Auf den Spuren des jungen Rolf Dieter Brinkmann

Markus Fauser unternimmt literarische Spaziergänge durch Vechta

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann war ein Außenseiter der deutschen Literaturszene der 1960er und 70er Jahre, wobei er seine radikale Isolation vom Kulturbetrieb abseits vom 68-Pathos selbst suchte. Die Faszination seiner provozierenden Denk- und Schreibweisen sowie seiner vielfältigen Kreativität ist ungebrochen. Am 16. April 1940 wurde er in Vechta in der niedersächsischen Provinz geboren. Vorzeitig verließ er das Gymnasium und begann eine Buchhändlerlehre in Essen. 1962 zog Brinkmann nach Köln, wo er ein Studium an der Pädagogischen Hochschule aufnahm. Mitte der 1960er Jahre, inzwischen freier Mitarbeiter beim WDR, begann er eine rege Reisetätigkeit, die ihn unter anderem mehrfach nach London führte. Anfang der 1970er Jahre war Brinkmann Stipendiat der Villa Massimo / Rom und Gastlektor in Austin / Texas. Am 23. April 1975 starb er bei einem Verkehrsunfall in London. Postum wurde er für seinen Gedichtband Westwärts 1 & 2 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet. Seine Veröffentlichungen zu Lebzeiten waren nicht sehr zahlreich: einige schmale Gedicht- und Prosabände. Mit seinem Roman Keiner weiß mehr (1968) konnte er den ersten großen literarischen Erfolg feiern. Daneben experimentierte Brinkmann auch mit multimedialen Arbeiten, die heute als Vorformen digitaler Schreibweisen gelten.

Markus Fauser, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Vechta, der  in Kürze im Metzler-Verlag ein Brinkmann-Handbuch herausgeben wird, begibt sich in Rolf Dieter Brinkmanns Fifties auf eine Spurensuche in der literarischen Provinz. Dabei hat er ausgedehnte Spaziergänge durch das Südoldenburger Land und in der Kleinstadt Vechta unternommen, auf denen er den Leser zu den Kindheits- und Jugendorten Brinkmanns führt.

Zunächst macht der Autor mit der Kriegs- und Nachkriegszeit in Vechta bekannt, über die Brinkmann später berichtete: „Es ist ja viel mehr kaputt gegangen als Häuser.“ Über seine Schulzeit gibt es recht unterschiedliche Ansichten. Während Brinkmann selbst von „Schreck-Stunden“ sprach, konnte sich sein Englischlehrer nicht an einen Mythos vom Schüler Brinkmann erinnern. In der schulischen Arbeitsgemeinschaft „Rhetorica Vechtensis“ für Literatur und Theater war Brinkmann Mitglied und übernahm in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür sogar die Hauptrolle. Während der Gymnasialzeit las er außerdem viel (unter anderem Jean-Paul Sartre, Albert Camus) und beschäftigte sich intensiv mit dem Existentialismus.

Brinkmann hat in seiner Jugendzeit selbst zahlreiche Spaziergänge durch Vechta unternommen und seine präzisen Beobachtungen niedergeschrieben, die immer wieder zitiert werden. Über Brinkmanns erste Jugendliebe (Gisela Reinholz) hat Fauser ebenfalls ausführlich recherchiert. Der 16-jährigen Schülerin aus Berlin widmete der blutjunge Autor zahlreiche Briefgedichte. Nachdem Gisela Vechta verlassen hatte, war es Elisabeth Piefke, zu der sich Brinkmann hingezogen fühlte. Zum Schluss setzt sich Fauser mit Brinkmanns Verhältnis zu Vechta und seiner Umgebung auseinander. War er der Nestbeschmutzer, der nichts anderes als üble Nachrede über seine Heimat zu bieten hatte? Andererseits schätzte er die norddeutsche Landschaft als Ruhepunkt, als Ort der Stille und der Selbstbesinnung. Die Erlebnisse der Kindheit und Jugend waren so später „Hilfsmittel zum Träumen“.

Die literarischen Spaziergänge durch den provinziellen Alltag von Vechta im ersten Nachkriegsjahrzehnt werden (mitunter vergleichend) durch zahlreiche historische und zeitgenössische Abbildungen komplettiert. Auch persönliche Fotos, Handschriften und Dokumente von Rolf Dieter Brinkmann bereichern den Text. Ein Buch, das nicht nur viel über den angehenden Schriftsteller, sondern auch über die 1950er Jahre in der Provinz verrät.

Titelbild

Markus Fauser: Rolf Dieter Brinkmanns Fifties. Unterwegs in der literarischen Provinz.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
116 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812805

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