Eine ganze Stadt

Robert Seethalers vielstimmiger Totenchor „Das Feld“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Idioten.“ ist das einzige Wort des Kapitels „Sophie Breyer“. Wen die Paulstädter Tabakwarenhändlerin damit meint, weiß der Leser von Robert Seethalers neuem Roman Das Feld nicht. Die Form dieses sofort in die Bestsellerlisten gestürmten Buches indes wird schnell klar, sie ist frei und sehr mutig. Der 51-jährige Wiener lässt insgesamt 29 Stimmen zu Wort kommen, Stimmen von Paulstädterinnen und Paulstädtern, die eines gemeinsam haben: Sie alle sind tot, begraben auf dem Friedhof dieser fiktiven Stadt, genauer auf dem ältesten Teil davon, der nur „das Feld“ genannt wird. Ein alter Mann sitzt dort unter einer Birke auf einer wackligen Bank, sieht über die Gräber, denkt an einzelne der Toten und fragt sich, was sie wohl von sich geben würden, könnten sie sich noch einmal äußern.

Und dann beginnt dieser Paulstädter Reigen mit Hanna Heim, die Zwiesprache mit ihrem Mann hält, sich daran erinnert, wie sie sich kennengelernt haben, wie ihre Liebe sie durch ihre Leben getragen hat. Ein starker Anfang, ein Versprechen und eine programmatische Ansage, dass mit der Liebe alles beginnt und die Liebe das Movens für das Leben und über das Leben hinaus ist. Nein, das ist nicht kitschig, das ist lebensnah. So lebensnah, wie Seethaler auch schon in seinem internationalen Bestseller Ein ganzes Leben über das einfache Leben eines einfachen Mannes geschrieben hat. Diese Perspektive behält er bei, denn auch Das Feld erzählt von mehr oder weniger einfachen Menschen; Menschen, die ihr Leben in Paulstadt verbracht haben, die dort gearbeitet haben, als Blumenhändlerin, als Pfarrer, als Bürgermeister. Oder die, wie Stephanie Stanek, als Teil eines Flüchtlingstrecks in Paulstadt gelandet sind: „Es gab wohl wenig Platz im Land und man schickte uns hierhin und dorthin. Schließlich kamen wir in Paulstadt an.“

Man könnte nun erwarten, dass Seethaler all diesen in seinem Buch Auftretenden eine eigene Stimme gibt, sie individuell artikulieren lässt, je nach Bildung und sozialem Status. Doch genau das tut er nicht. Eine kluge Entscheidung, denn das wäre unglaublich artifiziell und letztlich doch nur eine umständliche und gewollt wirkende Paulstädter Kakophonie geworden. Allerdings unterscheidet sich der Ton der Romanfiguren trotzdem ein wenig voneinander, der Autor ist sich sehr wohl bewusst, dass Kinder und Jugendliche, die leider auch schon auf dem Friedhof liegen und hier ebenso ihre Stimme bekommen, anders denken und sprechen – wie zum Beispiel Peter Lichtlein, der an einer Stelle sagt: „Der liebe Gott ist gar nicht so lieb, und der Teufel bläst die Sterne aus.“ Kann das gelingen, aus so vielen episodischen Stimmen und biografisch grundierten Einzeltexten einen Roman zu formen? Das kommt darauf an, wie man die Romanform versteht. Im Gegensatz zu einer Sammlung von Erzählungen entsteht hier aufgrund der geografischen Einheit und der mehrfachen Erwähnung einzelner Figuren (beispielsweise des Autohändlers Kobielski oder der Floristin Gregorina) allmählich das Bild dieses fiktiven Ortes mit seinen Seilschaften, Eifersüchteleien, Ränken und Veränderungen.

Seethaler gelingt das Verweben dieser Stimmen auch dadurch, dass manche von ihnen Dinge äußern, die sie zu ihren Lebzeiten wohl nie gesagt hätten, Geständnissen oder Bekenntnissen gleich, die zudem in Form von Listen und Aufzählungen ihre jeweiligen Lebensthemen wiedergeben. Dieser Blick unter das oberflächlich Gewohnte öffnet den Ort gewissermaßen. Zudem findet Seethaler immer wieder Beschreibungen, die fast schon expressionistisch sind, die manche Texte weit über den Alltag eines Ortes und seiner Menschen hinausheben. Das ist folgerichtig, da die gesamte Konstruktion des Buches darauf angelegt ist. Besondere Formulierungen, die lange nachwirken und Gültigkeit über die Lektüre hinaus haben, unterstützen, gut dosiert eingesetzt, die Romanidee: „Aber immerhin habe ich jetzt vom Sterben eine Ahnung: Es beendet die Sehnsucht, und wenn man stillhält tut es gar nicht weh.“

Titelbild

Robert Seethaler: Das Feld. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
239 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260382

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