Zankende Katzen unter dem Mondlicht

Mit ,,Die Katzen“ erscheint die erste Erzählung aus dem 2006 aufgetauchten und bisher auf dem deutschen Buchmarkt unveröffentlichten Nachlass Julio Cortázars

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Dezember 2006 öffnete die Witwe und gesetzliche Erbin Julio Cortázars, Aurora Bernárdez, vor dem Cortázar-Spezialisten und -Herausgeber Carles Álvarez Garriga in ihrem Pariser Domizil eine Kommode und holte eine Kiste heraus. Sie hätte da etwas, das ihm gefallen könne, so Bernández laut Álvarez Garriga. Dass diese implizite Frage, nämlich ob ihm das, was sich gleich vor ihm auftun werde, gefalle, rhetorisch gemeint war, liegt auf der Hand; handelte es sich doch um bisher unveröffentlichte Manuskripte und Textversatzstücke, die die Witwe von Cortázar auf eben jenem Tisch ausbreitete, an dem der Autor Rayuela geschrieben hatte. Und es waren nicht wenige Schriftstücke: Die Kiste enthielt eine ganze Sammlung von vorherigen Versionen bereits publizierter Texte (wie von Geschichten der Cronopien und Famen), Kapitel, die nicht den Weg in die publizierte Version des jeweiligen Textes gefunden hatten (wie Versatzstücke von Ein gewisser Lukas und Kapitel aus Album für Manuel), gänzlich unbekannte Erzählungen, Prologe, Gedichte, Kritiken, journalistische Texte, Reiseberichte, Reflexionen bis hin zu Selbstinterviews, von der bisher weder die Presse noch die Literaturwissenschaftler wussten. Eine Auswahl aus diesem unverhofften Fundus fand im Jahr 2009  25 Jahre nach dem Tod des Autors, in Form der von Álvarez Garriga und Bernárdez publizierten Papeles inesperados, die unerwarteten Papiere, die im Alfaguara-Verlag erschienen sind  dann den Weg zu den Lesern.

Nun ist der erste Text dieses Fundes auf dem deutschen Buchmarkt erschienen: die Erzählung Die Katzen in einer zweisprachigen Ausgabe im Lilienfeld-Verlag. Das Besondere der Entstehungsbedingungen dieser Ausgabe ist jedoch nicht nur, dass der Text aus jener oben erwähnten Kiste mit bisher unveröffentlichten Texten des argentinischen Autors stammt, sondern auch, dass die Übersetzung der Kurzgeschichte aus einem Mentoring-Projekt erwachsen ist. Mit einem Auszug aus Die Katzen nahm Henriette Terpe 2015 an einem Stilseminar für Übersetzer teil, woraus die Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Herausgeber und Übersetzer Frank Henseleit an diesem Text entstand, dessen Endergebnis uns nun mit dieser Ausgabe – dem 11. Band der Schriftenreihe der Kunststiftung NRW – vorliegt.

Die Entstehung von Die Katzen lässt sich auf das Jahr 1948 datieren und kann daher, aber auch aufgrund des zentralen Motivs der Inzest, das als ein wiederkehrendes in Bestiarium (1951) ausgemacht werden kann, als eine Art Vorläufer dieses Erzählbandes gelesen werden. In Die Katzen wird das aufkeimende Begehren zwischen Marta und Carlos María, Cousine und Cousin, die zusammen in Buenos Aires aufwachsen, zum Motor der Erzählung, der den Text vorantreibt und ihm Momente der Ungewissheit und der Irritation einschreibt. So wie sich Cortázars Leserinnen und Leser bei keinem seiner Texte völlig sicher sein können, wie das Erzählte letztlich zu deuten sei, da die Realitätsgesetze, die innerhalb der durch die Fiktion aufgespannte Wirklichkeit gelten, nur allzu häufig ins Wanken gebracht werden, so verhält es sich auch bei dieser Kurzgeschichte. Denn handelt es sich bei den Heranwachsenden, die „wie zankende Katzen“ durch eine Sehnsucht, ein Verlangen, aber auch durch Eifersucht und Distanz miteinander verbunden sind, wirklich um Cousine und Cousin, oder sind sie doch Geschwister und ist somit ihr Begehren ein unanständiges und von Verboten belegtes?

Zu Beginn der Erzählung scheinen die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Marta und Carlos María klar ausgelotet zu sein: Er ist der Sohn des Ehepaares, in dessen Haus beide gemeinsam aufwachsen, und Marta die Tochter der jüngeren, bereits verstorbenen Schwester von Mama Hilaire. Doch ein Brief, den Carlos María eines Tages in dem Arbeitszimmer seines Vaters findet, bringt diese Gewissheit zum Kippen, denn so wie Carlos María das Gelesene interpretiert, sind Marta und er nicht Cousin und Cousine, sondern durch geschwisterliche Bande miteinander verbunden, was dazu führt, dass sein empfundenes Begehren und die gefühlte Eifersucht gegenüber Annäherungsversuchen anderer Männer hin zu Marta plötzlich von Verboten und Schuldgefühlen durchdrungen sind.

„Sie war seine Schwester, und er war verliebt, glühte vor Eifersucht und war vor allem blind vor Wut, was Rolando anbetraf, der sich unerwartet und wie ein Halbgott […] an die Spitze des Rennens setzte. Rolando konnte nun als Erster zu Marta vordringen, er war im Recht, auch wenn er sie weniger liebte und sie weniger verdiente, und nur er durfte sie als Einziger für sich gewinnen, denn er war nicht ihr Bruder.“

Doch als er im späteren Verlauf der Geschichte seinen Vater aufgebracht mit dessen Schweigen über die tatsächlichen Eltern Martas konfrontiert, verkehrt sich seine „gefundene Wahrheit“ erneut in eine andere; nach Don Elías ist Marta nämlich die Tochter seines verstorbenen Bruders und somit doch seine Cousine und nicht seine Schwester. Aber wirklich sicher, ob Martas und Carlos Marías Begehren erlaubt oder doch aufgrund eines geschwisterlichen Verhältnisses tabuisiert ist, können sich am Ende der Geschichte weder der Erzähler noch der Leser von Die Katzen sein, und so bleibt der Text bis zum letzten Satzzeichen von einem Moment der Unsicherheit und der Irritation durchzogen. Doch nicht nur hinsichtlich des familiären Verhältnisses der beiden Protagonisten zieht sich ein Riss durch jegliche Versuche sowohl des Erzählers als auch des Lesers, Gewissheit zu erlangen, denn auch die Frage, ob sich Marta und Carlos María wirklich begehren, oder ob ihr Begehren eigentlich nur durch das über ihre Beziehung gelegte Distanzverhältnis erzeugt wird, bleibt letztlich ungewiss. Was wird geschehen, wenn sich das Begehren erfüllt? Was geschieht, wenn es wirklich zum inzestuösen Spiel kommt? Bleibt das Begehren trotzdem bestehen, oder verliert es sich gerade aufgrund seiner Erfüllung?

Dem Biographen Miguel Dalmau, dessen polemische Cortázar-Biographie 2015 unter dem Titel Julio Cortázar. El cronopio fugitivo veröffentlicht wurde, dürfte diese Erzählung gefallen haben; fügt sie sich doch nur allzu gut in seine These ein, dass Cortázar in seiner literarischen Fiktion seine inzestuösen Phantasien gegenüber seiner Schwester Orfelia verarbeitet habe. Dalmau geht in seiner psychoanalytischen Lesart der Biographie Cortázars im Übrigen sogar soweit, wie es in einem Artikel in der Tageszeitung El Pais mit dem Titel Cortázar, el pingüino rosa de mamá zu lesen ist, dass Cortázar eigentlich nicht aufgrund seiner Opposition zum Perón-Regime aus Argentinien ausgewandert sei, sondern aufgrund seiner inzestuösen Gefühle seiner Schwester gegenüber.

Liest man die Erzählung vor dem Hintergrund von Cortàzars Gesamtwerk, so lässt sich sagen, dass dieser Text noch nicht die „kühne Verspieltheit, die originellen Experimente, die sein späteres Werk ausmachen“, enthält, wie die die Literaturkritikerin Katharina Döbler in ihrer Besprechung des Buches völlig richtig bemerkt. Aber um das literarische Schaffen Cortázars in seinem Werden nachvollziehen und verstehen zu können, und um einen der frühen Texte des Autors kennenzulernen, in dem dieser bereits die Risse in unseren Gewissheiten aufzeigt, ist der Fund dieser Erzählung in jedem Fall eine große Bereicherung und zeigt uns erneut, wie gekonnt Cortázar mit den unzähligen Möglichkeiten zu spielen versteht, die die Realität für jeden von uns bereithält.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Julio Cortázar: Die Katzen. Los gatos.
Herausgegeben von der Kunststiftung NRW.
Übersetzt aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Henriette Terpe und Frank Henseleit.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783940357700

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