Um einen Goethe als Wanderer bittend

Michael Jaegers brillante Faust-Studie entschlüsselt eine neue Leitfigur

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir sind nicht Faust“, hat Karl Eibl in seiner maßgeblichen Studie Das monumentale Ich (2001, neu aufgelegt 2016) gesagt. Die Postmoderne hat die Zumutungen des Stoffs, Titanismus und Magie, anscheinend ganz gut überwunden. Gleichwohl hört die berühmteste Figur der deutschen Literatur nicht auf, uns neue Rätsel aufzugeben. Eines davon stellt der Wanderer, der seinen letzten Auftritt im letzten Akt des zweiten Faust-Teils hat und als Leitfigur Johann Wolfgang von Goethes Werk von Anfang an, nun ja, durchwandert.

Diese These vertritt der Berliner Germanist Michael Jaeger in einer kleinen Studie, die eine Summe aus seinen luziden Büchern über Fausts Kolonie (2004), den Global Player Faust (2008) und Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie (2014) zieht. Es ist, um das gleich vorwegzunehmen, ein faszinierendes Argument, das der Autor hier hurtig entfaltet, und er muss sich seiner Sache offenbar sehr sicher sein, um diese These auf weniger als 90 Seiten überzeugend herüberzubringen.

Der Wanderer besucht im fünften Akt des Dramas das uralte Musterpaar Philemon und Baucis. Die wohnen in einer lindenumsäumten Hütte auf einer Düne. Der Wanderer freut sich auf den Anblick des Meeres, doch erstarrt, als er gewahr wird, dass das Wasser inzwischen eingedämmt und das Meer nur noch aus der Ferne zu sehen ist. Die Landgewinnung ist kein guter Vorbote der industriellen Moderne. Sie hat nicht nur das Alte zerstört, sie schockiert auch mit dem Neuen. Michael Jaeger geht es aber nicht um eine Kritik der Erfahrungsbeschleunigung und Überforderung durch die ökonomische Moderne. Er legt das Augenmerk ganz auf das Erlebnis des Wanderers, der zunächst verstummt und dann, auf Fausts Betreiben, mit den Alten in einem von Mephisto entfachten Feuersturm untergeht.

Der Wanderer ist Goethes spätes Selbstbild im Faust-Drama, eine Autokorrektur der nach innen forschenden Faust-Figur und eine Reminiszenz an seine römischen Jahre, in denen sich die Arbeit an diesem Lebenszeitprojekt Goethes zu einem Menschheitsdrama formierte. Seine Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt (1817) trug das Motto: „Was ich nicht erlernt hab / Das hab ich erwandert.“ Goethe hatte in Rom die Widersprüche des Dramas erkannt, die sich später in die Figuren ‚Wanderer‘ und ‚Faust‘ aufspalteten: Euphorie und Depression, südländische Weltoffenheit und nordisches Hexen-, Teufels- und Nebelwesen, Künstlerleben in der Wohngemeinschaft am Korso und gotisches Studierzimmer, Klassik und Sturm und Drang.

Auf diese Weise gelingt es Jaeger auch, neues Licht auf die Rolle Mephistos zu werfen. Mephisto ist eine italienische Erfindung Goethes, „Faust. Mephistopheles“ ist die erste italienische Zeile in dem altem Faust-Manuskript, die Goethe niederschreibt. Mit der Teufelsfigur lässt er Fausts negative Emanzipationsgeschichte beginnen, mit dem Wanderer stellt er ihm eine ganz andere Figur der  Selbstbefreiung entgegen. Faust ist kein Wanderer. Faust will den Augenblick und verliert am Ende sowohl sein Augenlicht wie auch die Erkenntniskraft. Der Wanderer erlebt den Schock der technischen Moderne im Anblick der gewaltsamen Kolonisation und Landnahme Fausts. Die mit dem Linden (Symbol des Dauerhaften) niederbrennende Hütte ist eine doppelt pessimistische Moderne-Vision, die der Türmer Lynceus im Wortsinn radikal ausdrückt: „Bis zur Wurzel glühn die hohlen / Stämme, Pupurrot im Glühn / […] Was sich sonst dem Blick empfohlen, / Mit Jahrhunderten ist hin.“

So ist der Wanderer eine Hoffnungs- und zugleich Opferfigur, mit der sich Goethe in einen produktiven Konflikt zu den Ursprüngen seiner Faust-Figur setzt, ein Ergebnis des Synchronisierens von Italienischer Reise (die 1816 und ‘17 in zwei Bänden erschien) und Faust. Die Lektüre von Jaegers Buch schärft die Widersprüche der Faustfigur und unseren Blick auf die Ambivalenzen der frühen Modernekritik. Wir sind – mehr, als es uns vielleicht lieb ist – der Wanderer.

Titelbild

Michael Jaeger: Goethe, Faust und der Wanderer. Lebensbruchstücke, Tragödienfragmente.
Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 2017.
94 Seiten, 10,50 EUR.
ISBN-13: 9783938593301

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