in Bezug auf Erika Mitterer ist kein Gedicht, sondern der verdichtete Satz „und alles Nie-gehörende sei Dein!“ – wohl das schönste Geschenk für eine besitzlos Liebende. Wie nah letztlich Mitterer diesem Ideal Rilkes zu kommen scheint, macht sein Tod deutlich, der für sie nicht das Ende der Beziehung bedeutet: In den folgenden Monaten und Jahren setzt sie sich immer wieder mit dem Verlust des Geliebten  in Tagebüchern und Gedichten auseinander. Gedichte wie das eingangs erwähnte aus dem Jahr 1949 geben Zeugnis einer sehr innigen Beziehung und werden von Kohl als „Nachspiel“ aufgeführt.

Kohl betrachtet den poetischen Briefwechsel mit Mitterer als eigenständiges Werk, das im Gesamtgefüge des schriftstellerischen Schaffens Rilkes eine Schlüsselstellung einnehme:

Denn es verkörpert eine einzigartige Verbindung zwischen seinem reichhaltigen epistolarischen Werk […] und seiner Dichtung mit deren bedeutendem Anteil von Widmungslyrik. Der Briefwechsel in Gedichten wird damit auch zu einem hochrangigen Medium für die dichterisch ertragreiche Zusammenführung von Lebensstoff und künstlerischem Werk.

Neben umsichtiger Sorgfalt der Herausgeberin ist es dem Literaturarchiv Marbach zu verdanken, wo sämtliche Briefe im handschriftlichen Original vorhanden sind, dass der Briefwechsel in seiner Vollständigkeit editiert werden konnte. Die aufgenommenen Texte Rilkes umfassen 13 Briefe mit insgesamt 49 Gedichten, von denen 25 zwar an Mitterer gerichtet waren, jedoch nicht abgeschickt wurden. Alle Gedichte Rilkes sind zwar bereits in früheren Ausgaben veröffentlicht worden, jedoch zeigen sie dort, so Kohl, nicht immer den Bezug zum Mitterer-Briefwechsel auf, zudem liegt ihre Datierung manchmal im Dunklen. Die Texte Mitterers sind noch umfassender: Neben ihren 55 Briefen an Rilke und Tagebucheinträgen sind 173 Gedichte abgedruckt, von denen einige nicht an Rilke abgeschickt und andere erst nach seinem Tod entstanden sind. Sämtliche Texte werden durch einen ausführlichen Kommentar der Herausgeberin ergänzt, wobei Informationen zum Textträger, zur editorischen Grundlage, zur Datierung, Entstehung und zum Inhalt gegeben werden. Dabei unterscheiden sich die Kommentare abhängig von ihrem Referenztext: So gibt es zu den Berichten aus Muzot (zunächst vom viertägigen Aufenthalt im November 1925, dann von der Beerdigung zum Jahreswechsel 1926/27) informative Kommentare zu sachlichen Aspekten. Bei den Gedichten hingegen geht es um die Erhellung der zahlreichen textuellen Bezüge, die sich aufgrund überschneidender Briefe oft über längere Zeiträume und mehrere Texte erstrecken.

Die editorischen Möglichkeiten lassen sich dank elektronischer Ausgaben inzwischen deutlich ausweiten und so ist auch Kohls Edition des Briefwechsels als Doppelausgabe angelegt. Neben der gedruckten Fassung liegt im ORA-Data Archiv der Universität Oxford eine elektronische Ausgabe mit erweitertem wissenschaftlichen Apparat, die aufgrund einer Sperrfrist allerdings noch nicht  zugänglich ist. Wenn das Archiv Zugang gewährt, ist das gesamte für die Edition relevante Material einsehbar. Aufgeteilt in zwei Teile verspricht die elektronische Ausgabe ergänzende Kommentare zur editorischen Vorgehensweise und Entscheidungsfindung bezüglich des Briefwechsels sowie der Gedichte und Prosa des „Umkreises“. Ebenso wird es detailliertere Kommentare zu den Abschnitten „Textgrundlage“, „Datierung“, „Entstehung“ und „Erstdruck“ geben, die in der gedruckten Ausgabe resümierend dargelegt sind. Besonders interessant erscheinen die in Aussicht gestellten Scans der Originalbriefe sowie weitere relevante Korrespondenzen zwischen Mitterer und Dritten. Darunter zählen beispielsweise ihr Briefwechsel mit dem Schriftsteller Emil Hadina, die Briefe von Nanny Wunderly-Vokart, die Korrespondenz mit dem Insel-Verlag sowie mit dem Germanisten Bernard Brown. Und weil diese Ausgabe als umfassende Dokumentation und Ausgangsbasis für die weitere Forschung verstanden werde möchte, soll später die Möglichkeit bestehen, dem Bestand weitere wichtige Dokumente hinzuzufügen.

Katrin Kohls Edition des poetischen Briefwechsels ist eine sorgsam erarbeitete und gereifte Bereicherung nicht nur der Rilke-, sondern natürlich auch der Mitterer-Forschung. Übersichtlich und klar zusammengestellt mit erhellenden und umfassenden Kommentaren vermag der rekonstruierte poetische Liebesdialog nicht allein neue Einblicke in das Leben des reifen Dichters und der sich entfaltenden Dichterin zu geben, er zeugt zugleich durch transparente Sorgfalt von der unschätzbar wichtigen und höchst anspruchsvollen Tätigkeit der Editionswissenschaft. Und wenn das ORA-Data Archiv nach der Sperrfrist die Dokumente frei zugänglich macht, bekommt Rilkes „und alles Nie-gehörende sei Dein!“ noch eine weitere schöne Bedeutung – denn warum sollte, für die bestmögliche Entwicklung aller, „besitzlose Liebe“ nicht auch in und zu der Wissenschaft möglich sein?

Titelbild

Rainer Maria Rilke / Erika Mitterer: Besitzlose Liebe. Der poetische Briefwechsel.
Herausgegeben von Katrin Kohl.
Insel Verlag, Berlin 2018.
592 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783458177517

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch