Die grenzenlose Ferne gehört zum Letzten, was er gestaltet hat

Der große Van-Gogh-Atlas führt uns zu mehr als 20 Lebens- und Schaffensstationen des großen Malers

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vincent van Gogh hat in mehr als 20 Orten gelebt, von Zundert im niederländischen Brabant bis nach Auvers-sur-Oise im Norden Frankreichs. Er hat sich in den belgischen Kohlengruben aufgehalten, in Den Haag, London, Amsterdam, Brüssel und Antwerpen, in der internationalen Kunstszene in Paris, in den Herbergen und Krankenhäusern Südfrankreichs. Und er ist in einem Dorf unweit von Paris nach einem Selbstmordversuch gestorben. Dieser reizbare und ungeduldige Holländer hat von jedem seiner Wohnorte unzählige Briefe an Freunde und Verwandte, vor allem an seinen Bruder Theo, verschickt und ihnen auch Zeichnungen und Bilder beigefügt. Es sind Meisterwerke der Bekenntnisliteratur. Von ihm sind heute noch etwa 1.300 Zeichnungen und 820 Briefe, davon 658 an seinen Bruder Theo, erhalten. Von den Antwortbriefen an Vincent sind dagegen nur 41 überliefert, denn Vincent verbrannte seine Post gleich nach dem Lesen.

Die Kunsthistoriker und Autoren René van Bierk, Nienke Denekamp und Teio Meedendorp haben 2015 in den Niederlanden einen Van-Gogh-Atlas vorgelegt, der jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Genauestens werden die Lebens- und Schaffensumstände des Malers in den einzelnen Orten beschrieben. Fotomaterial und Lageskizzen unterstützen diese Beschreibungen, in die auch die Selbstzeugnisse van Goghs – die Briefe –, aber auch andere Zeitdokumente Eingang finden. Die Handschrift des Künstlers wird ebenso abgebildet wie die Gegenstände, die er seinen Sendungen beilegte. In der Fülle des Abbildungsmaterials gehen dann allerdings die Zeichnungen und Gemälde Vincents, denen hier doch eine Dominanz zukommen müsste, die aber zum größten Teil nur kleinformatig abgedruckt werden, ziemlich unter.

Der große van Gogh Atlas ist einfach und verständlich geschrieben, soll diejenigen, die sich intensiver mit dem Werk van Goghs beschäftigen wollen, ansprechen, weniger die schon mit dem Werk Vertrauten, für die aber das von überall her zusammengesuchte zeitgeschichtliche Material von Interesse sein dürfte.

Im Pfarrhaus des Brabanter Dorfes Zundert – sein Vater war Pastor der niederländischen reformierten Kirche – wurde Vincent 1853 geboren. Mit 16 Jahren stand er vor der Berufsentscheidung. Er erhielt eine Anstellung in einer Den Haager Kunsthandlung, bei der Vincents Onkel Miteigentümer war. Nach 4 Jahren in Den Haag wurde er in die Londoner Filiale versetzt, danach in eine andere Filiale in Paris. In seiner Freizeit betrieb er ein Bibelstudium. Noch nichts deutet auf ein Künstlerdasein hin. Nach einem Intermezzo als Hilfsschullehrer brachte ihn Onkel Cent in einer Buchhandlung in Dordrecht unter. Vincent aber wollte nach Antwerpen, um Theologie zu studieren. Doch bald schon brach er das Studium ab und kehrte in das Elternhaus nach Etten zurück. Sieben Jahre, nachdem er Amsterdam verlassen hatte, kehrte er wiederum dorthin zurück: Er wollte Rembrandts Gemälde im neuen Rijksmuseum sehen. Er malte ein paar Ansichten der Stadt, die einzigen, die er von Amsterdam je gefertigt hat.

Aber schon reifte, so lassen uns die Autoren wissen, bei ihm ein neuer Plan: Er wollte ins Borinage, eine arme Bergarbeitergegend in Belgien, unweit der französischen Grenze, um hier den Armen zu helfen. Vincent versuchte sich an „ungeschickten Kritzeleien“, mit 27 Jahren hatte er nun keine Zeit mehr zu verlieren, um Künstler zu werden. Er zeichnete die Kunstdrucke nach, die Theo ihm schickte. Er schrieb sich für den kostenlosen Unterricht an der Kunstakademie in Brüssel ein, den er aber nur kurze Zeit besuchte. 1881 kehrte er ins Elternhaus in Etten zurück, wo ihm die Eltern ein erstes eigenes Atelier einrichteten. Der angeheiratete Cousin Anton Mauve regte ihn zur Ölmalerei an. In Den Haag vertiefte sich Vincent auch in die Aquarellmalerei und in das Zeichnen nach Modellen, die er auf dem Bahnhof, in den Arbeitervierteln, Suppenküchen und Spitälern suchte. Er lebte mit einer Prostituierten zusammen, die gerade ihr zweites Kind entbunden hatte, und machte Zeichnungen von ihr und ihren Kindern.

Kein Künstler hat so ausführlich und rückhaltlos wie van Gogh schriftlich Zeugnis abgelegt von seinen Gefühlen und Gedanken, seinen wechselnden Stimmungen. Aus der dauernden Einsamkeit resultiert eine Art von Weltentfremdung  und Lebensangst. Seine Frühwerke tragen noch die Prägung sozialkritischer Aussage. Die Hinwendung zur Natur wird dann fast zu einer Flucht aus der harten Welt des Lebenskampfes. Während der Bruder Theo die „Koloristen“ in Paris lobte, bekannte sich Vincent zu Anton Mauve, Jean-François Millet und Israels und wollte bei seinen braunen Tönen bleiben. Das Gemälde der Kartoffelesser, um dessen Gestaltung er ein Jahr lang gerungen hatte, wurde sein erster Durchbruch. Neben die von ihm verehrten Holländer trat für ihn nun in Belgien die flüssige und leichte Kunst Rubens’. Dazu kamen die japanischen Farbholzschnitte, die er sich in seiner Behausung aufhängte. Sie bereiteten – auch wenn er der Kunst der kräftigen Farben noch fern war – die Wandlung vor, die sich wenig später in seiner Malerei vollziehen sollte und die sein Verhältnis zur Natur und ihrer Darstellung neu gestaltete. Noch in Nuenen – er malte jetzt die Weber bei ihrer Arbeit, die Bauern auf dem Feld, gab die Armut der Behausungen wieder – träumte er davon, in Paris „die Technik und Farbe von Millet, Delacroix, Corot“ erneut zu studieren, in Amsterdam ahnte er schon, dass ihn dort Eindrücke von noch stärkerer Intensität erwarten würden, und sein Bekenntnis zum Japonismus war ein erster Schritt auf neuen Wegen.

In Paris trat er dann ein in die Welt der ‚modernen‘ Maler, der Impressionisten. Paul Signac und seine Technik des Pointillismus wirkten auf ihn, Camille Pissarro nahm sich seiner an, Hochschätzung empfand er jetzt für Claude Monet. Seine engsten Freunde, Emile Bernard und Paul Gauguin, haben ihn in Paris merkwürdigerweise am wenigsten beeinflusst. Unter dem Einfluss der Impressionisten hellte sich seine Farbskala auf, es ging ihm nun weniger um die tiefgründige Formulierung einer geistigen Aussage als vielmehr um das Festhalten des einen flüchtigen Augenblicks. Aber noch besaß er nicht den Mut zum ungebrochenen leuchtenden Ton, empfand er Scheu vor der Einfarbigkeit einer ruhigen Fläche.

Erst im Süden Frankreich, in Arles, fand er die klaren Himmel und Farben wieder, die er von den japanischen Farbholzschnitten her kannte. 1888 – „weil man nicht nur in Afrika, sondern schon von Arles an herrliche Kontraste von Rot und Grün, von Blau und Orange, von Schwefel und Lila finden kann. Alle wirklichen Maler müssen dahin kommen, müssen zugeben, dass die Farben hier anders sind als im Norden“, schrieb er an Theo. Er träumte von einem „Atelier des Südens“. Großartige Werke entstanden wie etwa Brücke in Arles, Fischerboote bei Saintes-Marles, Caféterrasse bei Nacht, aber auch Das Schlafzimmer oder Der gelbe Stuhl. An dieser unerklärlichen Fremdheit den einfachen Dingen gegenüber war van Gogh stets interessiert. Ihn, den Maler, schauen die Möbel an als Wesen – er bestätigte: „die nur vorgestellten Dinge nehmen einen geheimnisvollen Charakter an“. Er malte die Bauernhöfe von La Crau und die Ebene von Le Trébon. Er sah in den weiten Ebenen „das Unendliche… die Ewigkeit“. Vor allem aber bereitete er sich auf den Besuch Gauguins vor. Aus den Gesprächen wurden Diskussionen und schließlich Streit. Vincent erlitt einen Nervenzusammenbruch. Er war so verwirrt, dass er sich das linke Ohr abschnitt. Ein zweiter Zusammenbruch erfolgte und er wurde abermals ins Krankenhaus eingeliefert. Eine Unterschriftensammlung der Nachbarn gegen den „fou roux“, den „rothaarigen Irren“, erfolgte und Vincent beschloss, sich in die Anstalt von Saint-Rémy-de-Provence einweisen zu lassen. In Arles hatte er 180 Bilder gemalt, aber der Traum von einem Atelier im Süden war vorbei. Nicht nur die ungeheure Kraftanstrengung, die Rastlosigkeit des Schaffens hat ihn verbraucht und den jähen Verfall herbeigeführt. Vincent zog eine erschütternde Bilanz seiner verlorenen Hoffnung in Arles:

„Das ist erledigt, und meine Anstrengung, eine ganz einfache, aber dauerhafte Sache zu gründen, war mir doch so ernst. Das hieß, gegen eine Naturgewalt ankämpfen, oder vielmehr, das war eine Charakterschwäche meinerseits, wovon mir schwere Gewissensbisse, die schwer zu erklären sind, übrig blieben. Ich glaube, das war die Ursache, warum ich in den Krisen so sehr schrie, ich wollte mich verteidigen und es gelang mir nicht“.

Er nannte die Heilanstalt in Saint-Rémy zwar „einen Zoo“, fühlte sich aber zunächst in guten Händen. Er hatte ein eigenes Zimmer und zudem eines, das er als Atelier nutzte. Er konnte im Garten, später auch in der Landschaft der Alpilles malen. Schließlich kam es zu einem Rückfall, er erhielt vorübergehend Mal- und Zimmerverbot und litt unter der zwangsläufigen Einsamkeit. Seine wechselnden Empfindungen trug er ein in die Bilder dieses stets gleichen, immer bereiten Stücks Natur, das er aus dem Fenster des Krankenzimmers von Saint-Rémy sah. Das Bild der wie eine Flamme bewegten Zypressen Der Weg mit den Zypressen und dem Stern entspricht ganz seiner seelischen Befindlichkeit. Inzwischen lebte er schon ein Jahr in der Anstalt, hatte dort etwa 150 Bilder gemalt und ebenso viele gezeichnet. Aber er wollte zurück in den Norden, nach Auvers-sur-Oise, einem Künstlerdorf unweit von Paris, in dem auch ein Arzt – Dr. Cachet – wohnte, der Vincent betreuen konnte.

Dort unternahm er Spaziergänge in die ländliche Umgebung, er durfte auch im Garten der Witwe von Daubigny arbeiten. Es entstanden Gemälde mit Kornfeldern – die grenzenlose Ferne gehört zum Letzten, was er gestaltet hat. Früher löste sie Beglückung aus, jetzt wurde sie ihm Ausdruck der Einsamkeit und des Verlorenseins. In einem Anfall von Schwermut, in einer Aufwallung hoffnungslosen Verzweifelns kam es zu einem Selbstmordversuch, nach dem van Gogh wenige Tage später – den aus Paris herbeigeeilten Bruder Theo an der Seite – starb.

„Es ist nicht meine Schuld, dass meine Bilder nicht verkauft werden. Doch der Tag wird kommen“, hatte Vincent an Theo aus Arles geschrieben. Theo, der Kunsthändler in Paris, konnte zu Lebzeiten seines Bruders nur ein einziges Bild von ihm – Der rote Weinberg – verkaufen. Zwar hatte Vincent kurz vor seinem Tode zahlreiches Lob von Kritikern und Künstlern erhalten. Doch eine allgemeine – weltweite – Würdigung seiner Werke sollten weder er noch Theo erleben, der 6 Monate später starb.

Vincent van Gogh war erst 37 Jahre alt, als er sich erschoss, aber er hat allein in den vier Jahren von 1886 bis 1890 die Geschichte der Kunst verändert. Eines seiner Vermächtnisse ist die Freisetzung der Farbe; mit rein optischen Mitteln war es nun möglich, überwältigende Gefühle hervorzurufen. Er hat die moderne Syntax der Farbe erweitert, sodass sich Mitleid und Schrecken zum formalen Experiment und zur Sinnenfreude gesellten. Bei ihm wird die Formsubstanz durch leidenschaftliche, selbstzerstörerische Deutung zum Schauplatz seelischer Expression.

Van Gogh gehört zu den wenigen Künstlern, deren Ängste man nicht von ihrer Kunst trennen kann. Er hatte Anfälle von Verzweiflung und Halluzinationen, da konnte er nicht arbeiten. Aber dazwischen gab es auch lange, klare Monate voller Arbeit, die Augenblicke von äußerster visionärer Ekstase enthielten. In Sternennacht (1889) tritt der Mond aus der Verfinsterung hervor, die Sterne blitzen und tanzen – und die Rhythmen im Himmel übernehmen nun die Zypressen in ihren schwarz flammenden Silhouetten. Sie leiten den Aufruhr des Himmels zur Erde und stellen damit einen geschlossenen Energiekreis in der ganzen Natur her. Oder Der Sämann (1888): Eine schwarze Gestalt, die unter dem chromatischen Druck der Sonnenscheibe hinter ihr zusammenschrumpft, streut gelbes Korn auf die Erde. Die allgegenwärtige Sonne vermittelt den Eindruck, dass alles Leben unter dem  Einfluss eines mächtigen fremden Willens steht und dass eine Arbeit wie Säen und Ernten nicht einfach Arbeit ist, sondern eine Allegorie von Leben und Tod. Derartige Arbeiten sind voller Symbolismus, den auch die Autoren des Buches hätten stärker zum Ausdruck bringen müssen. Für van Gogh war die Natur zugleich herrlich und fürchterlich; sie brachte ihm Trost, aber sie richtete ihn auch. Sie war ein Fingerabdruck Gottes, und dieser Finger zeigte immer auf ihn.

Ein Atlas ist eine Sammlung von Bildtafeln respektive Bilddaten, ein Nachschlagewerk. Das ist dieser Van-Gogh-Atlas auch, doch in erster Linie gleicht er einer reich illustrierten Biografie.

Titelbild

Nienke Denekamp / René Blerk / Teio Meedendorp (Hg.): Der große van Gogh Atlas.
Übersetzt von Marlene Müller-Haas.
Sieveking Verlag, München 2017.
182 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783944874753

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