Zeremonielle Manifestationen politischer Macht

Mit den Vorlesungen zu Institutionen der Strafe von 1971/72 liegt ein weiterer Baustein in der Genese von Michel Foucaults Theoriegebäude vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den modernen Klassikern der Kulturwissenschaft nimmt Michel Foucault zweifellos einen der vorderen Plätze ein. Wenige andere Theoretiker haben die unterschiedlichsten Disziplinen so massiv beeinflusst wie Foucault, der sich von den zeichentheoretischen oder psychoanalytischen Fundamentalreflexionen seiner gleichermaßen prominenten Generationsgenossen wie Jacques Derrida, Roland Barthes oder Jacques Lacan stets durch einen weit deutlicheren Bezug zum historisch-genealogischen Denken abhob. Nicht um die Dekonstruktion metaphysischer Denkmuster oder um semiologische Abenteuer war es ihm zu tun, sondern um die – originell perspektivierte und stets politisch grundierte – Rekonstruktion von Diskursen, beispielsweise über Wahnsinn und Sexualität, immer verbunden mit der Frage, wie sich Aspekte der Macht in ihnen zeigen, oder um die Entstehung von Praktiken und Institutionen, der Klink etwa oder des Gefängnisses.

Von 1970 bis 1984 hielt Foucault seine längst legendären Vorlesungen am Collège de France. Vom 24. November 1971 bis zum 8. März 1972 las er dort über Theorien und Institutionen der Strafe. Wie auch die nachfolgende Vorlesung Die Strafgesellschaft (1972/73), deren deutsche Übersetzung bereits 2015 publiziert wurde, steht Theorien und Institutionen der Strafe in direktem thematischen Zusammenhang mit dem wegweisenden Buch Überwachen und Strafen (1975) und ist mithin als eine Art Prolegomenon zu einem Schlüsseltext moderner Straftheorie zu verstehen.

In Überwachen und Strafen unterscheidet Foucault verschiedene ‚Straf-Stile‘. Zunächst schildert er ein komplexes Arrangement der Hinrichtung, bei der mittels einer „peinlichen Strafe“ das Verbrechen möglichst drastisch, öffentlichkeitswirksam und spektakulär in Form eines Strafzeremoniells durch die Obrigkeit gerächt wird. Dabei werden Art und Schwere des Verbrechens mit der Qualität, der Dauer und der Intensität der Schmerzen in Beziehung gesetzt. Dieser vor allem im Absolutismus ausgeübte Straf-Stil zielt auf den Körper, der in einer geradezu ästhetisch durchkomponierten öffentlichen Inszenierung auf grausame, aber nicht irrationale oder arbiträre Weise gemartert wird.

Davon unterscheidet Foucault einen Straf-Stil, bei dem an die Stelle eines peinigenden Strafschauspiels eine „Technik der Verbesserung“ tritt, die nicht mehr rächen, sondern erziehen und heilen will. Die Strafe ändert nicht nur ihre Erscheinungsform, sondern auch und vor allem ihre Absicht: Sie zielt nicht mehr auf den Körper, sondern auf die Seele. Der Sträfling gerät geradezu zum Schüler, der die Regeln und Gesetze erlernen und verinnerlichen soll. Dies geschieht etwa durch Disziplinierung und Überwachung. So sei beispielsweise das Gefängnis eine „Gesinnungswandel-Maschine“. Das Verbrechen soll nicht ausgelöscht, sondern der Schuldige umgeformt werden.

Während Die Strafgesellschaft den gleichen Zeitraum behandelt wie Überwachen und Strafen, was sich in diversen textlichen Parallelen niederschlägt, stellen die Vorlesungen zu den Institutionen der Strafe in doppelter Hinsicht eine Vorstufe dar: Foucault beschäftigt sich hier zum einen erstmals ausführlich mit dieser Thematik, zum anderen arbeitet er gleichsam die mittelalterliche Vorgeschichte der modernen Strafpraktiken auf. Dem nun erstmals in deutscher Sprache vorliegenden Text kommt seine Bedeutung weniger aufgrund seiner philosophischen Gedanken zu denn als Beleg für die Genese von Foucaults Denken. Dokumentiert wird eine Art Umschlagpunkt in der intellektuellen Entwicklung dieses so wirkmächtigen Denkers, der in einer knappen Zusammenfassung hervorhebt, dass die Vorlesung als „historische Vorstudie zu einer Untersuchung der Strafinstitutionen (allgemeiner der sozialen Kontrolle und der Strafsysteme) in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts dienen“ sollte.

Zunächst beschäftigt sich Foucault in einiger Ausführlichkeit mit dem Aufstand der „Nu-pieds“ im 17. Jahrhundert und dessen Niederschlagung – die Herausgeber sehen hier einen indirekten Kommentar zur repressiven Aufarbeitung der Geschehnisse vom Mai 1968. Das ist plausibel, arbeitet Foucault doch an einer Zurückverlagerung der „Analyse des Strafwesens in den Kontext der Repressionssysteme“. Die Aufmerksamkeit gilt immer der Inszenierung der Macht, die – wie vordergründig oder verheimlicht auch immer – bei allen Formen der Strafe im Spiel ist. In der zweiten Hälfte der Vorlesungen geht es Foucault ausdrücklich um die Entwicklung „eines neuen Repressionssystems“. In den zeichenhaften Manifestationen der Macht bilde sich die Verschiebung von einem absoluten Monarchen hin zu einem sichtbaren Staatskörper ab, zudem sieht Foucault immer wieder Indizien für die Ausbildung des Kapitalismus auch in Strafpraktiken.

Im Rückgriff auf das alte germanische Recht schildert Foucault Grundzüge des Strafrechts im gesamten Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Bei Justizakten sei es nicht um das Auffinden einer Wahrheit gegangen, sondern um einen geregelten Kampf, sodass der Charakter des Krieges bei der Rechtsausübung dominant gewesen sei. Da man sich davon aber habe freikaufen können, sei das mittelalterliche Strafsystem fiskalisch, das moderne hingegen karzerisch, da es auf den Ausschluss der zu strafenden Individuen ziele. Zudem sei in der Moderne nicht mehr entscheidend, dass einem anderen Schaden zugefügt, sondern dass gegen ein Gesetz verstoßen werde. Darüber hinaus sei die modernere Straftheorie von „Wissenseffekten“ geprägt; es verschiebt sich die Rolle des Angeklagten, der nicht mehr derjenige sei, „der kämpfen muss; er ist jetzt derjenige, über den es zu wissen gilt“, nicht zuletzt rücke die „Wahrheit“ in das Zentrum der gerichtlichen Untersuchung. Diese hier auf ihre Grundzüge reduzierten Praktiken und ihre Implikationen entschlüsselt Foucault in immer neuen Anläufen und Entwürfen.

Das Vorlesungsmanuskript wird flankiert von einigen kürzeren Texten. Als Herzstück der paratextuellen Materialien darf die „Situierung der Vorlesungen“ durch Bernard E. Harcourt und François Ewald gelten, in der die zeitgeschichtlichen Kontexte beleuchtet und Foucaults Überlegungen in den Entwicklungsgang seiner Theorie eingepasst werden. Anders als bei bislang publizierten Vorlesungstexten konnten die Herausgeber nicht auf Tonbandaufnahmen zurückgreifen. Editionsgrundlage sind mithin allein Foucaults Manuskripte, die aber von ausformulierten Texten ein gutes Stück entfernt sind. Vieles bleibt Stichwort, Skizze und grobes Raster. Das macht die Lektüre zu einem spröden Unterfangen und schmälert auch den Gebrauchswert des Buches, da der Charme an Foucaults Vorlesungen sicherlich weniger in der Vermittlung von historischen Fakten als in deren theoretisierenden Auslegungen besteht. Das wird hier meist nur angedeutet, selten aber entfaltet. Es liegt gleichsam ein Buch vor, das divinatorischer Leser bedarf – und das die (keineswegs neue) Frage nach Sinn und Unsinn der Publikation eines „Textes“ aufwirft, der nie zur Publikation vorgesehen war und der, wie in diesem Fall, schwerlich ein „Text“ im emphatischen Sinn ist.

Ihre pragmatische Beantwortung indes findet diese Grundsatzfrage im Rang des Autors: Wer es zum Klassiker gebracht hat, ist um seiner selbst willen von Interesse, sodass jedes irgendwie verwendbare Zeugnis seiner intellektuellen Entwicklung auch der Öffentlichkeit zugeführt wird. Für die Foucault-Philologie ist dieses Vorlesungsmanuskript ein schätzenswertes Dokument. Als Einstieg in das weit gefächerte Werk des großen Analytikers der Macht indes ist es sehr steinig. Wer sich mit Foucaults Theorie des Rechts und des Strafens beschäftigen möchte, sollte weiterhin zunächst zum kanonischen Text von Überwachen und Strafen oder der auf der Vorlesung basierenden Schrift Die Wahrheit und die juristischen Formen greifen.

Titelbild

Michel Foucault: Theorien und Institutionen der Strafe. Vorlesungen am Collège de France 1971-1972.
Unter Leitung von Francois Ewald und Alessandro Fontana herausgegeben von Bernard E. Harcourt unter Mitarbeit von Elisabetta Basso (Transkription des Texts) und Claude-Olivier Doron (Anmerkungen und kritischer Apparat), unter Mitwirkung von Daniel Defert.
Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Hemminger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
414 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586990

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