Ein nutzloses Fieber ergriff sie
Ştefan Agopian schickt in seinem „Handbuch der Zeiten“ zwei Helden auf die Suche nach der Glückseligkeit
Von Anke Pfeifer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnfang des 19. Jahrhunderts, zur Zeit des russisch-türkischen Kriegs, so wird suggeriert, sind zwei Aussteiger, Ioan der Geograph und der Armenier Zadic. in der Walachei unterwegs, auf der Suche nach der Glückseligkeit. Sie sinnieren, trinken, treffen allerlei seltsame Wesen, kämpfen oder kämpfen auch nicht. Oder aber sie liegen einfach nur da in diesem, laut Nachwort von Jörg Sundermeier, „ganz fantastischen Rauschroman“ von Ştefan Agopian, geboren 1947 in Bukarest.
Der Umstand, dass Rumänien im März 2018 Gastland der Leipziger Buchmesse war, gab vorab den Aktivitäten zur Übersetzung rumänischer Literatur, nicht zuletzt großzügig durch rumänische Kulturinstitutionen gefördert, reichlich Auftrieb. Für diesen Anlass wurde überwiegend Prosa und Lyrik, die in den letzten Jahren entstanden war, ins Deutsche übertragen. Gegenüber Literatur aus der Zeit des Realsozialismus existieren häufig Vorbehalte, stehen diese doch – zu einigem Unrecht – unter Generalverdacht ideologischer Parteinahme oder zumindest politischer Infiziertheit. Umso erfreulicher ist es, dass nun dieser kleine Roman aus dem Jahre 1984, ein schönes Gegenbeispiel zu ideologischer Vereinnahmung und in Rumänien 2014 neu aufgelegt, auf Deutsch erschienen ist.
Ende der 1980er Jahre, also zu DDR-Zeiten, war er schon einmal, und zwar dem Reclam Verlag Leipzig, zur Übersetzung empfohlen worden, ein Ansinnen, das offenbar in den Wendewirren unterging. Nun hat der Verbrecher Verlag dieses kleine Lesevergnügen in der schönen Übersetzung von Eva Wemme zugänglich gemacht.
In Rumänien kam das Büchlein seinerzeit durch die Zensur, weil die Handlung augenscheinlich in der rumänischen Historie, und zwar während der Phanariotenherrschaft, einer Zeit verstärkter Ausplünderung und Unterdrückung, angesiedelt ist. Doch der geübte Leser verstand damals zweifellos die zahllosen Anspielungen des Autors auf Konformitätsdruck, Entmündigung, Überwachung in der Ceauşescu-Ära – die protokollierten Spitzelberichte, das aus der Wand ragende Riesenohr, die sinnlosen Rituale gigantischer Kongresse sind nur allzu offensichtlich. Vielleicht erhielt Agopian ja sogar nicht zuletzt deshalb damals den Preis für Prosa des Rumänischen Schriftstellerverbandes.
Die reale Handlungsebene ist gekennzeichnet durch Jahreszahlen, historisches Zeitkolorit vermittels Verweise auf Alltagsleben oder Berufe und verankert in Geschichte, Philosophie und durch intertextuelle Bezüge. Es wimmelt von Anspielungen, angefangen beim Armenier Zadic, einem der beiden Helden. Agopian selbst hat armenische Wurzeln und die Anspielung auf Voltaire ist offensichtlich. Schließlich treibt auch die beiden Helden die Frage nach Glück um und umher. Weder verschiedene ausgeübte Berufe und teils groteske Tätigkeiten noch einstiges Vermögen haben bisher zu dem ersehnten Ziel geführt. Daher verweigern sie sich der Gesellschaft und vagabundieren umher. Allein Essen und Trinken als Absicherung des leiblichen Grundbedürfnisses sind wichtig, Alkoholkonsum erzeugt Bewusstseinserweiterungen. Und so schaffen sie es zeitweise, Elend, Melancholie und Weltschmerz abzuschütteln. Die beiden sind überaus belesen und gelehrt. Sie kennen sich aus mit Platon und anderen Philosophen.
Ihr Glücksanspruch lässt sich am ehesten durch einen geistigen Zustand herstellen, der durch individuelle Freiheit, Aufgehen in einem übergeordneten Harmoniegefüge und Glückseligkeit gekennzeichnet ist. Zunächst schlagen sie mit stark ausgeprägter Selbstbehauptung die Welt mit deren eigenen Waffen im eigentlichen und übertragenen Sinne. Zunehmend überfällt sie aber Passivität, sie hüllen sich immer mehr in Schweigen, ja Apathie, sie schauen und warten, registrieren gleichgültig ihre Umwelt, in der außerordentlich merkwürdige Dinge passieren.
In sechs Kapiteln, die allein den Jahreszeiten und nur insofern einer gewissen Chronologie folgen, werden teils aus einer Erzählerperspektive, teils durch Ioan und in einem Kapitel auch aus der Sicht eines bösen Geistes aneinandergereihte anekdotische Episoden voller Witz und Doppeldeutigkeit ausgebreitet. Die Beschreibungen des Wetters haben dabei jeweils einen Bezug zur aktuellen Befindlichkeit der beiden Helden.
Ergänzt und durchdrungen wird diese reale Ebene durch eine phantastische Welt, gekennzeichnet durch Paradoxien, Absurditäten, Allegorien, Träume, übernatürliche Erscheinungen. Zahlreiche phantastische Figuren treten auf, wie der Riesenvogel Odysseus, Stymphaliden aus der griechischen Mythologie, Bratkartoffeln essende Engel, gutartige und witzige Teufel, unter anderem in Gestalt des Kakodämon und des kleinen Clausewitsch, Pandidaktiker, die über Bohnen diskutieren und so weiter. Auffälliges Stilmittel sind die überaus häufigen sprachlichen Vergleiche sehr unterschiedlicher Art.
Und wenn Kalanos, der alte indische Gymnosophist, bei seiner Selbstverbrennung Alexander den Großen den baldigen Tod voraussagt, so kann das ebenso als eine Anspielung auf die Herrschaftszeit von Nicolae Ceauşescu verstanden werden, wie Kalanosʼ Test mit der Blase vor Alexanders Augen, die durch seinen Fuß getreten erst zur Seite weicht und schließlich platzt. Der kleine Mönch erkennt dies ängstlich als Herrschaftskritik. Doch davon lassen sich die beiden Antihelden nicht beeindrucken und pinkeln doch in das Riesenohr. Wer denkt da nicht an den rumänischen Sicherheitsdienst Securitate?
Agopian zielte mit seinem Roman auch auf seine damalige Lebenswelt und die seiner Schriftstellerkollegen, die sich mit der Schaffung eines eigenen literarisch-geistigen Raumes eine Alternative zum bedrückenden Alltag in Rumänien schufen. Zwar will dieses „Handbuch“ keine Lehre vermitteln, aber Herausforderung zur Interpretation, Anregungen und Spaß findet der Leser allemal. Er muss sich nur darauf einlassen.
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