Kuss um Kuss

Angela Steidele erzählt Anne Listers Liebes- und Lebensgeschichte

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Galt es zu Beginn des 19. Jahrhunderts als allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender brauchte als eine Frau, so herrschte umgekehrt umso mehr die Auffassung, dass eine Frau ohne Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender benötigte als einen Ehemann.

Was jedoch, wenn die fragliche Frau – obwohl sie das Geld zeitlebens gut hätte verwenden können – so gar kein romantisches Interesse für das männliche Geschlecht aufbrachte? Ein Mädchen, das lieber durch die Felder streifte als hauswirtschaften lernte, der Nanny entwischte, um sich zum „einfachen Volk“ zu stehlen und nichts dagegen hatte, „für ein bisschen verrückt gehalten zu werden“. Eine Frau, die Sprachen und Anatomie studierte, sich – mit im Rückblick ein wenig unlauter erscheinenden Methoden – im heimischen Wahlkampf für den Kandidaten der konservativen Partei engagierte, eine Kohlemine eröffnete, als sie die Wichtigkeit der Dampfmaschine erkannte und die reiste, reiste, reiste – nach Paris und nach Schottland, nach Italien und in die Schweiz, durch Deutschland, Norwegen und Russland.

Anne Lister, geboren 1791 im englischen Yorkshire, verstorben 1840 auf einer anstrengenden Reise durch den Kaukasus, entsprach sicher nicht unseren Vorstellungen von einer Landadligen des präviktorianischen Zeitalters. Umso schöner, dass sie ein ausführliches diaristisches Werk hinterlassen hat. Für Lister bedeutete ihr Tagebuchschreiben eine Art Selbsttherapie: „In den letzten 2 ½ Stunden habe ich mich selbst von mürrischem Trübsinn in heitere Zufriedenheit geschrieben.“ Und im schreibenden Nachvollzug ist es ihr, „wie wenn ich mein Leben noch einmal führen würde“. Sie war entschlossen, ihr Dasein „nicht ohne ein persönliches Denkmal der Erinnerung vorüberziehen zu lassen“.

Lister hinterließ 24 Bände mit eng beschriebenen Seiten, davon cirka 1/7 in einer selbst erdachten Geheimschrift. Zuweilen verfasste sie bis zu 750 Worte am Tag. Ihr Textteppich war so ausladend, dass die Tagebuchautorin selbst ihre Aufzeichnungen verschlagwortete, um bestimmte Absätze zur Re-Lektüre wiederzufinden.

Listers Dokumente, Tagebücher und Briefe entdeckte ihr Erbneffe Jahrzehnte nach ihrem Tod und veröffentlichte Auszüge aus den lesbaren Anteilen zwischen 1887 und 1892 im Halifax Guardian als Zeugnis der Lokalhistorie. Die chiffrierten Teile blieben John Lister dagegen zunächst ein Rätsel – bis es ihm mithilfe eines befreundeten Antiquars namens Arthur Burrell, der sich mit Geheimschriften befasst hatte, gelang, den Code der Tante zu entschlüsseln. Was die beiden dann nächtens dechiffrierten, frappierte zumindest Burrell so sehr, dass er dem Freund schockiert riet, die Texte zu verbrennen.

Was dort nämlich – nun unverschlüsselt – zu lesen war, waren Beschreibungen der amourösen Abenteuer Annes. Die Landadlige hatte sich Tag um Tag fleißig und erstaunlich detailliert notiert, mit wem und wie oft sie in der vorherigen Nacht Sex und ob sie sich selbst befriedigt hatte. Darüber hinaus hielt sie die Anzahl und Qualität der Orgasmen fest, die sie „Küsse“ nannte. Dabei war Anne nicht nur unverheiratet geblieben – ihre Bettgefährten waren auch noch ausnahmslos Frauen!

Gelegentlich musste der „Schreibakt“ ihr allerdings auch den „Liebesakt“ ersetzen, wenn die Geliebte sich sperrte und ihren Verführungskünsten nicht rasch genug erlag. Dabei machte Anne aus ihren Gefühlen meistenteils keinen Hehl, diskutierte so beispielsweise offen mit Tante und Onkel über die Frau, mit der sie ihr Leben verbringen wollte: „Ich empfand mein Verhalten und meine Gefühle als natürlich, da sie nicht angelernt oder fingiert waren, sondern angeboren… Ich war nie anders & konnte dem mit keiner Anstrengung gegensteuern.“ Sie teilte das Bett mit ihren Gefährtinnen, was nicht einmal als unschicklich galt: Solange kein Mann im Raum war, blieb die Unschuld der Damen unangetastet. Dass auch zwei Frauen ein Liebesabenteuer teilen konnten, war zwar nicht un-, aber sehr schwer vorstellbar. Dennoch sah auch Lister sich Angriffen auf ihre Person ausgesetzt – auf dem Land brodelte die Gerüchteküche, man versuchte sie in Verlegenheit zu bringen und zu diskreditieren.

Anne Lister betrog ihre Liebhaberinnen, gestand allen ihre alleinige und ewige Liebe, spielte sie gegeneinander aus. Ihre langjährige Gefährtin Anne Walker, mit der sie 1834 einen privaten Hochzeitstag feierte, subventionierte über viele Jahre hinweg Renovierungen von Listers Landsitz Shibden Hall und die – oft fehlgeleiteten – Investitionen der Landadligen. Auch war Anne berechnend, suchte nach einer reichen weiblichen Partie, um ihre Reisen und geschäftlichen Unternehmungen zu finanzieren. Der Schwester redete sie dagegen eine Ehe aus, um nicht deren möglichen – männlichen – Kindern das ererbte Gut überlassen zu müssen.

Der offenbar von diesen Enthüllungen weit weniger als der Freund schockierte John Lister zerstörte die Schriften jedoch nicht, sondern versteckte sie so offensichtlich in seinem Haus, dass sie nach seinem Tod wiedergefunden werden mussten. Auf diese Weise landeten die Texte im Giftschrank der Stadtbibliothek von Halifax, erst in den 1980er und 90er Jahren erschienen die ersten Editionen von Helena Whitbread und Jill Liddington und erreichten eine zum Teil erschütterte britische Öffentlichkeit. Noch immer sind nicht alle in Geheimschrift verfassten Stellen des Tagebuchs vollständig dechiffriert.

Angela Steidele hat es sich dennoch zur Aufgabe gemacht, Listers „erotische Biographie“ zu schreiben. Ihr Text ist dabei sowohl nach den Lebensabschnitten als auch nach den Partnerinnen Annes gegliedert – man kann das abwechslungsreiche Liebesleben der Landadligen schon im Inhaltsverzeichnis nachvollziehen. Dennoch liegt der Fokus Steideles zu gleichen Teilen auf Listers pornografischen Schilderungen ihrer Liebesnächte (und -tage) und den alltäglichen wie auch nicht ganz so alltäglichen Erlebnissen außerhalb des Schlafzimmers.

Am Ende des Textes zeigt sich die Autorin allerdings beinahe enttäuscht von ihrem Forschungsobjekt, fühlt sich „erst […] verführt, dann betrogen“. Die Heldin ihrer Schilderungen war in vielerlei Hinsicht doch recht konservativ – und keine heldenhafte Revolutionärin. Obwohl Lister für sich ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben wünschte, hielt sie an den herkömmlichen Geschlechterrollen und -hierarchien fest: Sie wollte als der männliche Part der Beziehung gelten, ihre Partnerinnen sollten zu ihr aufschauen, sich von ihr verführen lassen. Frauen, die ihr zu schnell nachgaben, galten ihr als unsittlich. Ihre Menstruation verbarg sie vor den Geliebten, um nicht zu weiblich zu wirken.

Es gelingt Steidele, das umfangreiche Tagebuchwerk – Listers „großen Liebesbrief an sich selbst“ – zu kondensieren und gleichzeitig genügend Kontext zu liefern, um dem Leser oder der Leserin das Ungewöhnliche und Spannende an Listers Leben kenntlich zu machen. Über weite Strecken überlässt die Biografin dabei dem Objekt ihrer Schilderungen das Wort, zitiert ausgiebig aus den Tagebüchern und Briefen. Listers Schriften stellen dabei keinen literarisch bedeutenden oder anspruchsvollen Text dar, sondern sind zuweilen eine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten – von der Schilderung ihrer Verdauung und ihrer Allergien bis hin zur Länge ihrer Spaziergänge und Kirchenbesuche. An anderen Stellen wirkt die Biografie fast wie ein Roman, beispielsweise, wenn Steidele Listers Reise durch Russland und den Kaukasus nachverfolgt. Man vermeint fast, die beißende Kälte, die durch das zerbrochene Fenster der Kutsche dringt, selbst zu spüren.

Erneut schafft es Angela Steidele so, nach Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens (2011) und Rosenstengel. Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II. dem Leser oder der Leserin die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau näherzubringen, die die Grenzen der ihr zugedachten Rolle sprengt – und damit vielleicht auch unsere Vorstellungen über einen historischen Zeitabschnitt verändert.

Titelbild

Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biografie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
328 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783957574459

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