Stahlharte Agentin, die nie blau macht
Honda Tetsuyas Kommissarin Himekawa auf ihrer zweiten Mörderjagd
Von Wolfgang Herbert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Buch beginnt mit einem langen, allerdings unvollständigen Personalregister. Das ist für den mit japanischen Namen weniger vertrauten Leser nützlich – und nicht nur für diesen. Die schiere Zahl der auftretenden Handelnden und der komplexe Plot lassen einen bei Bedarf auf diese Orientierungshilfe zurückgreifen. Sie fehlt in der japanischen Originalausgabe. Dort findet sich hingegen im Anhang eine Liste von Fachbüchern, die der Autor beim Schreiben des Romans zu Rate gezogen hat. Sie wurde nicht in die deutsche Ausgabe übernommen. Ihre Titel beziehen sich auf: Versicherungsbetrug, DNA-Analyseverfahren, Ermittlungsmethoden, forensische Medizin, Dokumentation von Kriminalfällen, polizeiliche Interna und Organisation. All dies spielt im Krimi eine Rolle und zeugt von den Recherchen des Autors, dessen Schilderungen zu respektiven Themen von viel Detailwissen zeugen und seiner Story Realitätsgehalt verleihen.
Die Zentralfigur ist Reiko Himekawa. Auf dem Cover der deutschen Edition wird sie so vorgestellt: „Sie ist cool. Sie ist tough. Sie ist die beste Mordermittlerin in Tokio.“ So wird sie auch vom Text vermittelt. Sie ist so arbeitsversessen, dass sie offenbar kein Liebesleben hat. In diesem Buch ist mehr von Crime die Rede als von Sex. Frauenfeindliche Anspielungen pariert Himekawa souverän, überhaupt setzt sie sich bravourös in der sie umgebenden Männerwelt durch. Ein Techtelmechtel oder gar Liebe blitzen nur andeutungsweise auf wie ein fernes Wetterleuchten. Momentan scheint derartiges für die Kommissarin unerreichbar oder nicht einlösbar zu sein. Himekawa führt innere Monologe, die per Schrägschrift kenntlich gemacht sind. Dies verlebendigt ihre Persönlichkeit, wirkt zuweilen aber nervig. Aus diesen Selbstgesprächen – mancherorts Verfluchungen – erfahren wir einiges über Himekawas Vorlieben und Abneigungen – diese sind klar ausgeprägt und kommen leitmotivisch immer wieder hoch. Wohl weil es ihr als Hauptfigur zufällt, ist sie die einzige, deren Innen- und Gedankenleben sicht- und nachvollziehbar gemacht wird.
Sitzungen des Kommissariats werden in flotter dialogischer Form festgehalten. Die Diktion – mancherorts Dialekt – ist eindeutig der Region Tokyo zuzuordnen. Zuweilen vulgäre Äußerungen („Scheiße, Arsch, ficken …“) werden zurecht auch auf Deutsch so wiedergegeben. Überhaupt ist die Übersetzung, die ja aus dem Englischen erfolgte, erstaunlich nah am Original. Nur manchmal gibt es Freiheiten, die wohl um der Verständlichkeit willen in Anspruch genommen wurden. Mehrfach ist von „buchstabieren“ die Rede, wo es im Original um die Schreibweise mit den korrekten Schriftzeichen geht. Ein Dialog, in dem Fachausdrücke (alte Maßeinheiten) der Zimmerleute zu Missverständnissen und folgenden Klärungen führen, wurde einfach auf die Zahlwerte reduziert. Auch findet sich hier eine unmotivierte Auslassung, die eigentlich eine wichtige Information transportierte: Ein kurzes Gespräch über den Baufirmenchef, den so gut wie niemand kenne oder zu Gesicht bekomme, wird einfach weggelassen. Das Gegenteil kommt auch vor: Zusätze, um Dialoge zu pimpen, wie ein eingefügtes „O Scheiße“, das im Original an diesem Ort weit und breit nicht zu finden ist. Ganze Sätze werden schamlos ergänzt, wie „Wisst ihr auch warum? Wiel ich alles ficke, was bei drei nicht auf’m Baum ist.” Kein Wort davon in der japanischen Ausgabe. Zuweilen ist das englische Idiom, das in der Primärübersetzung gewählt wurde, unüberhörbar, wie zum Beispiel bei „weil er ihn mit den Fingern in der Keksdose erwischt habe.“ Im Original heißt es schlicht, er habe sich am Geld der Firma vergriffen.
Zur Übersetzung ist noch zu vermerken, dass die Tonart für Ohren aus dem süddeutschen Sprachraum sehr preußisch klingt: „Jetzt mach aber mal halblang … jetzt haltet endlich den Rand … Klappe, Mann … gurken Sie nicht herum … Sie verkohlen mich doch … Fatzke … Mach dich vom Acker … Matschbirne … die Biege machen … Tussi … den Ball flach halten.“ Die Beispiele deuten auch das Sprachniveau und die Tonlage an. Der norddeutsche Zungenschlag darf als angemessen gelten, wenn man in bedenkt, dass Tokyo als Metropole der Schauplatz ist und in Betracht zieht, dass die Sprache in Kantô (Ostjapan) als Standardjapanisch gilt. Nichts von alledem stört den Lesefluss. Das Buch hat allerdings das Niveau eines Drehbuches für ein B-Movie; dass das Ding dennoch oder gerade deswegen gut gedreht und rasant geschrieben ist, bleibt außer Zweifel.
Die Ermittlung wird durch eine abgetrennte Hand gefoppt, die, wie sich nach DNA-Analyse herausstellt, nicht zur aufgefundenen Leiche passt. Sie ist das Ergebnis einer grausigen Identitätsvertuschung. Die Selbstamputation per Motorsäge wird in Ich-Form aus der Sicht des Akteuers geschildert, in einer Weise, dass einem schlecht werden könnte. Eine Prise Horror ist damit auch eingestreut.
Dass ausgerechnet die erwachsenen Kinder zweier unter mysteriösen, aber gleichgelagerten Umständen zu Tode gekommene, einander unbekannte Mordopfer in eine Liebesaffäre geraten, kann einer schicksalhaften Fügung zugeschrieben werden, wirkt aber ein wenig konstruiert. Bei den zwei Todesfällen handelt es sich um als Selbstmorde inszenierte fatale Stürze von einem Baugerüst. Dahinter stecken erwartungsgemäß dunkle Machenschaften der Unterwelt. Es geht wie immer um viel Geld und letal eingefädelten Lebensversicherungsbetrug. Darum dreht sich die Geschichte. Dutzende von Polizeibeamten in mehreren Teams, deren einem die Heldin Himekawa vorsteht, sind den Hintermännern auf den Fersen. Diese bleiben ziemlich im Schatten und agieren als konturlose Schemen. Nur einer der Handlanger wird in den Vordergrund gerückt und bekommt das Profil eines etwas linkischen Gelegenheitsgauners und eines sexuellen Schwerenöters, Kind einer illegitimen Inzestbeziehung und selbst Halbschwestervergewaltiger. Wo er auftaucht, ist dann doch Sex im Spiel, aber eher von der ungustiösen Art. Diese miese Figur ist für die Tarnfirmen der Yakuza und für ihre Schmutzarbeit zuständig. Ein skrupelloser Halbweltler, dem seine Perfidie schließlich zum Verhängnis wird. Er wird Opfer eines bizarren Mordes und einer Leichenzerstückelung, die so hautnah geschildert wird, dass Brechreiz hochkommen könnte. Sie dient auch der weiteren Verkomplizierung bei der Vortäuschung falscher Identitäten.
Der Roman lebt von den vielen in Gesprächsform gekleideten Passagen, in denen schnelle, schlagfertige, witzige, zuweilen bissige Wortwechsel auf den Leser niederprasseln. Kapitelweise geschehen Perspektivenwechsel vom auktorialen Erzähler zu Binnenperspektiven in Ich-Form bei wechselnden Akteuren. Es ist etwas mühsam, sich da hinein- und herauszufinden, aus wessen Sicht die Geschichte gerade weitergesponnen wird. Das ist spannungsreich und irritierend zugleich. Es verleiht der Erzählung hingegen eine Multiperspektivität, dank derer der Leser immer mehr weiß als die Protagonisten. Dies ist eine beliebte, vom filmischen Erzählen entlehnte Strategie, Spannung aufzubauen und aus sicherer Distanz beobachten zu können, wie sich die dunklen Wolken zu einem Sturm zusammenbrauen. Ab Buchmitte erhöht sich das Tempo, gegen Schluss gibt es mehrfache Twists und überraschende Wendungen, wie sie aus Hollywood-Actionstreifen bekannt sind.
Himekawa versieht im Kommissariat des Stadtviertels Kamata ihren Dienst. Dieses ist geprägt von vielen lauten Pachinkohallen (Spielhallen mit Flipperautomaten japanischer Art), Stundenhotels, billigen Ess- und Trinklokalen und erschwinglichen Businesshotels. Die logistische Nähe zum Flughafen Haneda macht es auch bei Touristen beliebt. Kamata liegt im Bezirk Ôta. Den charakterisiert wiederum eine fast ländlich rurale Szenerie. Es gibt kaum Wolkenkratzer voller Firmenbüros, es ist eine Schlafstadt. Der Fluss Tama, der sich durch den Bezirk wälzt, ist wegen Überschwemmungsneigung mit breiten Uferbänken versehen, die Jugendliche zum Fuß- oder Baseballspiel einladen. Jogger bevorzugen die Dämme und riesigen Grünflachen. Und da können auch die im Buch erscheinenden Obdachlosen ihre Hütten und Unterschlüpfe errrichten. Das sind landschaftliche Atmosphären, die dem Tokioter beim Nennen des Namens der Gegend sofort gedanklich vor Augen treten, auf deren explizite Beschreibung aber im Buch verzichtet wird: Hinweise auf die geografischen Eigenheiten der Schauplätze hätten per Erläuterung durch die Übersetzerin etwa via Fuß- oder Endnote die Vorstellungsbildschärfe entschieden erhöht. Insgesamt tritt das Lokalkolorit jedoch hinter die schmissige Plotentwicklung zurück, so weit sogar, dass sich das Geschehen wohl in jeder anderen Megacity abspulen hätte können.
Viele für Japan spezifische Ausdrücke bleiben denn auch unübersetzt, man muss sie sich aus dem Kontext oder nachfolgenden Umschreibungen selber erschließen. Das gilt selbst für Keishi-chô, das lange Strecken fälschlich als Keichi-cho (auf Längungszeichen über Vokalen wird durchgängig verzichtet) wiedergegeben wird. Wir erfahren freilich, dass Himekawa Leiterin eines Teams der Mordkommission ist, dass es sich beim Keishi-cho um das Polizeipräsidium der Hauptstadt handelt, hätte eine Erwähnung verdient, zumal es im Buch laufend nur unter der japanischen Bezeichnung figuriert. Auch andere Termini bleiben unerläutert oder es wird davon ausgegangen, dass sie bekannt sind, zumal unter Lesern, die einen in Japan spielenden Krimi lesen und damit schon lokale Kenntnisse mitbringen: Dobinmushi (ein gedünstetes Gericht, das seinen Namen seinem Geschirr verdankt), Udon-Nudeln erklärt noch nicht, welche Nudeln (dick und aus Weizenmehl) gemeint sind, Okonomiyaki sind zwar „Fladen“, die hingegen in vielfältiger Form erhältlich sind, „Hambagu“ ist die japanische Umschreibung für Hamburger (siehe unten zu: Katakana). „Kombini“ sind „convenience stores“, also 24-Stunden-Gemischtwarenläden, bei „Ito-en-Grüntee“ und „Pokka-Kaffee“ wird für die jeweiligen Marken Werbung betrieben, „Dojo“ ist ein Schulungsort für (Kampf)Künste, Mitsuba-Blätter sind eine Art Sellerie und eine Daruma-Figur kennt jedes Kind in Japan, der durchschnittliche deutsche Leser hingegen eher nicht (es handelt sich um eine meist aus Holz in Stehaufmännchenmanier geschnitzte, rundliche Figur des Bodhidharma, des ersten Zen-Patriarchen in China. Da Bodhidharma aus Indien stammt, wird er ikonographisch immer mit dicht-wildem Bart und buschigen Augenbrauen dargestellt, um seine „Fremdheit“ zu betonen. Er trägt einen purpurroten kuttenartigen Überwurf).
Über die Schreibweise des Café „Lichere“ gerät der Kenner der japanischen Sprache ins Stolpern. Umschreibungen nicht-japanischer Wörter mit der dafür vorgesehenen Silbenschrift (Katakana) sind immer ein Drama und führen nicht selten zu linguistischen Verkehrsunglücken. Es sollte bei Transkription nach dem Original „Rishêru“ heißen, womöglich eine japanisierte Form des Namens „Richelle“.
Andernorts werden Erklärungen geliefert, die weder sachdienlich noch nötig sind: so heißt es, Gerüstebauer seien das, „was Insider als ‚Winddrachen‘ bezeichnen.“ Weder Insider noch „Winddrache“ steht im japanischen Text, lediglich: tobi, was Gerüstebauer bedeutet, aber auch “schwarzer Milan”. Vielleicht hat diese Doppeldeutigkeit zur obigen spekulativen Zusatzbeschreibung geführt. Sonstige übersetzungstechnische oder transkriptorische Faux pas mögen wegen ihres minimalen Störfaktors unerwähnt bleiben.
Um noch einmal auf den Einstieg zu rekurrieren: eine Reduktion des auftretenden Personals hätte dem Roman gutgetan. Es wird einem vor lauter Leuten geradezu schwindlig wie in einer U-Bahnstation in Tokyo. Die wichtigen Figuren werden knapp charakterisiert, ihr Äußeres wird prägnant beschrieben, es fehlt ihnen jedoch psychologische Tiefenschärfe. Die Schilderungen aus der Ich-Perspektive einzelner Akteure erzeugen den Effekt von Aufnahmen mit verschiedenen Kameras aus diversen Einstellungswinkeln. Sie können einem ziemlich nahegehen. Die Erzählung aus Kinderaugen des zum Frühwaisen gewordenen Buben eines der Mordopfer ist herzergreifend und geht an die Schmerzgrenze. Die beschriebenen Verwicklungen und Verstrickungen wirken wie am Reisbrett entworfen oder auf einer Pinwand für die Rekonstruktion eines Tatvorganges nachgezeichnet. Das gilt besonders bei den recht unwahrscheinlichen Begegnungen der in die Handlung involvierten Figuren. Dass sich Gerüstebauer gleich mehrfach zwecks Versicherungsbetrug von ihrem Arbeitsplatz in den Tod stürzen, wirkt wenig glaubhaft. Die Fälle werden schlußendlich aufgeklärt, aber ihre Zusammenhänge und Implikationen müssen von weit her geholt werden und wirken überspannt. Man merkt dem Roman an, dass er handlungsortientiert ersonnen und geschrieben wurde. Das hingegen ist gut gelungen. Wer einen packenden Thriller mit exotischem Flair und einer sympathischen Hauptfigur lesen möchte, wird solide bedient. Gute Unterhaltung, geeignet als Reiselektüre ohne allzu viel geistreich sein wollendes philosophisch-psychologisches Zusatzgepäck. Ein Softgetränk – leicht, prickelnd und schmackhaft.
|
||