Die Studentenrevolte von ‘68 in der Germanistik

Wissenschaftskritik und Studienreformen im Zeichen eines kulturrevolutionären Wandels

Von Bernd DammannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Dammann

In den 1960er und 1970er Jahren vollzog sich ein politisch-administrativ eingeleiteter und vorangetriebener Organisations-, Struktur- und Selbstverständniswandel des Schul- und Hochschulwesens in der alten Bundesrepublik Deutschland. In der einschlägigen Fachliteratur wird er rückblickend als „defensive Modernisierung“ gekennzeichnet und eingeordnet. Verbunden war dieser als tiefgreifend erlebte Wandel in der westdeutschen Universitätslandschaft mit Erschütterungen und Verwerfungen der theoretischen und gegenstandsbezogenen Grundüberzeugungen im Wissenschaftssystem der tradierten, bildungshumanistisch begründeten Geisteswissenschaften. Allerdings war deren gesellschaftlich und kulturell identitätsbildende Leitbildfunktion schon seit Ende des 19. Jahrhunderts zusehends ihrer sozial integrierenden Kraft verlustig gegangen.[1]

Dieser vor allem sozioökonomisch bedingte soziale Wandel im Bildungs- und Hochschulsystem der BRD war im westeuropäischen Vergleich dringend erforderlich geworden, um im Wettbewerb hochentwickelter Industriegesellschaften noch bestehen zu können. Dieses Unterfangen mobilisierte zugleich interessengeleitete Kräfte der Bewahrung und Verteidigung des Status quo vor allem im sozialen System der Geisteswissenschaften auf der einen Seite und solche der Befürwortung von grundlegenden Veränderungen durch die Politik, die Wirtschaft und die Medien auf der anderen Seite. Die zusehends heftiger werdende Auseinandersetzung, die sich aus dieser Konstellation antagonistisch aufeinander bezogener Kräfte entwickelte, spielte sich in den 1960er Jahren zunächst inneruniversitär, hauptsächlich in den Philosophischen Fakultäten, dem institutionellen Ort der Geisteswissenschaften, ab. Die zunehmende Heftigkeit dieser Auseinandersetzungen seit 1967 lässt Angehörige, Beteiligte und Betroffene im Rückblick auf die damit verbundenen Geschehnisse, Vorgänge und Zustände von „Kriegsschauplätzen“ in diesen Fakultäten sprechen.

1. Das kurze und das lange Jahr 1968

Was sich in den Philosophischen Fakultäten der westdeutschen Universitäten in unterschiedlicher Intensität, und zwar zuerst und vor allem im Fach Germanistik, in den späten 1960er Jahren abspielte, wird von der zeitgeschichtlichen Forschung inzwischen  als Bestandteil einer ‚Kulturrevolution‘ verstanden und eingeordnet. Das, was mit dem Kürzel „1968“ gemeint ist, beschreibt Auf- und Umbrüche, bei denen Student/innen jener Jahre vor allem in großen Universitätsstädten treibende Kräfte einer solchen als kulturrevolutionär eingestuften Bewegung im Hochschulbereich waren.

Revolutionäre Bewegungen und die von ihnen induzierten Veränderungen, also eine spezifische Erscheinungsform von unterschiedlichen Varianten sozialen Wandels, sind in der uns bekannten Menschheitsgeschichte noch nie als gemütliche Kaffeekränzchen in Erscheinung getreten. Da geht es vielmehr in verallgemeinerter Form um gezielte Regelbrüche, die qua Definition auch unter Anwendung von psychischer und physischer Gewalt vollzogen werden. Wer also in diesem Zusammenhang von „Revolution“ spricht, wird sich kaum über den gewaltsamen Zusammenstoß von Altem und Neuem, von etablierter und legaler Macht- und Gewaltausübung und der darauf gerichteten heftigen Gegenwehr wundern können. Revolutionäres Handeln zielt immer darauf ab, das privilegierte Interesse an der Wahrung und Verteidigung tradierter Besitzstände zu delegitimieren. Bis dahin geltende und anerkannte Umgangsformen des sozialen Zusammenlebens, die von etablierten Herrschaftsordnungen in hierarchischen Gefügen vorgegeben sind, sollen gebrochen und durch andere ersetzt werden, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen und dadurch dem Neuen inhaltlich zum Durchbruch zu verhelfen.

Dieses kulturrevolutionäre Geschehen, das analytisch mit ’68 verbunden wird, kann in zwei voneinander zu unterscheidenden Zeithorizonten in den Blick genommen werden, wie es die Zeitgeschichtsschreibung tut, indem sie dazu die Kategorien eines „kurzen 1968“ und eines „langen 1968“ verwendet.[2] Thomas Großbölting plädiert in seiner Studie in diesem Sinne für eine Betrachtungsweise der zwei Zeithorizonte, mit deren Hilfe sich der in diesen Jahren des „kurzen“ und des „langen 1968“ einhergehende Wandel resümieren lässt. (S. 137) Was er damit meint, führt er unter Bezugnahme auf den Stand der Forschung wie folgt aus:

Das „kurze 1968“ reicht „von der Ermordung Benno Ohnesorgs im Juni 1967 bis hin zur Verabschiedung der Notstandsgesetze im Sommer 1968.“ (S. 7)

„Im engeren Sinn startete ‚1968‘ mit den tödlichen Schüssen auf den Germanistikstudenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Diese Tat wirkte wie ein ‚Katalysator‘ für die Protestbewegung nicht nur in Berlin, sondern gleichsam in vielen anderen bundesrepublikanischen Städten.“ (S. 36)

„Schaut man auf die Vor- und Ausläufer des ‚langen 1968‘, dann sind Genese wie auch vor allem die Folgen vom Beginn der 1960er Jahre bis weit in die 1970er Jahre zu verfolgen.“ (S. 7)

Der zeitlich zweistufig umrissene Blick auf diesen kulturrevolutionären Wandel , den wir hier auf das Bildungswesen im Hochschulbereich richten, konzentriert sich seit Mitte der 1960er Jahre insbesondere auf den sog. Sociological und Linguistic Turn in den Geisteswissenschaften an den Universitäten in Westdeutschland. Der damit einhergehende, hochgradig konfliktträchtige Wandel wird hier exemplarisch für das besonders studierendenstarke Fach Germanistik stellvertretend für die Geisteswissenschaften insgesamt unter dem Sammelbegriff ‚Protestbewegung und Hochschulreform‘ (so schon der Titel eines 1969 zeitnah in der Reihe ‚edition suhrkamp‘ von Jürgen Habermas veröffentlichten Buches) analysiert und eingeordnet.

In der Studentenrevolte von 1968 wird nach dem Stand der einschlägigen Forschungen inzwischen eine „geistige Erneuerungsbewegung“ auch in den deutschen Universitäten gesehen, „die von jungen Intellektuellen“ jener Jahre ausging. Eingedenk ihrer Erscheinungs- und Äußerungsformen wie auch der Verbreitung und Intensität ihres inneruniversitären Auftretens wird ihr zudem der Charakter einer sozialen Protestbewegung zugesprochen.[3] Diese Doppelgesichtigkeit bildet die Grundlage dafür, den von ihr ausgelösten Folgewirkungen die Qualität einer ‚Kulturrevolution‘ zuzuschreiben.

Dieses Erklärungsmodell stellt allerdings keine originäre Erfindung der zeitgeschichtlichen Forschung zur rückblickenden Kennzeichnung und Einordnung dieser gesamtgesellschaftlich erklärungsbedürftigen Periode der Bundesrepublik Deutschland dar. Denn das Deutungskonzept von 1968 als ‚Kulturrevolution‘ wird nicht nur schon länger als wissenschaftliches Erklärungsmodell herangezogen, sondern es diente auch schon als Vehikel der ortsbestimmenden Selbstdeutung der darin unmittelbar involvierten Akteure wie auch der um zeitdiagnostische Analysen bemühten Soziologie jener Jahre.

Der Germanistikstudent Michael Pehlke verwendet beispielsweise in seinem Aufsatz über den „Aufstieg und Fall der Germanistik“ aus dem Jahr 1969 mehrfach die Kennzeichnungen „Kulturrevolution“ und „kulturrevolutionär“, um die Aktivitäten und Zielvorstellungen der revoltierenden Germanistikstudenten von ‘68 als gegen die bildungsbürgerlichen Vorstellungen von Bildung und Kultur gerichtete Bestrebungen zu kennzeichnen.[4]

Was also versteht die einschlägige Forschung darunter? Die Frage, „inwieweit ‚1968‘ als Kulturrevolution zu betrachten sei“, lässt sich bündig nur dadurch beantworten, „wenn deutlicher herausgearbeitet wird, was sich durch ‚1968‘ wie verändert hat.“[5].

Mögliche Antworten lauten darauf:

„Auch wenn die evolutionäre ‚Neujustierung‘ der westdeutschen Gesellschaft (wie auch, meist weniger scharf ausgeprägt, der westlichen Gesellschaften überhaupt) über einen längeren, etwa anderthalb Jahrzehnte umfassenden Zeitraum erfolgte, wurden die späten 60er Jahre von den Befürwortern des Neuen wie von den Widerstrebenden gleichermaßen als markerschütternder kultureller Umbruch erlebt. […] Die Radikalität und Ungeniertheit, mit denen sich die Achtundsechziger kulturell wie politisch artikulierten, ebenso wie die quantitative Ausbreitung der neuen Phänomene, vermittelten den Eindruck eines plötzlichen und wuchtigen Einschnitts.“[6]

„Vielen – Verteidigern wie Kritikern – erscheint ‚1968‘ […] als eine Kulturrevolution, die traditionelle Werte radikal auf den Prüfstand stellte und manche verwarf, kulturelle Hierarchien attackierte, neue Normen für das soziale Miteinander entwickelte, die politische Kultur veränderte und den Gärungsgrund für das alternative Milieu und die neuen sozialen Bewegungen bildete.“ (Siegfried, S. 5)

Wenn also in diesem Zusammenhang von charakteristischen Merkmalen einer „kulturellen Revolution“ gesprochen wird, so deswegen, um deren folgenschwere Umbrüche genauer zu bestimmen. „Unter den vielen Zugriffen, die hier denkbar und berechtigt wären, hat der Begriff der ‚Kulturrevolution‘ den Vorteil, […] eine Verengung auf das rein Politische zu vermeiden […], den Eindruck eines gleichsam automatisch ablaufenden Modernisierungsprozesses nicht aufkommen zu lassen [und] das für einen Großteil der Akteure wesentliche kulturelle Feld und ihr Verlangen nach grundlegender Veränderung aufzugreifen“, um diese analytisch in den Blick zu nehmende Dimension von Bildung und Kultur „in einer längeren Perspektive“ darstellen zu können. (S. 15) Damit erfasst der Begriff der „Kulturrevolution“ auch „die tiefgreifenden Veränderungen in der Hochkultur bündig.“ (S. 16)

Nun soll und kann die inzwischen wissenschaftlich gesicherte Tatsache nicht bestritten werden, dass Mitte der 1960er Jahre „Reformbestrebungen und materielle sowie kulturelle Wandlungsprozesse die Gesellschaft bereits erheblich in Bewegung gebracht hatten.“ (S. 19) In diesem Sinne war diese Kulturrevolution „kein zeitlich eng begrenztes Ereignis, wie es der Begriff der ‚Revolte‘ und die Jahreszahl ‚1968‘ suggerieren, sondern eher ein in sich vielschichtiges Phänomen der längeren Dauer, das Beschleunigungs- und Radikalisierungsspitzen aufwies.“ (S. 34)

Die germanistische Fachgeschichtsschreibung hat im Rahmen dieses in verallgemeinerter Form ernsthaft nicht zu bestreitenden Sachverhalts[7] die sich bietende Gelegenheit  genutzt, an einer Legende zu stricken. Dafür wurden die hier nachfolgend zitierten Behauptungen des Germanisten Karl Otto Conrady, die er für sich und zugunsten der Gruppe seiner damals in etwa gleichaltrigen Professorenkollegen formulierte, aufgegriffen. Mit Conradys Aussage konnten die vielfach zwiespältigen oder widersprüchlichen Verhaltensweisen dieser Professorengruppe im nach 1968 eingeleiteten Reformprozess entlastet werden. Seine Behauptung besagt im Kern, dass in der Zeit der Ordinariengermanistik der 1960er Jahre „wesentliche Reformen bereits […] von Angehörigen der ‚45er-Generation‘[8] initiiert wurden, die in den Jüngeren natürliche Verbündete sahen, aber von deren Radikalisierung zunehmend abgeschreckt wurden.“ (S. 19)

Als Standardformulierung für die Absicht, professorale Unfähigkeit und Untätigkeit zu zielgerichtetem Reformhandeln zu bemänteln, hat sich eine bisher erfahrungswissenschaftlich kaum ernsthaft überprüfte, aber bei passenden Gelegenheiten häufig wiederholte Redeweise als Vehikel kollektiver Entschuldung eingebürgert, die von Conrady (1988) meinungsbildend in die Welt gesetzt wurde. Sie liest sich bei ihm folgendermaßen:

„Wir kamen in der akademischen Germanistik nicht so voran, wie wir uns das eigentlich erhofft hatten. Denn wir sind in unserem Bemühen von der sog. Studentenbewegung sozusagen überrollt worden. Diese hantierte mit rigiden Formeln und insistierte auf ideologischen Prinzipien. Diesem Ansatz vermochten kritisch-liberale Hochschullehrer der Germanistik nicht zu folgen, obwohl sie die Notwendigkeit von Reformen bejahten.“[9]

Das Perfide einer solchen Rechtfertigungsstrategie liegt nicht nur in der Art und Weise der Selbstentlastung im Angesicht des eigenen Versagens, sondern vor allem auch in der Absicht, die „antiautoritäre Studentenrevolte“ in der Germanistik mit der aus der Luft gegriffenen Hypothek zu belasten, diese habe die in professoraler Initiative einer kritisch-liberalen Gruppe umsetzungsreif geplanten Reformen in den Studiengängen der Philosophischen Fakultäten nachgerade verhindert.

Aufzuzeigen, dass es sich bei dieser in der Fachgeschichtsschreibung bislang unbestrittenen Version um eine ‚invention of history‘ handelt, ist der Zweck der folgenden Darstellung. Sie fragt dabei zugleich nach den Trägern und Zielvorstellungen möglicher kulturrevolutionärer Bestrebungen in der Germanistik von ’68 und den von ihnen ausgelösten und bewirkten Umbrüchen und Veränderungen in diesem sich bis dahin historisch-philologisch-hermeneutisch verstehenden geisteswissenschaftlichen Fach, und zwar für den Zeitraum von 1966 bis 1973.

2. Ursachen der studentischen Revolte: die nicht aufgearbeitete NS-Vergangenheit und die versäumten Studienreformen

Ihren Ausgang nahmen die Unruhen im Fach Germanistik an der Freien Universität (FU) Berlin und verbreiteten sich von dort im Wintersemester 1967/68 sehr schnell über Frankfurt am Main, Marburg und Gießen nach Tübingen, Freiburg und München. Im Norden wurden Hamburg, Münster und Bonn wichtige Zentren.

Diese damals scheinbar eruptiv auftretende und sich teilweise auch zu gewalttätigen Straftaten aufschaukelnde Studentenrevolte von 1968 in den Philosophischen Fakultäten, insbesondere in der Germanistik, hatte in Wirklichkeit eine Vorgeschichte, ohne die sie rückblickend nicht zu verstehen ist. Bereits nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhoben Studierende der ehemaligen Wilhelms-Universität in Berlin Forderungen nach einer tiefgreifenden wissenschaftsinhaltlichen Reform ihres Studienfachs Germanistik. Die dazu ausgearbeiteten Reformvorschläge und Studienmodelle von jungen Erwachsenen, die den Krieg überlebt hatten, versandeten allerdings im Zuge der Restauration der althergebrachten Hochschulstrukturen der tradierten Ordinarienuniversität in West und Ost. Überlagert wurden sie in den Medien damals und in der Zeit danach durch sporadische Skandalisierungen der NS-Vergangenheit von einzelnen Germanistikprofessoren, deren Verstrickung in das NS-System zwar öffentlich gemacht, aber zumeist folgenlos problematisiert wurde. Wirkliche Höhepunkte stellten in dieser Hinsicht die Rektoratsämter der NS-belasteten Germanistik-Professoren Heinz Otto Burger (1903-1994; Neugermanist, Universität Frankfurt am Main) und Hugo Moser (1909-1989; Altgermanist, Universität Bonn)  im Jahr 1963 bzw. 1964 dar. Sowohl in der öffentlichen Meinung als auch innerhalb der jüngeren Hochschullehrer-Generation der eigenen Fachgemeinschaft trafen diese Wahlen auf Unverständnis. Hinter verschlossenen Türen und vorgehaltener Hand gab es zu diesem Zeitpunkt unmissverständlich Unmut; da und dort wurde schon heftige, fachintern und öffentlich artikulierte Kritik laut.

Vor allem die Wochenzeitung DIE ZEIT fand in dem Cheflektor des Suhrkamp Verlages, Walter Boehlich, einen fachkompetenten Kommentator und Interpreten des Hochschulgeschehens. Er verstand es, der interessierten Öffentlichkeit die fachgeschichtlichen Hintergründe solcher Vorkommnisse und Zustände im bundesdeutschen Universitätsfach Germanistik in den Jahren von 1963 bis 1968 einerseits selbst kenntnisreich aufzuhellen und zu erläutern. Andererseits ließ er die solchen Vorgängen fachgeschichtlich zugrundeliegenden Zusammenhänge durch Neuerscheinungen in der Reihe ‚edition suhrkamp‘  verdeutlichen und begleiten. Im Laufe der 1960er Jahre nahm auf diese Weise in dieser Reihe ein alternatives Verständnis von Literaturwissenschaft bereits konkrete Gestalt an. Boehlich wurde wegen einiger Artikel über die NS-Vergangenheit der Germanistik und ihrer immer noch in Amt und Würden befindlichen Professoren, die schon im Laufe der frühen 1960er Jahre in der ZEIT erschienen waren, nicht ganz zu Unrecht als einer der „geistigen Väter“ der Studentenrevolte in der Germanistik ausgemacht. Man muss dazu wissen, dass sich Rudolf Walter Leonhardt (1921-2003; Feuilleton-Chef der Wochenzeitung DIE ZEIT), und Walter Boehlich (1921-2006) aus ihrer gemeinsamen Studienzeit bei dem Romanisten Ernst Robert Curtius (1886-1956) in Bonn gut kannten und seither eng befreundet waren.

Wie groß der studienfachspezifische Problem- und der damit verbundene Reformdruck in der Germanistik schon damals war, wird an der Veröffentlichung des Feuilleton-Chefs der Wochenzeitung DIE ZEIT deutlich, der parallel zum Hamburger Germanistentag im September 1958 eine in lockerer Folge publizierte Serie seiner Artikel begann, die zwischen Oktober 1958 und Mai 1959 erschienen und die sich hauptsächlich mit den Studienbedingungen wie auch dem Lehrbetrieb und Studienalltag im Fach Germanistik an den westdeutschen Universitäten beschäftigten. In Buchform veröffentlichte Rudolf Walter Leonhardt diese Artikel dann im August 1959 unter dem zugkräftigen Titel „Der Sündenfall der Germanistik“, der in unzutreffender Weise eine Auseinandersetzung mit der NS-Germanistik verhieß. Seine Kritik fand in der veröffentlichten Meinung große Resonanz und über die hochschulpolitischen Lager hinweg breite Zustimmung. Aber an dem heftig kritisierten fachlichen Selbstverständnis der herrschenden Ordinariengermanistik änderte sich so gut wie nichts. Vielmehr wurde in der eigenen Zunft da und dort zaghaft zum Ausdruck gebrachte Selbstkritik argwöhnisch beäugt und im Bedarfsfall bis Anfang der 1960er Jahre durch die im „Deutschen Germanistenverband“ (DGV) tonangebenden Akteure harsch als unberechtigt und unzutreffend zurückgewiesen und damit im Keim erstickt.

Als sich die Studentenrevolte in den Philosophischen Fakultäten nach dem Sommersemester 1967 wie ein Buschfeuer über das ganze Land ausbreitete, urteilte der seit 1960 in Münster lehrende Soziologe Helmut Schelsky (1912-1984) , der in den
1950er und 1960er Jahren bekannteste und politisch einflussreichste Soziologe in der Bundesrepublik, in einer von ihm Ende 1969 veröffentlichten hochschulpolitischen Schrift über das Verhältnis von geisteswissenschaftlichen Lehrangeboten zu den angestrebten berufsqualifizierenden Studienabschlüssen der Lehramtsstudenten in den Philosophischen Fakultäten folgendermaßen:

„Daß die Einheit von Forschung und Lehre in den Philosophischen Fakultäten heute obsolet wird, in denen dieses Prinzip bis zuletzt als Grundlage der deutschen Universität verteidigt worden ist, die aber auch das Zentrum des studentischen Protests wegen Mangels an Studienreformen sind, ist mir an einer verhältnismäßig harmlosen studentischen Aktion deutlich geworden: Nach der Schließung der Philosophischen Fakultät der Universität Münster aus Anlaß der Besetzung des Germanistischen Seminars (am 20. Mai 1969)  hingen die Studenten ein Spruchband an das Gebäude [des Fürstenberghauses am Domplatz]: Zerschlagt die Hobby-Uni der Profs. In dieser Formel wird […] die Distanz deutlich, die inzwischen auch zwischen den geisteswissenschaftlichen Forschungsvorhaben und den Ansprüchen auf eine geordnete Lehrerausbildung besteht; mit Recht fordern die Studenten die Beseitigung von Hobbys der Professoren in der Ausbildung.“ [10]

Fürstenberghaus am Domplatz in Münster/Westfalen, damals das Hauptgebäude der Philosophischen Fakultät

3. Der Modellstudiengang Germanistik in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates 1966

Nur durch diesen Überdruck eines solchen Reformstaus in der Germanistik wie auch in allen anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen für das Lehramt an höheren Schulen, der sich seit 1945 über mehr als 20 Jahre hinweg aufgebaut hatte, ist es zu erklären, was dann passierte. Als der Wissenschaftsrat im Mai 1966 Empfehlungen zur Straffung und Effizienzsteigerung des Studiums aussprach, empfahl er zugleich auch, dieses Ziel mit der Einführung von Regelstudienzeiten, Zwischenprüfungen und dem Instrument der Zwangsexmatrikulation anzustreben.[11] Für das Studienfach Germanistik hatte er seinen Empfehlungen zudem beispielhaft einen curricular durch und durch konservativ-reaktionär strukturierten Modellstudiengang Germanistik beigefügt, in dem neben dem althergebrachten und weiterhin festgeschriebenen wissenschaftsinhaltlichen Selbstverständnis von Germanistik die jetzt vom WR vorgegebenen restriktiven Parameter für dessen ausbildungs- und studienpraktische Umsetzung konstitutiv sein sollten. Das brachte das Fass zum Überlaufen.[12]

Es gehörte fachgeschichtlich über Jahrzehnte hinweg zu den bestgehüteten Geheimnissen in der Germanistenzunft, wer für die Ausformulierung dieses curricular weit hinter das inzwischen entwickelte öffentliche Problembewusstsein zurückfallenden Modellstudiengangs Germanistik in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1966 verantwortlich gewesen ist. Erst 1994 enthüllten die Literaturwissenschaftler Christoph König und Thomas Sparr dieses bis dahin streng bewahrte Geheimnis: Albrecht Schöne (Jg. 1925) entwarf gemeinsam mit Karl-Heinz Borck (1923-2009, Hamburg), Walther Killy (1917-1995) und Karl Stackmann (1922-2013) für die Empfehlungen des Wissenschaftsrates den Abschnitt über Germanistik,[13] also zwei Alt- und zwei Neugermanisten (Killy und Schöne); sie gehörten dem Kreis der Kritiker der „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frey) ihres Fachverbandes an, der sich 1965 zu Selbstverständigungsdiskussionen zweimal im Stimbekhof Bispingen (Lüneburger Heide) getroffen hatte. Der Modellstudiengang von 1966 war allerdings nur in persönlicher Abstimmung der drei Göttinger Germanistikprofessoren zusammen mit dem Hamburger Kollegen Borck, der im Oktober 1966 in München, also ein halbes Jahr später, als Altgermanist zum neuen Vorsitzenden des Germanistenverbandes gewählt wurde, gleichsam aus dem Hut gezaubert worden. Alle vier galten seinerzeit unter den Germanistikstudenten als stramme Sozialdemokraten. Was wir damals nur erahnen konnten, aber nun immerhin Jahrzehnte später bestätigt finden können, lautet: Zur inhaltlichen Reform ihres Lehr- und Forschungsfaches war diesen im Jahr 1988 von Conrady als „Reformer“ gekennzeichneten Kollegen 1966 nicht mehr eingefallen als die Fortschreibung eines verschlankten Status quo der altbildungsbürgerlichen Wertvorstellungen von Kunst und Literatur der Jahre und Jahrzehnte davor.

Gleichwohl wird dieses Quartett seit 1990 in der jüngeren germanistischen Fachgeschichtsschreibung, so etwa von Karl Otto Conrady und Petra Boden über Michael Bogdal und Dorit Müller bis hin zu Oliver Sill, einer angeblichen Gruppe von Reformgermanisten zugerechnet, die sich bereits in den 1960er Jahren um die methodische wie inhaltliche Erneuerung der Germanistik verdient gemacht haben soll. Wäre das wirklich so gewesen, hätte es weder des ‚Rhedaer Memorandums‘ (Oktober 1969), das außer Eberhard Lämmert (1924-2015, Berlin) und Wolfgang Preisendanz  (1920-2007, Konstanz) kein einziger Germanistikprofessor unterzeichnet hat, noch des Modellstudiengangs Germanistik in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats von Oktober 1970 (siehe Anhang: „Ausbildung im Fach Germanistik“) bedurft. Aber dieser Umstand tat der seit 1990 fortgeschriebenen Legendenbildung über das angebliche reformorientierte Selbstverständnis und die fortschrittlichen Zielsetzungen der sog. Stimbekhof-Gruppe bis heute keinen Abbruch.[14]

4. Zum programmatischen Selbstverständnis der studentischen Akteure der Revolte

Die der kritischen Selbstvergewisserung und Bewusstseinsbildung wie auch der hochschulpolitischen Handlungsorientierung der Studierenden vor allem in den Philosophischen Fakultäten dienenden zentralen Veröffentlichungen jener späten 1960er Jahre seien hier wie folgt benannt:

● Stephan LEIBFRIED (Hrsg.): Wider die Untertanenfabrik. Handbuch zur Demokratisierung der Hochschule, Köln 1967.

● Wolfgang LEFÈVRE: Reichtum und Knappheit. Studienreform als Zerstörung gesellschaftlichen Reichtums, in: Uwe Bergmann, Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre und Bernd Rabehl: Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 94-150.

● Stephan LEIBFRIED: Die angepaßte Universität. Zur Situation der Hochschulen in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt a.M. 1968: edition suhrkamp 265.

Allein die Titel dieser Arbeiten lassen erahnen, um was es den Studierenden, hauptsächlich Lehramtsstudenten in den geisteswissenschaftlichen Studienfächern der Philosophischen Fakultäten, in ihrer Frontstellung gegen die WR-Empfehlungen von 1966 vornehmlich ging. Sie mussten davon ausgehen, dass ihnen jetzt auch die bisher im bereits gesetzten Rahmen von institutsintern verbindlich vorgegebenen Studienordnungen immerhin noch zugestandenen, wenn auch eng begrenzten individuellen Spielräume einer eigenständigen Ausgestaltung ihres germanistischen Fachstudiums genommen werden sollten.

In seiner wissenschaftlichen Qualifikationsschrift „Wissenschaftsrat und Hochschulplanung“ (2005/06)[15] vertritt Olaf Bartz die von ihm ausführlich belegte These, dass die „Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen“, die der Wissenschaftsrat am 14. Mai 1966 verabschiedete, „einen Proteststurm sondergleichen und viele Monate ebenso kontroverser wie hitziger Debatten“ produzierten. „Sogar eine gewisse Rolle bei der Ausbreitung der 68er Studentenbewegung dürfte dieser Empfehlung zugekommen sein.“ (S. 102)

„Eingangs des Kapitels war von einer ‚gewissen Rolle‘ der Wissenschaftsrats-Empfehlungen bei der Entstehung der Revolte von ‚1968‘ die Rede. Bevor die studentischen Reaktionen auf die Studienreformvorschläge betrachtet werden, sei generell angemerkt, dass die hochschulpolitischen Ursachen von ‚1968‘ heutzutage weithin als zu gering bewertet werden. Die vermeintlich großen, revolutionären Themen wie die Proteste gegen den Vietnam-Krieg oder gegen die Notstandsgesetze stehen in der Literatur im Vordergrund. Auch subkulturelle Pop-Elemente wie die Kommune I oder, aufgrund der Nachwirkungen, die Entstehung des Terrorismus von RAF und anderen Gruppen finden breiten Widerhall, universitätsbezogene Angelegenheiten treten in der Forschungsliteratur hingegen zurück. Will man aber die Studentenbewegung nicht mit der Neuen Linken gleichsetzen und die Proteste nicht mit dem SDS, rücken Hochschulthemen jedoch stärker in den Vordergrund. Dass entsprechende Anliegen in der Studentenschaft mobilisierungsfähig waren, hatte bereits der 1. Juli 1965 gezeigt, als in einer bundesweiten Aktion zehntausende Studenten unter dem Motto ‚Bildung sichert die Zukunft‘ für einen Ausbau der Bildungsstätten aller Art auf die Straße gegangen waren.“ (S. 119f.)

Für den bevorstehenden Berliner Germanistentag des Deutschen Germanistenverbandes, der vom 7. bis 12. Oktober 1968 stattfand, wurde gegen das, was der Wissenschaftsrat 1966 als Festschreibung des Status quo der Germanistik in Lehre und Studium zu sagen hatte, eine studentische Kampfansage formuliert. Einer solchen unzeitgemäßen Modernisierungsverweigerung wurde die studentische Gegenposition in der griffig formulierten Parole entgegengestellt: „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot!“. Inhaltlich-programmatisch unterfüttert wurde sie zu diesem Zeitpunkt dann in einem maßgeblich von den Frankfurter Germanistikstudenten und SDS-Mitgliedern Peter Mosler (Jg. 1944) und Thomas Schmid (Jg. 1945) inspirierten und ausformulierten theoretischen Gegenkonzept, das heute zu den kanonischen Texten der antiautoritären und basisdemokratischen Studentenrevolte der 68er Zeit zählt:

● BASISGRUPPE WALTER- BENJAMIN-INSTITUT: Schafft die Germanistik ab!, in: Universität und Widerstand. Versuch einer Politischen Universität in Frankfurt, hrsg. von Detlev Claussen und Regine Dermitzel, Frankfurt a.M 1968, S. 157-165 (wieder abgedruckt in: 1968. Eine Enzyklopädie, zusammengestellt und eingeleitet von Rudolf Sievers, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 2241, 2004, S. 431-438).

Aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar bleibt diese radikale studentische Absage an die damals noch immer unerschütterte Ordinariengermanistik, solange man nicht weiß, welche beispielgebenden Grundlagentexte und Gewährspersonen die Bezugspunkte dafür lieferten, auf die man sich mehr oder weniger unausgesprochen, aber übereinstimmend bezog, als man dieser tradierten Germanistik in der zementierten Gestalt der Empfehlungen des Wissenschaftsrats von 1966 nicht nur im Hinblick auf die Studiensituation, sondern auch wegen der wissenschaftlichen Inhalte den Kampf ansagte. Um zumindest in Umrissen eine inhaltliche Vorstellung davon zu vermitteln, in welchem gegenstandsbezogenen und theoretischen Bezugsrahmen in der Phase der antiautoritären Studentenrevolte von 1968 eine modernisierte, mithin alternative Literaturwissenschaft von revoltierenden Germanistikstudenten eingefordert, begründet und rechtfertigt wurde, sind hier als zentrale Texte für deren damalige Konzeptualisierung zu nennen:

● Walter BENJAMIN: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 28, 1963.

● Hans Magnus ENZENSBERGER: Einzelheiten I, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 63,1962.

● Jürgen HABERMAS: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied: Luchterhand 1962.

Hinzu trat ein zunehmend an Konturen gewinnendes studentisches Nachdenken über mögliche neue Inhalte und hochschuldidaktische Organisationsformen des eigenen Studiums in den seit 1966/67 wiederbelebten studentischen Fachschaftsvertretungen germanistischer Institute und Seminare. Beispielhaft seien hier genannt:

● Gerhard R. KAISER, Wissenschaft mit Rand. Zur Reform des Literaturstudiums, in: nobis. Mainzer Studentenzeitung, Heft 152, 21. Jg., Dezember 1968, S. 14-16.

● Jürgen STERNSDORFF/Bernd DAMMANN, Was heißt – Politisierung der Germanistik?, in: Emanzipation oder Disziplinierung. Zur Studienreform 1967/68, hrsg. im Auftrag des Verbandes deutscher Studentenschaften von Thomas Kieselbach und Peter Marwedel, Köln 1969, S. 111-118.

● Bernd DAMMANN, Totengräber der Germanistik – lebendig! Zur Arbeitskonferenz des SDS in Frankfurt. Strategie und Taktik der Germanisten, in: Linguistische Berichte, Heft 3, August 1969, S. 61-66.

5. Friedrich Ohly und Peter Wapnewski – zwei germanistische Mediävisten als reformpolitische Antipoden während der 68er-Revolte

Während sich in dem hier beschriebenen Bezugsrahmen die Studierenden der Germanistik in den Jahren von 1966 bis 1970 über hochschulpolitisch unterschiedliche Grundsatzpositionen hinweg in zentralen Fragen der Reformbedürftigkeit ihres Studienfaches und deren curriculare und organisatorische Problemlösungen annähern und verständigen konnten (siehe: Dammann 1969), setzte unter den im ‚Deutschen Germanistenverband‘ organisierten Germanistik-Professoren ein Spaltungs- und Zersetzungsprozess ein, auf den hier nicht näher eingegangen werden soll (siehe dazu: Sternsdorff/Dammann 1969). Immerhin markieren die veröffentlichten Positionen des erzkonservativen Münsteraner Mediävisten Friedrich Ohly (1966) und des linksliberalen Berliner Mediävisten Peter Wapnewski (1967), der ihm ein knappes Jahr später indirekt, aber unmittelbar nach der Erschießung des Berliner Germanistik-Studenten Benno Ohnesorg antwortete, als Gegensatzpaar entscheidende Eckpunkte dieser Polarisierung innerhalb der Scientific Community der Germanistik-Ordinarien:

● Friedrich OHLY, Germanisten gegen den Wissenschaftsrat. Sollen alle nach einer Pfeife tanzen? in: DIE WELT, 17. Oktober 1966.

● Peter WAPNEWSKI, Die alte Germanistik und die jungen Studenten. Gedanken zum Kanon unserer Bildungsvorstellungen, in: DIE ZEIT, 25. August 1967.

Der Münsteraner Altgermanist Friedrich Ohly (1914-1996) verteidigte in seiner Stellungnahme ebenso wortreich wie vehement den Status quo der Ordinariengermanistik in Forschung, Lehre und Studium und lehnte jede inhaltlich und organisatorisch von außen verordnete Veränderungsabsicht für das Studienfach Germanistik entschieden ab. Dabei berief er sich vorrangig auf das Humboldtsche Universitäts- und Wissenschaftsideal der Freiheit von Forschung und Lehre.

Die beiden Bonner Germanisten Benno von Wiese (1903-1987, Neuere Abteilung) und Hugo Moser (Ältere Abteilung) hatten von 1962 bis 1966 als Vorsitzende die Geschicke des DGV bestimmt. Von 1962 bis 1964 war Moser Vorsitzender und von Wiese sein Stellvertreter, in der Wahlperiode von 1964 bis 1966 wurden diese beiden Spitzenfunktionäre des Verbandes in vertauschten Rollen in ihren Ämtern bestätigt. Da sich der Altgermanist Moser auf dem Münchener Germanistentag 1966 nicht noch ein weiteres Mal zur Wahl stellen wollte, musste als Nachfolger im Amt des ersten Vorsitzenden des DGV nun wiederum ein mediävistischer Ordinarius gefunden werden. Denn nach Maßgabe einschlägiger Regelungen in der Verbandssatzung sollten sich Altgermanisten und Neugermanisten von Wahlperiode zu Wahlperiode im Vorsitz des DGV abwechseln. Moser war deswegen im Laufe des Jahres 1966 intensiv darum bemüht, aus den Reihen der Altgermanisten eine geeignete und zur Kandidatur bereite Persönlichkeit zu finden, die er auf dem Germanistentag 1966 in München als neuen DGV-Vorsitzenden für die Wahlperiode 1966-1968 zur Wahl vorschlagen konnte. Im Mai 1966 schienen Moser und von Wiese dann einen dafür sehr ernsthaft in Frage kommenden Kandidaten gefunden zu haben. Sie nahmen in dieser Angelegenheit im Frühjahr 1966 Kontakt auf mit Friedrich Ohly, der Anfang 1964 einen Ruf nach Münster angenommen hatte und zum Sommersemester 1964 von Kiel auf einen Lehrstuhl des Instituts für Germanistik in der Philosophischen Fakultät  der Universität Münster gewechselt war.

In Kiel, wo sich der frömmelnde Ohly, Sohn aus einer evangelischen Pastorenfamilie im Taunus, mit dem politisch aktiven SPD-Mitglied Karl-Otto Conrady (Jg. 1926, Neugermanist) wie Hund und Katze bekriegt hatte, verdichteten sich die eigentlich bereits auf der Hand liegenden Umstände und Beweggründe für seinen Weggang in einer zugespitzten Vermutung, die dann als Gerücht in Fachkreisen in und außerhalb von Kiel die Runde machte: „Es gab das Gerücht, er wolle zum Katholizismus übertreten und mit anderen Kollegen an seiner neuen Wirkungsstätte eine konservative Hochburg aufbauen.“[16] 

Friedrich Ohly nahm eine Einladung der Bonner Kollegen Moser und von Wiese an und fuhr Ende Mai 1966 von Münster nach Bonn, wo sie sich im Hause Moser zu einem langen Gespräch zusammenfanden. In einem Brief vom 2. Juni 1966 an Moser begründet Ohly auf zwei engzeilig beschriebenen Schreibmaschinenseiten dann seine Entscheidung über das ihm unterbreitete Angebot:

„Die durch Herrn von Wiese und Sie mir vorgelegte Frage hat mich seit der Rückkehr sehr  stark beschäftigt. Ich bin Ihnen und Herrn von Wiese sehr dankbar für das mir entgegengebrachte Vertrauen, und es fällt mir wahrlich nicht leicht, Sie zu bitten, davon abzusehen, mich für die Wahl zum Vorsitzenden des Germanistenverbandes vorzuschlagen. Nach allem, was Sie mir in Bonn in dieser Sache zu bedenken gaben, darf ich meine Entscheidung nicht aussprechen ohne den Versuch einer Begründung.“[17]

In einer kurzen Antwort an Ohly vom 16. Juni 1966 zeigt sich Moser sehr enttäuscht und streicht noch einmal die Funktion und die Bedeutung des DGV für das eigene Fach besonders heraus. An diesem Vorgang ist vor allem aufschlussreich, von welchen hochgradig wirklichkeitsfremden Fehleinschätzungen der Lage des eigenen Faches die Spitzenfunktionäre des DGV damals immer noch angeleitet wurden. Man wird sich unschwer ausmalen können, was passiert wäre, wenn sich Friedrich Ohly auf dem Germanistentag in München1966 zum DGV-Vorsitzenden hätte wählen lassen. Bei Institutsbesetzungen hätte man es in diesem Fall auf Dauer jedenfalls wohl nicht belassen.

Der linksliberale Berliner Altgermanist Peter Wapnewski (1922-2012) wurde dagegen innerhalb der antiautoritären und radikaldemokratischen Studentenbewegung der späten 1960er Jahre ein Idol der protestierenden Germanistik-Student(inn)en. Mit seinem ZEIT-Artikel „Die alte Germanistik und die jungen Studenten“ (25. August 1967) gab er das Zeichen zum Sturm auf die Ordinariengermanistik jener Jahre in der BRD. Die im SDS organisierten Hamburger (Germanistik-)Studenten griffen seine Botschaft auf und fassten sie im November 1967 in der höchst einprägsamen hochschulpolitischen Kampf-Parole zusammen: ‚Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren‘. In der redaktionellen Vorbemerkung heißt es zu dem Artikel von Wapnewski in der ZEIT:

„Die Berliner Studentenrevolte geht weiter und wird noch mehr auch auf andere deutsche Universitäten übergreifen. Sie wird sich von den Zufälligkeiten eines Schah-Besuches lösen und sich mehr auf das Grundsätzliche einer Universitäts-Struktur konzentrieren, die seit dem 19. Jahrhundert alle Reformen versäumt hat. Was dies für ein Fach bedeutet, das seit langem schon im Kreuzfeuer steht, erläutert mit dankenswerter Offenheit Professor Dr. Peter Wapnewski, Ordinarius für Ältere Germanistik an der Freien Universität Berlin.“  (Vorbemerkung von R.W. Leonhardt)

Wegen der diesem Artikel zugemessenen hochschulpolitischen Bedeutung werden hier einige Passagen im Wortlaut wiedergegeben:

 „Es sind die Derivate der Magna Mater Philosophie, die den wissenschaftlichen Unterbau der neuen Ideologien liefern: Politologie und Soziologie. Und es sind die Studenten dieser Wissenschaften, die mit geschärftem Mißtrauen, sensibler Nervosität und kritischer Beharrlichkeit die neuen Positionen ausmachen, einnehmen und behaupten. Insbesondere die Vertreter der ‚Alten‘ oder ‚Älteren Germanistik‘ haben Anlaß, sich zu bedenken. Jene also, die herkömmlich die Geschichte der deutschen Sprache lehren und die deutschen Literaturdenkmäler des 9. bis etwa 14. Jahrhunderts verwalten. Diese ihre Disziplin nimmt im Bereich des Gesamtfaches ‚Deutsch‘ einen breiten Raum ein. Einen unverhältnismäßig breiten Raum, wie die Kritiker sagen.“

„Dieses nämlich sind die Tatsachen: Ein Student der Germanistik wird in den zwölf (oder mehr) Semestern seines Studiums die Hälfte (oder mehr) seiner germanistischen Arbeitsanstrengungen dem ‚Älteren‘ Teil des Fachs zu widmen haben: dem Studium der Historischen Grammatik vom Indogermanischen bis zum Ende des Mittelalters, den frühen Sprachstufen des Germanisch-Deutschen: Gotisch, Althochdeutsch, vielleicht auch Altnordisch und Altsächsisch, vor allem Mittelhochdeutsch; dem Studium der alten Literatur, das heißt der gotischen Bibel, der althochdeutschen Sprachdenkmäler (deren geistige Aussage nur allzu häufig nicht hinausgeht über das Gewicht eines Amtserlasses, einer Zeitungsverlautbarung) und der mittelhochdeutschen Dichtung.“

„Gegen einen solchen Studienaufbau ist so lange nichts zu sagen, als der die Germanistik als historische Disziplin begreifende Student diese Fächer und Bereiche aus eigenem Antrieb, Interesse und Erkenntnisdrang studiert. Das aber tut er nicht, sofern ihn (wie die Mehrheit aller Germanistik-Studenten) der Beruf des höheren Lehramts erwartet.“

„Betrachtet man nun die Praxis der späteren, auf diesem Wege erreichten Berufsausübung, ergibt sich ein in der Tat grotesker Sachverhalt: Der Lehrer des Gymnasiums nämlich wird nicht einmal fünf Prozent seines Unterrichtens auf jenen Bereich verwenden, den zu erarbeiten ihn die Hälfte seiner germanistischen Studienzeit gekostet hat. Irgendwann einmal in jener Klasse, die früher allgemein ‚Obersekunda‘ hieß, ist das deutsche Mittelalter ‚dran‘ ein paar Wochen lang; wenn der Lehrer will, ein paar Monate. ‚Ist dran‘ mit Hilfe von Lesebüchern, die den Stoff vorgefertigt anliefern, einschließlich Deutung, Übersetzungshilfe, Wörterbuch – so daß ein Schüler den Text ohne Studium versteht.“

„Diese aberwitzige Disproportion – die Lehrer wie Schüler aus ihrer Praxis bestätigen – erregt mit Grund den Unwillen und kritischen Protest der Studenten. Sie argumentieren sachlich, wenn sie erklären, daß gerade ihr Bestreben, dem künftigen Beruf gerecht zu werden, von der Schulverwaltung den Abbau und die (wie sie sagen würden) ‚Umfunktionierung‘ der bestehenden Examensordnungen verlangt.“

„Wenn es also zutrifft, daß es die große Unruhe unter Deutschlands jungen Intellektuellen ist, die sich auch widerspiegelt in den kritischen Aggressionen gegen den gegenwärtigen Stand des Faches Germanistik: dann wird man sich der fordernden Frage nach der Funktion dieses Faches nicht dadurch entziehen können, daß man mit Ewigkeitswerten argumentiert oder mit dem Hinweis auf erprobte Erfahrungen.“

„Die […] , denen es um ein Amt in dieser Gesellschaft geht, mit dessen Hilfe sie Gegenwart und Zukunft zu analysieren hoffen; sie, denen diese Gesellschaft eine bestimmte Ausübung des Lehrberufs gemäß bestimmten Ordnungen abverlangt; sie, die gemäß diesen Ordnungen bestimmte Examina zu absolvieren haben: sie fordern mit dem Recht der ökonomischen Vernunft, daß ihr Studiengang befreit werde von der Masse ‚lexikalischen‘ Wissens, von der Überlast fachlicher Disziplinen, die sie nicht studieren wollten, als sie sich zum Studium des Faches ‚Deutsch‘ entschlossen; und die sie nicht studieren sollten, da die Praxis des Staatsdienstes sie nicht verlangt: Die Unterrichtspläne der Lehrer dementieren die Prüfungspläne der [werdenden] Lehrer! Es ist zu fordern, daß die ‚Alte Germanistik‘ als historisch-philologische Disziplin mit besonderem Nachdruck weiter gepflegt werde – aber nicht auf dem Wege eines octroi, der die Würde des Faches und seiner Vertreter verletzt.“

„Es gibt nicht nur eine Freiheit der Forschung und Lehre, es gibt auch eine – und es soll sie weiter geben – Freiheit des Lernens. Es ist in der Sache sinnlos, in der Form unwürdig, ein schweres und umfangreiches Sachgebiet durch Zwangsmaßnahmen zum Studiengegenstand zu machen, das im Bereich des durch diesen Studiengang angestrebten Berufs nur andeutungsweise vertreten ist.“

„Die Ideologie von der Facheinheit, die den ‚Vollgermanisten‘ erfunden und die Bedeutung des Neugermanisten von dessen altgermanistischem Fundament abhängig gemacht hat, ist eine Chimäre und ignoriert unser Wissen vom Gang unserer Kulturgeschichte.“

Über die Geschehnisse auf dem legendären Berliner Germanistentag im Oktober 1968, auf dem revoltierende Germanistik-Studenten aus der ganzen Republik mit der kulturrevolutionären Forderung „Schafft die Germanistik ab!“ auftraten, führte Wapnewski Tagebuch. Seine kritischen Aufzeichnungen, in denen er auch mit dem rüpelhaft erscheinenden Auftreten der Studenten gründlich abrechnete, veröffentlichte er Ende 1968 noch zeitnah im „Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken“ (siehe Anhang). In der SPIEGEL-Serie „Mit dem Latein am Ende“, die ganz offen mit der studentischen Protestbewegung sympathisierte, wurde Wapnewski dann im Juli 1969 allerdings auch als Kronzeuge für die Reformunwilligkeit und Reformunfähigkeit seiner germanistischen Professorenkollegen zitiert. Es war somit keinesfalls einer Verlegenheit geschuldet, dass Wapnewski aufgrund seiner damaligen bildungspolitischen Positionierung in der studienreformerischen Programmschrift „Ansichten einer künftigen Germanistik“ (Oktober 1969) mit einem eigenen Beitrag vertreten war. Zusammen mit seinem Berliner Freund und Mitstreiter Eberhard Lämmert galt er unter den älteren, aber auch gleichaltrigen Fachkollegen der Germanistenzunft deswegen bis weit in die Mitte der 1970er Jahre als Nestbeschmutzer und Verräter. Für Wapnewski blieb dieser Aspekt seiner universitären Wirkungsgeschichte in seiner Autobiographie rückblickend eine kleine Episode, für das Selbstverständnis und die Aufgabenstellung der Ordinariengermanistik in der Ordinarienuniversität wurde sie dank seines furchtlosen studienreformpolitischen Engagements, das in dem genannten ZEIT-Artikel zum Ausdruck kommt, zum Ausgangs- und Bezugspunkt der sich bundesweit ausbreitenden Studentenrevolte in der Germanistik.

6. Peter Schütt und Michael Pehlke – von der Kritik an der Deutschen Philologie zur Germanistik als Medienkulturwissenschaft

Das Jahr 1966 ist für die Studentenrevolte in der Germanistik von ‘68, wie wir bereits gesehen haben, ein im engeren Sinn entscheidendes Jahr, in dem sich mit der Veröffentlichung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates und dem Germanistentag in München Ausgangspunkte ausmachen lassen, die diese kulturrevolutionär inspirierte studentische Protestbewegung ausgelöst und ihr den erforderlichen Schwung verliehen haben. Denn zu dieser Zeit verschafft sich erstmals eine kritische Stimme aus der Mitte der Germanistikstudenten öffentlich Gehör – eine Gruppe, die in der Ordinarienuniversität bis dahin überhaupt nicht als innerfachlich ernstzunehmende Interessengruppe behandelt worden war:

Als Einzelkämpfer trat in München der Hamburger Germanist Peter Schütt (Jg. 1939) in das Rampenlicht der öffentlichen Wahrnehmung und machte durch das, was er im Sinne vieler Germanistikstudenten zu sagen hatte, auf eine längst existierende, aber bis dahin weitgehend totgeschwiegene innerfachliche Opposition und deren fundamentale Kritik am tradierten und sorgsam gepflegten Selbstverständnis dieses Faches aufmerksam. Schütt war zu dieser Zeit Mitglied des Hamburger SDS. Die in Hamburg erscheinende Tageszeitung DIE WELT berichtete sehr ausführlich über den Germanistentag in München und ließ dabei die beiden Germanistikprofessoren Hugo Kuhn (1909-1978, München) und Benno von Wiese (Bonn), die für dieses Tagung verantwortlich zeichneten, ausführlich zu Wort kommen. Auch Schütt wurde Gelegenheit gegeben, dazu in der WELT aus der Sicht eines jungen Kritikers öffentlich Stellung zu nehmen.

Schütt nutzte diese Gelegenheit zu einem Frontalangriff auf die Ordinariengermanistik. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte er dabei die Forderung nach einer grundlegenden Erweiterung der Gegenstände und Fragestellungen in der germanistischen Forschung und Lehre. Schütt lieferte damit die inhaltliche Grundlage, in deren Bezugsrahmen die aufbegehrenden Germanistikstudent(inn)en in den kommenden Jahren ihre Reformforderungen artikulierten (siehe: Dokument im Anhang). Er wurde daraufhin von dem neu ins Amt des DGV-Vorsitzenden gewählten Hamburger Altgermanisten Karl Heinz Borck (1923-2009 ), Schüler der in den 1940er und 1950er Jahren in Münster lehrenden Germanisten Jost Trier (1894-1970) und Benno von Wiese, in dessen Leserbrief „Junger Frondeur?“ in der Tageszeitung DIE WELT im Januar 1967 öffentlich gemaßregelt. Professor Borck verbat sich derartige ungebetene öffentliche Einmischungsversuche in die inneren Angelegenheiten des Germanistenverbandes und wies zugleich als neuer Vorsitzender des DGV derartige fachspezifische Reformforderungen barsch zurück. Die Erörterung derartiger Fragen dürfe man getrost den dafür zuständigen Germanistikprofessoren selbst überlassen.

Wir verdanken Peter Schütt außerdem eine Verlaufsbeschreibung und eine Situationseinschätzung der antiautoritären Studentenbewegung an der Universität Hamburg im Wintersemester 1967/68.[18] Darin äußert sich Schütt auch über die Situation in der Hamburger Germanistik jenes Semesters. Er weist darauf hin, dass hier die vom Wissenschaftsrat empfohlene ‚Zwischenprüfung‘ inzwischen schon eingeführt worden sei, und zwar mit dem Ergebnis völlig „übertriebener Anforderungen“, „bei denen in der Germanistik jeder zweite Teilnehmer durchfällt“. So sah der bildungsbürgerlich-elitäre Widerstand eines Teils der Germanistikprofessoren aus, den der Altgermanist Rainer Gruenter (1918-1993) damals gegen die bildungspolitisch gewollte Erweiterung der sozialen Rekrutierungsbasis zum Zwecke der Steigerung der Studentenzahlen bei seinen geisteswissenschaftlichen Professorenkollegen noch Anfang 1964 vehement eingefordert hatte. Gruenter war seinerzeit noch ein entschiedener Verteidiger schichtenspezifischer Bildungsprivilegien. Das von dem Soziologen Ralf Dahrendorf propagierte Recht aller Staatsbürger auf gleiche Bildungschancen lehnte er Mitte der 60er Jahre noch entschieden ab.[19] Das Abprüfen familiär tradierter und dann in Lehre und Studium der Geisteswissenschaften verfestigter bildungshumanistischer Wissensbestände konnte in den vom Wissenschaftsrat geforderten Zwischenprüfungen leicht als Instrument bildungspolitischen Widerstands missbraucht werden, um nur mühsam gedämpfte Effekte schichtenspezifischer Selektion im Schulwesen auf diese Weise wieder rückgängig zu machen.

„In einer Entschließung am Beginn des Semesters wandten sich die Studenten gegen jede Form der Zwischenprüfung in den Massenfächern der Philosophischen und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät; sie lehnten jede Einschränkung des Grundrechts auf Bildung durch den Numerus clausus ab.“ (Schütt, S. 387)

„Die Hamburger Germanisten, die seit einigen Semestern zusammen mit ihren Berliner Kollegen eine studenteneigene kritische Zeitschrift „‚Germanistikstudium‘ herausgeben, verstärkten ihre überregionalen Kontakte, sie leiteten zusammen mit Berliner und Bonner Kommilitonen eine kritische Auseinandersetzung mit den Monopoltendenzen des ‚Germanistenpapstes‘ Benno von Wiese ein und unterstützten die Vorbereitungen zu einem studentischen ‚Gegen-Germanistentag‘, mit dem während der nächsten Tagung des Deutschen Germanistenverbandes in Westberlin gegen die Unterdrückung jeglicher Kritik durch die autoritäre Verbandsleitung protestiert werden soll.“ (S. 388)

Drei Jahre später, also Ende 1969, bietet sich ein in zentralen Punkten sichtlich verändertes Bild. Der Sammelband „Ansichter einer künftigen Germanistik“ legt dafür beredtes Zeugnis ab. Die ebenso gründliche wie umfangreiche studentische Darstellung zum „Aufstieg und Fall der Germanistik – von der Agonie einer bürgerlichen Wissenschaft“ von Michael Pehlke (1943-2015) zählt zu den die Grundlagen der Kritik bestimmenden Beiträgen dieses Bandes.[20] Sie setzt die Eckpunkte und liefert damit zugleich die Bemessungsgrundlage für die darauf folgenden Vorstellungen und Vorschläge, denen „eine künftige Germanistik“ aus studentischer Sicht zu genügen hat.

Pehlke war zu jener Zeit Student am ‚Institut für deutsche Philologie – Abteilung Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft‘ der Technischen Hochschule (TU) Berlin. Dort wurde am Lehrstuhl von Walter Höllerer (1922-2003) seit 1962 die Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ redaktionell betreut und herausgegeben. Pehlke gehörte institutsintern Ende der 1960er Jahre zum erweiterten Kreis ihrer ständigen Mitarbeiter. Seine Ausführungen stuft er als „polemische Analyse der herrschenden Germanistik“ ein, die „aus westberliner Sicht“ geschrieben worden sei (S. 18):

„Gewidmet ist der Aufsatz all jenen graduierten Germanisten, die sich im liberalen Antifaschismus verschlissen haben und auf Grund ihres Rollenbewußtseins und rigider Interessenbindungen zu konkreten antikapitalistischen Engagements nicht fähig zu sein scheinen.“ (ebda.)

Die Einlassungen von Pehlke geben den Stand der Diskussion studentischer Vorstellungen für eine grundlegende, wissenschaftskritisch begründete Reform des Germanistikstudiums am Ende der radikaldemokratischen Phase der antiautoritären Studentenrevolte (1967-1969) wieder, ehe sich an den Universitäten in Westdeutschland  nach der Gründung von ‚Roten Zellen Germanistik‘ seit 1970 das dann auch aus Berlin kommende maoistische und stalinistische Sektierertum der ‚K-Gruppenbewegung‘ unter der Losung „Dem Volke dienen“ dort einnistete und breit machte.

In verschiedenen Passagen seines Beitrags streut Pehlke Hinweise auf das ein, was in bestimmten, sich sozialistisch verstehenden Zirkeln, denen sich der Autor zurechnet, an ernsthaften alternativen Perspektiven und Ansätzen diskutiert wurde. Es handelt sich um solche Vorstellungen, von denen man damals annahm, dass sie geeignet seien, „gesellschaftlich effektive Alternativen zu entwickeln oder gar zu praktizieren“ (S. 37). Dabei gehört es für ihn bereits zu den nicht mehr weiter zu diskutierenden Selbstverständlichkeiten, dass sich die traditionelle Altgermanistik „kaum zur emanzipativen Wissenschaft umfunktionieren läßt“ und deswegen außer Betracht bleiben könne. (S. 18)

Pehlke will sich im Unterschied zu der Forderung „Schafft die Germanistik ab“ nicht von der Hoffnung verabschieden, doch noch ein zukunftsfähiges Konzept des Studiums der Literatur- und Sprachwissenschaften hochschulintern und innerhalb der davon betroffenen Fachwissenschaften durchsetzen zu können. Er hebt zu diesem Zweck auf Positionen und Entwicklungsperspektiven ab, die sich erstaunlicherweise schon zur Zeit der Abfassung seines Beitrags im Laufe des Jahres 1969 abzuzeichnen begannen und für das kritisch geschulte Auge bereits erkennbar waren. Sie wurden, so Pehlke, in sich als „undogmatisch und unorthodox sozialistisch“ verstehenden Berliner Germanistik-Zirkeln mit erstaunlichem Weitblick entsprechend diskutiert. Indem er sie sich zueigen macht, bezieht er damit die hellsichtige Position eines „radikalen Reformismus“ jenseits der Konzepte, die in Konstanz, Bielefeld oder Marburg zu dieser Zeit favorisiert wurden. Er stimmt damit bei genauerem Hinsehen mit wissenschaftsinhaltlichen Vorstellungen überein, die mit Ansätzen und Vorgehensweisen zu tun haben, die schon im Laufe der 1960er Jahre zunächst am Lehrstuhl Höllerer an der TU Berlin entwickelt und später dann auch am Lehrstuhl des Germanistikprofessors Helmut Kreuzer (1927-2004) an der Gesamthochschule-Universität Siegen in den 1970er Jahren in einem großen Forschungsprojekt „Medienwissenschaft“ aufgenommen und weiter vorangetrieben worden sind. Die Entwicklungsrichtung des von dem „staatlichen Planungsapparat“ eingeschlagenen Weges wird nach Pehlkes Meinung einzig von der Absicht geleitet, den Bildungssektor an „spätkapitalistische Bedarfs- und Interessenlagen“ anzupassen, indem bestehende ideologische Ungleichzeitigkeiten beseitigt und eine dem technologischen und organisatorischen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung adäquate, zweckrational orientierte  Konzeption von geisteswissenschaftlicher Forschung, Lehre und Ausbildung durchgesetzt werden soll. Pehlke nennt den diese Bestrebungen anleitenden Grundgedanken „ideologische Renovierung“. Er versteht darunter den „sich abzeichnenden fremdbestimmten Rationalisierungsprozeß“ mit der Zielsetzung „systemkonformer“ Anpassung an vorherrschende wirtschaftliche und politische Interessenlagen. Aus einer so verorteten Konstellation erwachsen nicht hintergehbare Herausforderungen, auf die man in seinen eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen, ob man nun will oder nicht, auf jeden Fall zu reagieren hat. Für gesellschaftskritisch bewusst handelnde Hochschulangehörige gebe es unter diesen Vorzeichen daher nur die Strategie eines „radikalen Reformismus“, der diese Anpassungsprozesse, „sei’s reformistisch oder revolutionär“ zu unterlaufen und zu durchbrechen sucht. Pehlke plädiert deswegen für eine „radikale Veränderung der Organisation und Methoden der Germanistik“:

„Veränderung der Organisation meint die Institutionalisierung noch zu erprobender Formen interdisziplinärer Kooperation, die rationelle Arbeitsteilung und permanente Kommunikation miteinander kombinieren; Veränderung der Methoden meint den Ausbau des Arsenals von Interpretationsmethodik und Untersuchungsobjekten.“ (S. 37)

Bedingung der Möglichkeit einer „neuen Germanistik“ ist seiner Auffassung nach das „interdisziplinäre“ Bezugssystem, in das sie eingebettet werden muss, um sie „über eine allgemeine Literatursoziologie zur komplexen Kommunikationswissenschaft“ zu entwickeln. Ihren fachwissenschaftlichen Ort siedelt er demzufolge in unmittelbarer Nähe derjenigen Disziplinen an, die „heute als Kultur- und Gesellschaftswissenschaften kritisches Potential zugleich produzieren und absorbieren.“ (S. 35)

In diesen Bandbreiten des von ihm in Umrissen angedeuteten „Gegen-Modells“ zur Ordinariengermanistik kann eine „neue Germanistik“ nur noch als „Teildisziplin einer allgemeinen Kommunikationswissenschaft“ betrieben werden, wenn sie überhaupt noch eine Überlebenschance und damit eine Zukunft haben will: „Im Rahmen dieser Zielprojektion“ gewinnt „die zukünftige Rolle jener Wissenschaft, die sich heute noch Germanistik nennt“, ihre Konturen. Ihr „neuer Name, da sie unter der Bezeichnung Germanistik kaum mehr firmieren wird, [wäre] noch zu formulieren“. Aus damaliger Sicht ist es für deren Fürsprecher „das Programm der kulturrevolutionären Germanistik“, das im Prozess der „Zerschlagung kultureller Privilegien der traditionellen Bildungsbourgeoisie“ aus der etablierten Germanistik „eine kulturrevolutionäre Literatur- und Kommunikationswissenschaft“ machen wird. (siehe insgesamt S. 42-44)

„Der Literatur- und Kulturbegriff, auf den die offizielle Literaturwissenschaft sich beruft, hat etwas rührend Altmodisches an sich: er täuscht wider alle Erfahrung vor, daß die sog. hohe Literatur oder Belletristik – analog zum Jargon der Musikindustrie sollte man sie E-Literatur nennen – noch irgendwelche Relevanz besäße. Den Kampf zwischen U- und E-Literatur hat die U-Literatur, von den Literaturwissenschaftlern stets verschämt und überheblich als Trivialliteratur klassifiziert, längst für sich entschieden. Literaturwissenschaft, die ein emanzipatorisches Interesse vertritt, hätte daraus die Konsequenzen zu ziehen und sich jenen Kulturprodukten zuzuwenden, die die Massen permanent indoktrinieren, ohne sich dabei auf das sog. geschriebene Wort zu beschränken: Groschenromane, Fernsehspiele und Unterhaltungsfilme, die Action- und Ideologieschablonen der Meinungsindustrie sind die Untersuchungsgegenstände der neuen Germanistik.“ (S. 38f.)

Dem studentischen Beitrag Pehlkes von 1969 lässt sich in Hinsicht seiner Referenz auf Kultur als mediengestützter Kommunikationsprozess programmatisch eine Vorreiterrolle im Blick auf spätere Entwicklungen der Germanistik als einer zukünftigen ‚Medienkulturwissenschaft‘ zumessen. In dem auch von Kolbe herausgegebenen Nachfolgeband „Neue Ansichten einer künftigen Germanistik“ (1973) finden sich im dritten Abschnitt „Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft“ auf 80 Druckseiten (S. 272-352) gleich vier Beiträge, die aus der Feder von Angehörigen, Mitarbeitern und Studenten des Schwerpunkts „Medienwissenschaft“ am „Institut für Deutsche Philologie – Abteilung Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ der TU Berlin (Lehrstuhl Höllerer) stammen (K. Riha; F. Knilli; E. Reiss; K. Hickethier et al.). Aus „ihrem Vorbehalt gegen Kunst als elitäres, bürgerliches Bildungsprodukt“ (Kolbe) machen sie allesamt keinen Hehl. Ein erster und richtungsweisender Schritt ist vollzogen. Es wird allerdings noch lange dauern, bis dieser Entwicklungstrend den über die Maßen resistenten Kern des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses von Germanistik wirklich existenziell berührt und kulturrevolutionär in seinen Grundfesten bedroht.   

7. Peter Hartmann, das „Rhedaer Memorandum“ vom Oktober 1969 und die Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom Oktober 1970

Den entscheidenden Wendepunkt in dieser zunehmend erbittert geführten Kontroverse zwischen Germanistikstudenten und Ordinarien seit 1966 markiert das Jahr 1969 in doppelter Hinsicht. Im Herbst 1969 sollten Bundestagswahlen stattfinden und es deutete sich in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes zumindest an, dass es für eine Fortsetzung der großen Koalition von CDU und SPD im Wahlvolk keine große Begeisterung mehr gab. Vielmehr wurde zusehends eine gesellschaftliche Aufbruch- und Wechselstimmung zu neuen Ufern spürbar. Auf dem Sektor der Hochschulpolitik schlug eine entsprechende Serie des politischen Wochenmagazins DER SPIEGEL in diese Kerbe. Die Artikel-Serie trug den Titel „Mit dem Latein am Ende“. In einer Folge im Juli 1969 widmete sie sich der Reformunwilligkeit deutscher Germanistikprofessoren und zeichnete ein in vieler Hinsicht düsteres Bild.

Das Ergebnis der Bundestagswahl stand ebenso wie die Bildung einer sozialliberalen Reformkoalition schon fest, als Anfang Oktober 1969, also kurz vor Beginn des Wintersemesters 1969/70, eine schon seit Mai/Juni 1969 von langer Hand vorbereitete zweitägige Konferenz von reformentschlossenen Professoren der Literaturwissenschaften und Linguistik aus den Fächern Sprachwissenschaften, Germanistik, Anglistik und Romanistik, vor allem aus Konstanz und Berlin, im Schloss Rheda bei Bielefeld stattfand. Der Tagungsort, das dort zunächst noch provisorisch untergebrachte Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung, war ihnen vom Hausherrn, dem Münsteraner Soziologen Helmut Schelsky, zur Verfügung gestellt worden. Unter den angereisten Teilnehmern befanden sich die führenden Köpfe der Konstanzer Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. Wer sich rückversichern möchte, was das damals bedeutete, wird daran in folgender  Formulierung erinnert: „In der legendären Gruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ traf sich die Geisteselite der alten Bundesrepublik“, heißt es im Untertitel eines Zeitungsartikels, den Hans Ulrich Gumbrecht unter dem Titel „Über Archonten“  am 22.4.2017 in der Zeitung DIE WELT veröffentlichte. Die eingeladenen Berliner Germanisten Peter Wapnewski und Peter Szondi waren damals, aus welchen Gründen auch immer, in Rheda nicht zugegen.

Auf dieser Tagung ging es, wie man allerdings erst später erkennen konnte, vor allem darum, dem Münsteraner/Konstanzer Sprachwissenschaftler Peter Hartmann (1923-1984), der seit einem Jahr der „Wissenschaftlichen Kommission“ des Wissenschaftsrates angehörte, mit einer Legitimation dafür auszustatten, federführend an der Ausformulierung eines Modellstudienganges Germanistik mitzuwirken, der die Einstufung „reformbereit“ und „zukunftsweisend“ auch wirklich verdiente. Peter Hartmann war zudem wie auch die Professoren Harald Weinrich (Jg. 1927, Köln, als Kommissionsvorsitzender), Wolfgang Iser (1926-2007, Konstanz) und der Münsteraner Germanistikstudent Jürgen Sternsdorff (Jg. 1944) Mitglied der Planungskommission des vorgesehenen Fachbereichs „Linguistik und Literaturwissenschaft“ der in Gründung befindlichen Universität Bielefeld, der dann allerdings erst im Jahr 1971 seinen Lehr- und Studienbetrieb aufnahm. Zu dem besonderen Zweck der Vorbereitung einer entsprechenden Empfehlung des Wissenschaftsrates wurde im Oktober 1969 auf der Tagung in Rheda ein „Memorandum zur Reform des Studiums der Linguistik und Literaturwissenschaft“ verabschiedet. Die Münsteraner Germanistikstudenten Jürgen Sternsdorff und ich (Jg. 1944) waren als Vertreter des „Verbandes deutscher Studentenschaften“ (VDS) zu dieser Tagung eingeladen worden, nahmen auch daran teil und stimmten durch ihre Unterschrift diesem Memorandum zu.

Ende Oktober 1969 erschien dann der Band „Ansichten einer künftigen Germanistik“ in erster Auflage, der eine neue Epoche nun durchsetzungsorientierter Studienreformvorstellungen einleitete. Er war vom promovierten Lektor des Hanser Verlages Jürgen Kolbe (1940-2008), Schüler des Münchener Neugermanisten und bekennenden Sozialdemokraten Walter Müller-Seidel (1918-2010), konzipiert, zusammengestellt und herausgegeben worden. Auch Kolbe war Tagungsteilnehmer in Rheda. In die zweite Auflage der „Ansichten“ (November/Dezember 1969) wurde dann, diesen Band ergänzend, eben dieses richtungsweisende Memorandum nebst namentlicher Nennung seiner Unterzeichner aufgenommen. Dieser gelbe Band der ‚Reihe Hanser‘‘ entpuppte sich, was keiner erahnen konnte, als ein Verkaufsschlager ohnegleichen in den frühen 1970er Jahren.

Der Herausgeber Jürgen Kolbe kommt in seinem Vorwort auf die Voraussetzungen und Bedingungen zu sprechen, die die Entstehung und Zusammenstellung dieses Sammelbandes im Laufe des Jahres 1969 begleiteten. Er bringt dazu einige aufschlussreiche Hinweise zum Kreis der dafür gewonnenen Autoren zu Papier, wenn er schreibt:

„Natürlich sind beim derzeitigen Zustand der ‚Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur‘ keine ein für allemal lindernden Rezepte gegen die herrschende Misere zu erwarten. Aber es gibt ernstzunehmende Vorschläge. Der Kreis derer, die dazu imstande und bereit sind, beschränkt sich nicht auf die Mitarbeiter dieses Bandes. Nicht alle, die einer fortschrittlichen Germanistik das Wort reden, konnten aufgefordert werden. Einige prominente Literaturwissenschaftler verzichteten aus den verschiedensten Gründen auf eine Mitarbeit. Immerhin gehört es ja auch nicht zur üblichen Praxis dieser Disziplin, über die Voraussetzungen und Bedingungen des Germanistenberufs kritische und überdies noch öffentliche Rechenschaft abzulegen. Beiläufig verrät schon die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Sammelbandes die Schwierigkeiten der Germanisten, über die Germanistik zu schreiben. Umso mehr ist den Mitarbeitern zu danken; denn so wie die Dinge liegen, gehört schon – gleichviel ob Student oder Ordinarius – eine Portion Zivilcourage dazu, die eingefahrenen Kreise durch Grundsatzreflexionen zu stören und dabei noch den möglichen Widerspruch zum Nachbarbeitrag in Kauf zu nehmen.“ (S. 7)

Es wäre ziemlich lebensfremd, davon auszugehen, dass Walter Müller-Seidel, zu dieser Zeit Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes (DGV), gerade nicht dem Kreis derjenigen zuzurechnen gewesen wäre, die als Beiträger zur Mitarbeit aufgefordert worden sind. Realitätsnäher ist, dass er als einer, der damals unbestritten der so apostrophierten Gruppe prominenter Literaturwissenschaftler in der BRD zugehörte, vielmehr auf die öffentliche Darlegung seines persönlichen Standpunktes zu Wegen und Zielen einer Reform von Lehre und Studium der Germanistik verzichtet hat. Als hochschulpolitisch diskussionsbereiter und auch streitbarer Verfechter einer moderat liberalen Position in den Auseinandersetzungen um die Demokratisierung des Bildungswesens und der Ordinarienuniversität war er fachverbandsintern ein auf fast allen Seiten geschätzter Gesprächspartner über Bayern hinaus. In der Auseinandersetzung um eine Wissenschafts- und Studienreform seines eigenen Faches blieb er dagegen für die Öffentlichkeit ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Vermutlich wollte er mit seiner Absage für die geplante Publikation vermeiden, einem auf der Hand liegenden Trugschluss Vorschub zu leisten, dass seine persönliche Meinung mit der offiziellen Haltung des DGV gleichgesetzt würde. Diese Konstellation verdeutlicht einmal mehr, dass der DGV auch im Laufe des Jahres 1969 immer noch keine verbandsintern mehrheitsfähige und  öffentlich vorzeigbare Position in diesen Fragen gefunden hatte. So waren es als Beiträger wieder die üblichen Verdächtigen, die sich aus der Deckung der mehr oder weniger schweigenden Mehrheit wagten und ihre Positionen 1969 öffentlich zur Diskussion stellten. In den „Informationen der Seminare für Deutsche Philologie“ an der Universität München blieb es den Münchener Ordinarien Friedrich Sengle (1909-1994, Neugermanistik) und Hugo Kuhn (Altgermanistik) überlassen, in Heft 6/Sommersemester 1970 unter der Überschrift „Ansichten über ‚Ansichten‘“ zu dem Kolbe-Band kritisch-distanzierend Stellung zu beziehen.

Im Vorstand des DGV machte auch Müller-Seidel aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Zielrichtung und den Inhalten der ‚Ansichten‘ kein Geheimnis. Aus den im DLA Marbach verwahrten Unterlagen des DGV geht hervor, dass sich Müller-Seidel vorstandsintern mit großer Besorgnis gegen die „sich gegen unser Fach richtende Reformpläne“ aussprach. Er zählte sich zu den „Gegenstimmen“: „Ich selbst rechne mich – natürlich als Privatperson – zu ihnen; und ich werde mich jetzt schon weigern, eine Alternative zwischen den ‚Progressiven‘ dieses Modells und den ‚Reaktionären‘ seiner Gegner als sinnvoll anzuerkennen.“[21] Dass er damit versäumte, die sich fachgeschichtlich bietende Gelegenheit zu nutzen, sich zumindest grundsätzlich auf der Seite der immer noch kleinen Minderheit verbandsinterner Reformer zu positionieren, muss ihm spätestens mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom Oktober 1970 klar geworden sein.

Mit der Konzeption und dem Programm des Stuttgarter Germanistentages 1972  hat Müller-Seidel dann den DGV an das umstrittene Niveau der kontrovers diskutierten,  inzwischen aber durchaus schon folgenreichen fachinternen Reformdiskussionen, die seit 1970/71 im Fach Germanistik an Universitäten wie der TU und FU Berlin, Marburg und an den Universitätsneugründungen (Bremen, Bielefeld, Konstanz) wie den Gesamthochschulen in Nordrhein-Westfalen Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt wurden, heranzuführen vermocht.

Jörg Schönert liefert im Zuge einer kritisch kommentierenden Auswertung der in dem Tagungsband zum Germanistentag in Stuttgart 1972[22] versammelten Beiträge ein anschauliches Bild dessen, was da verbandsintern im Schnelldurchgang aus dem zurückliegenden Jahrzehnt alles auf- und nachgearbeitet werden musste[23]:

„In der Reihenfolge der dokumentierten Referate in der Publikation zum Stuttgarter Germanistentag gibt der erste Beitrag in Sektion III (‚Literaturgeschichte als Problem‘) von Friedrich Sengle – ‚Zur Überwindung des anachronistischen Methodenstreits in der heutigen Literaturwissenschaft‘ (S. 157-170) – gleichsam eine implizite Antwort auf die ‚linksgermanistische’ Wissenschaftskritik von Ulrich Wyss; diese Position wird verdeutlicht durch Sengles Widmung zu einem Sonderdruck seiner Ausführungen an Jörg Schönert, die er einleitete mit „ein bißchen ‚Anti-Schulung’“. Sengle wandte sich (in seiner Selbstdefinition als pragmatischer Positivist) gegen die Abstraktions- und Idealismus-Denker der Hegel-Schule und des Neomarxismus; zudem attackierte er schon eingangs Jauß als den ‚neuen Theoretiker’ der Literaturgeschichtsschreibung – und mit ihm aktuelle Entwicklungen in Methodologie und Literaturtheorie der ‚deutschen Literaturwissenschaft‘ (S. 158). Sengle sah Jauß und seine Konstanzer Kollegen (S. 159f.) auf einem ‚wissenschaftlichen Holzweg‘ (S. 160). Positiv reagierte er dagegen auf Positionen von Max Wehrli und die wirkungsgeschichtlichen Projekte von Karl R. Mandelkow (S. 160). Heftig war seine Polemik gegen Gansberg und Völker (Methodenkritik der Germanistik, 1970), gegen die Ideologiekritiker und dialektischen Materialisten. Die detaillierte kritische Auseinandersetzung mit der Argumentation von Gansberg, seiner Mitarbeiterin am Münchner Lehrstuhl, führte er im Zeichen des ‚Ethos des Philologen’, d.h. in Ablehnung des ‚Methodendogmatismus‘ (S.163) und der schematischen Zuordnung literarischer Texte zu literaturexternen Konstellationen (S.164). Doch hielt er sich offen gegenüber der ‚Einbeziehung soziologischer Kategorien‘ in die Literaturgeschichtsschreibung (S.166).“ (Schönert S. 9)

„Unabhängig vom Geschehen im Arbeitskreis und im Anschluß an die Diskussionen zur Geschichte der Germanistik beim Münchner Germanistentag 1966 konzipierte Georg Stötzel seinen Beitrag ‚Fachgeschichte und Reformprobleme‘ (S. 629-648), der für eine gründliche Reflexion der wissenschaftstheoretischen Grundlagen in den aktuellen Reformdebatten der Germanistik plädierte und vor überstürztem Pragmatismus warnte (vgl. S. 629f.). Zudem sollten durch verstärkte Hinwendung zur Fachgeschichte die Bedenken gegenüber dem Studien- und Schulunterrichtsmodell einer (die Nationalkulturen übergreifenden) Allgemeinen Sprachwissenschaft und Allgemeinen Literaturwissenschaft, wie es von Harald Weinrich und Wolfgang Iser entworfen worden war, gestärkt werden (vgl. S. 631-633), indem eine zwingende Verbindung von diszplinärer Entwicklung der Germanistik und ‚Nationalismus’ in Frage zu stellen war. Wissenschaftstheoretische Einwendungen erhob Stötzel insbesondere gegen Reformforderungen, die in Beiträgen zu ‚Ansichten einer künftigen Germanistik‘ (1969) formuliert waren (vgl. S. 638-647); diese Kritik wurde zum eigentlichen Schwerpunkt seines Referats, das in den Beiträgen des Bandes allenfalls ‚Problemformulierungen’, jedoch keine tragfähigen ‚Problemlösungen’ für die Reform der Germanistik erkannte.“ (S. 16f.)

Auf der Zusammenkunft der Hochschulgermanisten in Stuttgart 1972 blieb, wie man sieht, die versammelte Schar der Bedenkenträger – ihre eigenen Versäumnisse selbstrechtfertigend – immer noch hinter den tatsächlichen Entwicklungen zurück, denn die Karawane der „linken Modernisierer“ war längst unbeirrt des Weges weitergezogen.

8. Ausblick: Studienreform als Wissenschaftsreform im roten Jahrzehnt der 1970er Jahre

Als der Wissenschaftsrat im Oktober 1970 im Zusammenwirken mit dem „Deutschen Bildungsrat“, „Empfehlungen zur Reform des deutschen Bildungswesens“ veröffentlichte, war auch diesen wiederum ein „Modellstudiengang Germanistik“ beigefügt. Diesmal durfte unter den Vorzeichen der angekündigten Bildungsreformen der seit Oktober 1969 regierenden SPD/FDP-Bundesregierung das noch recht winzige, aber fachlich höchst reputierliche Häuflein einer inzwischen entstandenen, literaturwissenschaftlich und linguistisch fächerübergreifenden Studienreform-Fraktion von immer noch vergleichsweise wenigen Professoren diesen Modellstudiengang für den Wissenschaftsrat ausformulieren. Mit dem Berliner Germanisten Eberhard Lämmert und dem Münsteraner/Konstanzer Linguisten Peter Hartmann waren zwei von den drei dafür federführenden und verantwortlich zeichnenden Autoren Mitunterzeichner des „Rhedaer Memorandum zur Reform des Studiums der Linguistik und Literaturwissenschaft“ (Oktober 1969). Bei dem Dritten in diesem Bunde handelte es sich um den Fachdidaktiker Professor Winfried Pielow (1924-2018) von der Pädagogischen Hochschule Münster.[24]

Mit diesem vom Wissenschaftsrat abgesegneten ‚Modellstudiengang‘ (siehe: Anhang) wurde dann endlich und endgültig die Veto-Macht der reformunwilligen Germanistik-Professoren in den Philosophischen Fakultäten der traditionellen Ordinarienuniversitäten gebrochen und damit vor allem dem Lehr- und Studienfach Germanistik an den westdeutschen Universitätsneugründungen und den in Nordrhein-Westfalen 1971 errichteten Gesamthochschulen zeitgemäße Entwicklungsperspektiven und methodisch wie inhaltlich ganz neue Wege der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache und Literatur in Forschung, Lehre und Studium eröffnet.[25] Um es salopp zu formulieren: Mit diesem ‚Memorandum‘ und den von dem hochschulpolitisch und strategisch besonders versierten Sprachwissenschaftler Peter Hartmann inspirierten und mitformulierten Studienreform-Empfehlungen des Wissenschaftsrats von Oktober 1970 war die reformpolitische Messe der staatlichen Verantwortungsträger in den Bildungsverwaltungen längst gelesen. Die „alte Tante Germanistik“ war mit dem Segen von oben mit der Zielvorgabe auf einen nur in Umrissen skizzierten Weg geschickt worden, sich als Literatur- und Kulturwissenschaft neu zu erfinden.

Die ‚Roten Zellen‘ und die darauf folgenden K-Gruppen in der Germanistik mussten sich jetzt darauf kaprizieren, eine materialistisch-marxistisch-kommunistische Literatur- und Sprachwissenschaft einzufordern. Das blieben aber, insoweit man in Berlin, Bremen und Marburg in den frühen 1970er Jahren damit anfing, einen solchen Anspruch Schritt für Schritt mühsam einzulösen, letztendlich theoretisch, methodisch und materiell weitgehend uneingelöst gebliebene Versprechen.

Der erste Kolbe-Band (Oktober 1969), der Folgeband „Neue Ansichten einer künftigen Germanistik“ (1973), das „Memorandum von Rheda“ (Oktober 1969) und der ‚Modellstudiengang Germanistik‘ der Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom Oktober 1970 lieferten nunmehr die bildungs- und hochschulpolitisch abgesicherte Leitlinie und Grundlage der Studienreformdiskussion in der Germanistik wie auch für deren planerische Konzeptualisierung und Umsetzung im Laufe des sog. roten Jahrzehnts der 1970er Jahre. Deren Aus- und Folgewirkungen für die inhaltliche Ausgestaltung des Schulunterrichts in den Sekundarstufen der allgemeinbildenden Schulen wurden dann allerdings am Beispiel der „Hessischen Rahmenrichtlinien für den Deutschunterricht“ noch einmal zum Gegenstand eines bis dahin noch nicht erlebten und auf Biegen und Brechen geführten „Kulturkampfes“ in der zweiten Hälfte jener 1970er Jahre, bei dem wiederum Sozialdemokraten auf beiden Seiten der Barrikaden kämpften.

Anhang

1. Peter Schütt, Für die Öffnung nach links, in: DIE WELT, Nr. 259, 5.11.1966 (pdf-Datei hier)

2. Kongressberichte zum Berliner Germanistentag im Oktober 1968 – ein bibliographischer Überblick (pdf-Datei hier)

3. Die ‚Empfehlungen des Wissenschaftsrates“ vom Oktober 1970 – „Ausbildung im Fach Germanistik“. Abstract (pdf-Datei hier)

Anmerkungen

Frau Dr. Sabine Koloch hat in frühen Stadien der Entstehung dieses Textes bei wiederholter Durchsicht auf Stringenz und Lesbarkeit der Darstellung insistiert. Prof. Dr. Jörg Schönert hat durch anhaltende Ermutigung, fachgeschichtlich wichtige Hinweise und zahlreiche Verbesserungsvorschläge entscheidend zur Endfassung dieser Darstellung beigetragen. Beiden bin ich auf ganz unterschiedliche Weise zu großem Dank verpflichtet.

[1] Vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.

[2] Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung, Münster: Ardey 2018.

[3] Vgl. Kristina Schulz: Studentische Bewegungen und Protestkampagnen,in: Roland Roth und Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt am Main: Campus 2008, S. 417-446.

[4] Michael Pehlke: Aufstieg und Fall der Germanistik – von der Agonie einer bürgerlichen Wissenschaft, in: Jürgen Kolbe (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Germanistik, München: Hanser 1969, S. 18-44.

[5] Detlef Siegfried: Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim: Juventa 2008, S. 14.

[6] Peter Brandt: 1968 – eine radikale Demokratisierungsbewegung, online-Version vom 21.7.2008.

[7] Vgl. Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn: Schöningh 2005.

[8] Zur sog. „45er“-Generation werden die Alterskohorten gezählt, die zwischen 1918 und 1930 geboren worden sind.

[9] Karl Otto Conrady: Miterlebte Germanistik. Ein Rückblick auf die Zeit vor und nach dem Münchner Germanistentag von 1966, in: Diskussion Deutsch 100, 1988, S. 126-143, hier S. 142.

[10] Helmut Schelsky: Abschied von der Hochschulpolitik oder Die Universität im Fadenkreuz des Versagens, Bielefeld: Bertelsmann 1969, S. 142.

[11] Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen, Mai 1966.

[12] Vgl. Heinz Theodor Jüchter: Studienreform 1966, herausgegeben vom Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), Bonn, Februar 1967.

[13] Christoph König und Thomas Sparr (Hrsg.): Peter Szondi Briefe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 198.

[14] Als kritische Ausnahme ist zu nennen:  Jörg Schönert, Versäumte Lektionen? – 1968 und die Germanistik in der BRD in ihrer Reformphase 1965 – 1975. literaturkritik.de 8/2008.

[15] Olaf Bartz: Wissenschaftsrat und Hochschulplanung. Leitbildwandel und Planungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1957 und 1975, Köln 2006 (zit. aus der von der UB Köln ins Netz gestellten Dissertation). 

[16] Uwe Pörksen: Weißer Jahrgang. Autobiographischer Roman, Düsseldorf: Böhme und Erb 1979, S. 211.

[17] Zitiert wird aus Unterlagen des DGV, die im DLA Marbach verwahrt werden.

[18] Peter Schütt: Entwicklung der demokratischen Bewegung an der Universität Hamburg im Wintersemester 1967/68, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 13. Jg., Heft 4, 1968, S. 380-389.

[19] Rainer Gruenter: Die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in: Gert Kalow (Hrsg.), Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker? 14 Antworten, Reinbek: Rowohlt 1965, S. 116-123.

[20] Siehe Anm. 4: Michael Pehlke, Aufstieg und Fall der Germanistik.

[21] Brief von Walter Müller-Seidel vom 7.1.1970 an Olaf Schwencke, den Leiter der ‚Evangelischen Akademie Loccum‘.

[22] Walter Müller-Seidel in Verbindung mit Hans Fromm und Karl Richter (Hrsg): Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München: Wilhelm Fink 1974.

[23] Jörg Schönert: ‚Stuttgart 72‘ – zu einem historischen Germanistentag in Verantwortung von Walter Müller-Seidel (PDF-Datei auf der Müller-Seidel-Website in der Fassung vom 6.3.2012).

[24] Eberhard Lämmert: Das überdachte Labyrinth. Ortsbestimmungen der Literaturwissenschaft 1960-1990, Stuttgart: Metzler 1991, S. 287.

[25] Konzeptuell und paradigmatisch dazu: Marie Luise Gansberg/Paul Gerhard Völker: Methodenkritik der Germanistik. Materialistische Literaturtheorie und bürgerliche Praxis, Stuttgart: Metzler 1970.