Ein „Meister der Erzählung“ und ein „Dichter für Schwindelfreie“

Michael Scheffel legt eine glänzende Einführung zu Arthur Schnitzlers erzählerischem Werk vor – und arbeitet an Korrekturen zum Bild des Autors

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den großen Autoren der Klassischen Moderne ist Arthur Schnitzler (1862–1931) ganz sicher einer der unterhaltsamsten, ohne dabei trivial zu sein. Sei es durch die Erprobung neuartiger Erzählverfahren, durch eine auffallende Nähe (bei steter Distanzierung im Detail) zur Psychoanalyse und der damit einhergehenden  Thematisierung sexueller Phantasien und seelischer Abgründe, sei es durch eine Offenlegung der Bigotterie der Gesellschaft: Nur wenige Autoren zeigten eine solche Radikalität in der Erkundung der menschlichen Psyche, nur wenige gingen so offensiv mit dem Themenfeld der Sexualität um. Nicht zuletzt deshalb hat sich Schnitzler selbst als einen „Dichter für Schwindelfreie“ bezeichnet. Obwohl seine Prosa, zumindest in seinen bekanntesten Texten, meist die Welt der untergehenden k.u.k-Monarchie unter die Lupe nimmt, ist sie erstaunlich gut gealtert. Zwar dürfen Schnitzlers Texte als Dokumente für eine „Welt von gestern“ gelten, sie sind aber noch immer von großer Modernität.

In der jüngeren Vergangenheit hat sich auf dem Feld der Schnitzler-Forschung einiges getan: An guten und prägnanten Überblicksdarstellungen ist glücklicherweise kein Mangel, das Schnitzler-Handbuch ist dabei, sich als ein hervorragendes Kompendium zu etablieren. Einer der Herausgeber dieses Handbuches, Michael Scheffel, hat zudem eine schlanke, aber gewichtige Einführung zu Schnitzlers Erzählungen und Romanen vorgelegt.

Im Vorwort gibt Scheffel Auskunft über den Anspruch seines Buches. Im Unterschied zu anderen einführenden Forschungsbeiträgen werde nicht Schnitzlers Gesamtwerk vorgestellt, das unter anderem Aphorismen, autobiografische und medizinische Schiften, Gedichte und selbstverständlich zahlreiche, teilweise ausnehmend berühmte Dramen umfasst. Stattdessen stehe „eine sowohl die Breite seiner Themen als auch die Entwicklung des Autors dokumentierende Auswahl seiner Erzählwerke“ im Vordergrund. Durch die Fokussierung auf Erzählungen und Romane soll nicht zuletzt die „programmatische Vielfalt an narrativen Darstellungsformen“ besonders hervorgehoben werden.

Da Scheffel nicht nur Schnitzler-Experte, sondern auch auf dem Feld der Narratologie eine Kapazität ersten Ranges ist (seine gemeinsam mit Matias Martínez verfasste Einführung in die Erzähltheorie hat sich längst zum einschlägigen Referenzwerk entwickelt), ist diese Absicht nicht nur naheliegend, sie wird auch makellos umgesetzt. Die vorgestellten Schnitzler-Texte werden in ihren Entstehungskontext eingebettet, mit anderen Texten des Autors verglichen, anregend interpretiert und dabei stets mit dem Instrumentarium der modernen Narratologie analysiert.

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst werden Schnitzlers Herkunft sowie der Epochenkontext der Wiener Moderne vorgestellt, bevor dann das Frühwerk anhand exemplarischer Texte diskutiert wird. Schon hier fällt auf, dass Scheffel keineswegs nur die gängigen Erkenntnisse aufbereitet und die üblichen Verdächtigen präsentiert. Dass die Novelle Sterben unverzichtbar ist, duldet keinen Zweifel, Die kleine Komödie ist zwar repräsentativ für zahlreiche Topoi des Fin de Siècle, einem breiteren Publikum aber schon deutlich weniger bekannt; dass aber gerade Reichtum als erster Erzähltext Schnitzlers analysiert wird, ist bemerkenswert. Diese von der Forschung aus unerfindlichen Gründen kaum beachtete frühe Erzählung nun in eine engere Auswahl von besonders bedeutsamen Texten aufzunehmen, wird nicht nur dem literarischen Rang des Textes gerecht, es zeigt auch, dass es Scheffel um eine Neukonturierung (wenn auch sicherlich nicht um eine radikale Neudeutung) des Schnitzler-Bildes zu tun ist. Ohne die unverzichtbaren Klassiker zu vernachlässigen, widmet sich Scheffel auch solchen Erzähltexten, die zwar allgemein weit weniger präsent sind, aber Facetten des Autors erkennen lassen, die zu entdecken sich lohnt.

In diesem Sinne widmet sich das dritte Kapitel, das die sogenannte „mittlere Schaffensphase“ umfasst, neben den Klassikern Lieutnant Gustl, Frau Bertha Garlan und Casanovas Heimfahrt auch den Erzählungen Der blinde Geronimo und sein Bruder und Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg. Das vierte Kapitel wartet mit den drei großen späten Erzählungen Fräulein Else, Traumnovelle und Spiel im Morgengrauen, aber auch mit den posthum erschienenen Ich und Der Sekundant auf. Im abschließenden fünften Kapitel stellt Scheffel in bemerkenswerter Ausführlichkeit Schnitzlers traditionell eher geringgeschätzte Romane Der Weg ins Freie und Therese vor, die er nachdrücklich aufwertet. Damit tritt er zugleich dem literarhistorisch gut abgehangenen Bonmot entgegen, Schnitzler sei nur ein „Spezialist der kleinen Form“. Auch mit manch anderem Klischee wird aufgeräumt; Scheffel zeigt Schnitzler als vielseitigen und bei Weitem nicht nur zeitgebundenen Autor.

Sicher: Man könnte einwenden, dass es bei der Aufmerksamkeit, die Scheffel weniger beachteten Texten zukommen lässt, bedauerlich ist, dass manch famose Novelle wie etwa Frau Beate und ihr Sohn oder Doktor Gräsler, Badearzt nicht auch zu ihrem Recht kommt. Aber es spricht zum einen für die Qualität des Buches, dass man es sich umfangreicher wünscht; zum anderen kann eine Einführung selbstverständlich nicht auf Vollständigkeit bedacht sein. Zudem ist es allemal spannender, neue Akzente zu setzen, als den Schnitzler-Kanon schlicht zu reproduzieren – wobei Scheffel, das sei nicht unterschlagen, es auch bei den prominentesten Texten nicht unterlässt, neue beziehungsweise eigene Deutungsansätze einzubringen; seine Einführung versteht sich mithin keineswegs als bloße Bündelung von allgemeinen bekannten Erkenntnissen.

Von seinem bewunderten Dichterkollegen Hugo von Hofmannsthal wurde Schnitzler als einer der größten „Meister der Erzählung“ seiner Epoche gerühmt – und ohne damit das nicht weniger interessante dramatische Werk dieses Autos abwerten zu wollen, kommt man nicht umhin, Hofmannsthal zuzustimmen. Wer sich mit dem erzählerischen Werk dieses Meisters auseinandersetzen möchte, sollte als Begleitlektüre zu Scheffels Buch greifen.

Titelbild

Michael Scheffel: Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane.
Klassiker Lektüren Bd. 14.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
200 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155859

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