Wucht und Scharfsinn der Gegenwart

Terézia Mora erhält den diesjährigen Georg-Büchner-Preis

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Die enorme quantitative Dichte literarischer Neuerscheinungen lässt jedes Jahr aufs Neue die Frage zu, wie vergleich- und möglicherweise austauschbar, wie – positiv gewendet – eigenständig die jeweiligen Ästhetiken sind. In der Fülle all jener Texte, die die Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts zu beschreiben suchen, ist es dabei oftmals doch möglich, Vergleichbares zu sehen. Die Bildung von (ökonomisch motivierten) Trends ist der Literatur dabei genauso wenig fern wie dem Smartphone-Markt. Und weil die hohe Anzahl literarischer Texte nicht zwangsläufig mit hoher ästhetischer Qualität einhergeht, gestaltet sich die Suche nach Einzigartigkeit enorm schwierig. Auch wenn Expertenkulturen in Zeiten eines um sich greifenden Rechtspopulismus nicht den allerbesten Ruf haben, sind Institutionen wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung als Instanzen literarischer „Qualitätssicherung“ von besonderer Bedeutung.

Mit dem hochdotierten Georg-Büchner-Preis ehrt die Akademie 2018 die 1971 im ungarischen Sopron geborene und zweisprachig aufgewachsene Terézia Mora. Die Eigenständigkeit ihrer Stimme, die mit ihrem Erzählungsband Seltsame Materie (1999) ihren Ausgang nimmt, ist in besonderer Weise mit ihrem komplexen Romanwerk verknüpft: Ihr Romandebüt Alle Tage (2004) wird als Modell einer labyrinthischen Großstadtgegenwart zugänglich und bleibt aus den Augen der displaced person Abel Nema paradoxerweise fortwährend unzugänglich. Fremdheit und Nicht-Ankommen in der Metropole sowie die Abhängigkeit von der Vielzahl permanent wechselnder Bezugspersonen spiegelt Mora über ein verwirrendes formales Spiel mit diversen Figurenperspektiven. Nemas Lebensgeschichte erweist sich als episodisches Lehrstück über die Fallstricke, Höllenfahrten und Identitätsfriktionen einer spätmodernen Migrationsbiografie. Die existenzielle Thematik dieses um Zugehörigkeit ringenden Heimatlosen staffiert Mora keinesfalls über den moralisch hohen Ton der Belehrung aus; der Erzähler ist wie Abel fast ungreifbar zwischen Ironie, Analyse und Drastik verortet. Auch mit ihrem als Trilogie gedachten Romanwerk über das ungleich scheinende Paar des IT-Spezialisten Darius Kopp und der Übersetzerin Flora Meier (Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009) und Das Ungeheuer (2013)) richtet Mora das Augenmerk auf die Brüche der Gegenwart. Das von der Akademie honorierte „Ausloten der Abgründe innerer und äußerer Fremdheit“ meint nun deutlich stärker das Beziehungsverhältnis, den Verlust beruflicher Anerkennung und das „Ungeheuer“ der Depression: Globale Konkurrenz und ökonomische Krisen lassen Dariusʼ und Floras wirtschaftliche, später auch beziehungsbezogene Lebenssituation prekär werden und führen letztlich zum Selbstmord Floras, die der Komplexität des großstädtischen Lebens nichts mehr entgegensetzen kann. Ähnlich wie in ihrem Erstling Alle Tage illustriert die bewusst gewählte literarische Form der graphischen Textgrenze im Ungeheuer die Komplexität der erlebten Grenzerfahrung: Der in ein Oben (Darius Leben nach Floras Tod) und Unten (Floras Tagebuchaufzeichnungen) getrennte Text reflektiert auch formal die aufbrechenden Widersprüche der Figuren in ihren jeweiligen Krisensituationen.

Literatur ist keinesfalls nur reine Bestätigung und nüchterne „Abschilderung“ des Realen, ihr Potenzial liegt im Wesentlichen in der formal eigenständigen Bearbeitung eines Gegenstandes, der einen komplexen Bezug zur Lebenswirklichkeit hat. Literatur wird damit auch zu einer selbstständigen Stimme in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten, wirft eigene Fragen auf, füllt Wissenslücken und lässt Verdrängtes, Ungesagtes oder Kritisches sichtbar werden. Genau in diesem Sinne wird Terézia Moras Ästhetik zum eigenständigen Seismographen der Gegenwart: Sie stellt sich der lebenswirklichen Komplexität und Abgründigkeit auf inhaltlich und formal diffizile Weise und entwickelt Deutungsperspektiven auf Konflikte der Gesellschaft, von Identitätsfragen der Migration bis zur Bedeutung der Depression als pathologischer Hinweis auf spätmoderne Identitätsprojekte. Auch weil sie Sprache und literarischer Form wieder zu einer eigenen Wertigkeit und argumentativen Kraft innerhalb des Textes verhilft, ist die Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis folgerichtig und notwendig.