Lyrik als Verhör

Ulf Stolterfohts Debut "Fachsprachen"

Von Nicolai KobusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Kobus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Fachsprachen", funktionaler Jargon, das auf Präzision und Effektivität gerichtete, mitunter kryptische Sprechen nach den Regeln eines klar umgrenzten Metiers: prosaisch, trocken, rationell und vom Fluidum des "Schönen" allenthalben weit entfernt. - Wenn ein Lyriker einen Gedichtband, sein Debut zumal, derart betitelt, ist das entweder die Ankündigung einer literarischen Dürreperiode oder aber ein nicht unironischer Reflex auf das eigene Tun: "mal richtig abzumanteln/ bis aufs morph. gut. freitag: arbeit am wort-/ schatz. liebevolles eindringen in den sprachleib.// samstag: bereitstellung eines zeichenvorrats. be-/ griffsinventur. sonntag: sonderlexik. halbtermini./ scheinsubstantivierung. am abend jeweils arbeitsdienst/ in kontextfreier rede".

Der 1963 in Stuttgart geborene Wahlberliner Ulf Stolterfoht arbeitet sich tatsächlich an Fachsprachen ab. Das eben Zitierte findet sich unter dem Titel "DIN 2330: begriffe und benennungen. allgemeine grundsätze." in der sechsten von insgesamt neun fein säuberlich durchnumerierten Textgruppen, die ihr Ausgangsmaterial allesamt je verschiedenen, zumeist eben sehr prosaischen Fachsprachen verdanken (in diesem Fall einigen Ausgaben der Zeitschrift "muttersprache"). Der Verdacht liegt nahe, hier werde ein Verfahren recycelt, mit dem in den 60ern gern aktiv moderner Versrede mißtraut wurde, indem man schlichte Prosatexte mehr oder weniger willkürlich zu Gedichtzeilen umbrochen hat. Die streng abgemessenen, drei- bis fünfzeiligen Strophen Stolterfohts sind davon jedoch weit entfernt. Zwar speist auch er seine Texte mit Fremdfutter, zuweilen ist gar ein ganzes Gedicht ein einziges Zitat. Die Raffinesse aber, mit der Stolterfoht Zeilen auf- und umbricht, Sätze sorgsam segmentiert und in filigraner Montage neu arrangiert, gibt der Lyrik auf Umwegen ihre exponiertesten Qualitäten zurück: semantische Verdichtung innerhalb einer konzis geschlossenen Form und eine fast musikalische Klangstruktur, die sich hier nicht aus geordneter Rhythmik und festem Versmaß ergibt, sondern über Binnenreime und Assonanzen wie beiläufig aus der Textur klingt: "das wort// vom obst im auge des betrachters. der pfahl als/ balken oder splitter. der satz vom angestammten/ ast. das wort vom stamm ein zwitter. mal so: das falsche obst am rechten platz." Zum Teil treibt Stolterfoht das Verschachteln der einzelnen Segmente so weit, daß man unweigerlich den linearen Lesefluß verläßt und auf den Zeilen zu tanzen beginnt. "Die wenigen, die was davon erkannt - wovon eigentlich? Vom Satzbau." Stolterfoht hat "was davon erkannt", weshalb er das Bennsche Bonmot auch genüßlich zititeren darf.

Daß sich das alles nicht im theoriefreien Raum abspielt, versteht sich von selbst. Das Sympathische an diesem Band ist allerdings die abgeklärte Ironie, mit der Stolterfoht jedes Anbiedern an sprachtheoretische Diskurse vermeidet, indem er deren prominente Stichwortgeber kurzerhand als Werkstoff seinen Textgebilden einverleibt; vorzugsweise die logisch-sprachanalytischen Ansätze des Positivismus von Frege über Wittgenstein bis Quine; mal unverhohlen im O-Ton ("zwei satzstöcke für gottlob frege"), mal im Gedankengang versteckt: "das folgende// beruht wie so vieles auf einem verhör. gestalt seines werdens/ mischt es entsprechend verlustig gehalt mit verdank: sein/ bestand. es erscheint fehlerhaft und birgt wie so manches/ nichts weniger als ein sekret."

Wer verhört hier wen? Und vor allem: Was soll hier aufgedeckt, entschleiert werden? Falsche Fährte. Reflexiv erst wird ein Satz daraus. Das "verhör" ist hier weniger das insistente Löchern eines Gegenübers zwecks Freipressung von Informationen, sondern dieses verhör! ist im abseitigen Wortsinn zu nehmen als kategorischer Imperativ der Stolterfohtschen Poetik: Trainiere den Sprachsinn auf alles neben der vordergründigen Bedeutung Liegende! Stolterfoht kalkuliert mit dem Ver- und Überlesen, dem lesenden Verschleifen und assoziativen Anklang, erhebt die permanente optisch-akustische Täuschung zum Formprinzip. Daß hier neben "gehalt", "verdank" und "bestand" auch stillschweigend Gestalt und Verstand eingeschrieben sind, erschließt sich über das Verhören resp. Verlesen; erst dann verwandelt sich auch das verborgene "sekret" vom schnöden deutschen Körpersaft ins englisch verschriebene Geheimnis.

Hinter all dem spielerischen Elan, hinter der ironisch veredelten Lust am technischen Beherrschen des Materials steckt allerdings ein ernstes Anliegen: die Suche nach einer - zumindest funktionalen - Verbindlichkeit von Sprache. Was Stolterfoht schließlich gewonnen hat, ist indes eine neue Fachsprache, den vielstimmigen und sensiblen Jargon seiner eigenen Lyrik. In seltenen Fällen, wenn jemand souverän mit ihnen umzugehen versteht, zeugen Fachsprachen vom Reflexionsniveau, auf dem ein bestimmtes Metier verhandelt wird; und mit ein wenig Glück setzen sie neue Standards.

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Stolterfoht. Ulf: Fachsprachen I-IX.
Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein/Wien 1998.
124 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3905591014

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