Ein Roman über enttäuschte Hoffnungen und Verrat

Cornelia Naumann erinnert in „Der Abend kommt so schnell“ an die Münchner Revolutionärin Sonja Lerch

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Münchens vergessene Revolutionärin“: So lautet der Untertitel von Cornelia Naumanns Roman über Sonja Lerch, die am 29. März 1918, einem Karfreitag, erhängt in ihrer Zelle im Gefängnis Stadelheim aufgefunden wurde. Gänzlich in Vergessenheit geriet die Friedensaktivistin allerdings nicht, immerhin handelt eines der berühmtesten Stücke des Expressionismus, Ernst Tollers „Masse Mensch“, vom Schicksal der russischen Jüdin. Lerch hatte im Januar 1918 als Mitbegründerin der Münchner USPD an der Seite Kurt Eisners in mitreißenden Reden Fabrikarbeiter zum Streik aufgerufen; ihr Schicksal gehört somit zur Vorgeschichte der Münchner Räterepublik.

In einigen Punkten weicht Tollers Stück allerdings von der Realität ab. So erhält die Protagonistin mit dem Namen Sonja Irene L. im Gefängnis einen Besuch ihres deutschen Ehemanns. Toller, der seinerzeit Sonja Lerchs Engagement gegen den Krieg aus nächster Nähe miterlebte und auch in seiner Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“ beschrieb, dürfte es dabei weniger um eine Milderung der realen Ereignisse gegangen sein als um eine dramaturgische Zuspitzung des Konflikts zwischen der Revolutionärin und ihres bürgerlichen Gatten, der um das Staatswohl mindestens so besorgt ist wie um seine Finanzspekulationen.

In der Realität jedenfalls besuchte Eugen Lerch, ein mit Victor Klemperer befreundeter Romanist, seine Frau während ihrer achtwöchigen Inhaftierung kein einziges Mal. Ihm war es – wohl auch aus Rücksicht auf seine akademische Karriere – vor allem wichtig, die Öffentlichkeit nach Sonja Lerchs Verhaftung wegen Landesverrats am 1. Februar umgehend über die von ihm eingereichte Scheidung von der „russischen Steppenfurie“, wie die Sozialistin damals von ihren Gegnern beschimpft wurde, zu informieren.

Sonja Lerchs Ehetragödie, ihr Konflikt zwischen Liebe und politischem Engagement, einem Leben als Ehefrau und einem als Aktivistin, spielt natürlich auch in Cornelia Naumanns Roman eine zentrale Rolle. Dem 400-Seiten-Werk mit dem Titel „Der Abend kommt so schnell“ liegen jahrelange Recherchen der in Marburg geborenen Autorin und Theaterwissenschaftlerin zugrunde; es ist ein Roman über enttäuschte Hoffnungen und Verrat: Naumanns Heldin klammert sich nach ihrer Verhaftung vergeblich an die Liebe zu ihrem Mann und versinkt zuerst im Gefängnis am Neudeck, später in Stadelheim zunehmend in einem Strudel aus Selbstzweifeln.

Anlass zu bilanzierenden Rückblicken und Erinnerungen geben die Besuche einer jungen, noch etwas naiven Munitionsarbeiterin namens Fritzi, die in Sonja Lerch ein bewundertes Vorbild sieht. So entfaltet sich für den Leser nach und nach das beeindruckende Leben der Frau, die am 3. Mai 1882 im damals russischen Warschau als Tochter eines jüdischen Gelehrten unter dem Namen Sarah Sonja Rabinowitz zur Welt kam. In Warschau besuchte sie, wie vor ihr schon Rosa Luxemburg, das 2. Mädchengymnasium, erlebte aber auch antijüdische Hetze und Pogrome. Nach Studienaufenthalten in Wien und Bern wurde Sonja Rabinowitz Mitglied im Jüdischen Arbeiterbund, später kam sie in Odessa wegen ihrer Beteiligung an der Russischen Revolution von 1905 ins Gefängnis. Nach ihrer Flucht und der Übersiedlung der Familie nach Deutschland studierte die Sozialistin – als eine der ersten Frauen überhaupt – in Gießen Nationalökonomie und legte 1913 ihre Dissertation „Zur Entwicklung der Arbeiterbewegung in Rußland bis zur großen Revolution von 1905“ vor, ehe sie den Romanisten Eugen Lerch heiratete und nach München zog, wo das Ehepaar den Kriegsausbruch 1914 erlebte.

Soweit die dürren Fakten, darüber hinaus ist vieles in Cornelia Naumanns Roman natürlich Erfindung. „Der Abend kommt so schnell“ ist einfühlsam geschrieben und packend zu lesen, auch wenn schon auf Seite 8 eine Figur im Jahr 1905 denkt, die Gier sitze den Juden „in den Genen“ (der Begriff „Gen“ wurde erstmals 1909 geprägt). Dennoch gehört es zur Problematik solcher historischer Romane, dass dem Leser meist verborgen bleibt, wo genau jeweils die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen verläuft; die Autorin selbst bezeichnet die Romanhandlung in ihrem Nachwort als „frei erfunden“.

Hat Sonja Lerch zum Beispiel wirklich hinter dem Rücken ihres Mannes Einfluss auf die Friedensverhandlungen der russischen Delegation in Brest-Litowsk genommen? War sie tatsächlich schon einmal, in Odessa, von einem Mann verraten worden und später davon überzeugt, ihr Mitstreiter Kurt Eisner würde eines Tages der erste Ministerpräsident eines Freistaates Bayern sein? Bestand Sonja Lerch beim Verhör tatsächlich vergeblich auf ihren Doktortitel („Korrigieren Sie, Schreiber, Stand: Doktorengattin“) und gab es einen Mordanschlag auf die Inhaftierte mittels vergifteter Schokolade?

Wer es genauer wissen will, sollte daher den von Cornelia Naumann gemeinsam mit Günther Gerstenberg herausgegebenen Dokumentenband „Steckbriefe gegen Eisner, Kurt u. Genossen wegen Landesverrats“ (Edition AV, 2017) mit Verhörprotokollen und Spitzelberichten heranziehen – oder die kommende Ausstellung „Die lange vergessene Revolutionärin Sarah Sonja Lerch. Vorschein der friedlichen Revolution in Bayern“ (24.7.-26.10.2018, Räume der ver.di-Kulturforums Bayern, München) besuchen.

Titelbild

Cornelia Naumann: Der Abend kommt so schnell. Sonja Lerch – Münchens vergessene Revolutionärin. Roman.
Gmeiner Verlag, Meßkirch 2018.
411 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783839221990

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch