Träume im totalitären System

Zur Wiederauflage von Charlotte Beradts „Das Dritte Reich des Traums“

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der einzige Mensch, der in Deutschland noch ein Privatleben führt, ist jemand, der schläft“. Diese gewagte Behauptung des NS-Reichsorganisationsleiters Robert Ley steht am Beginn von Charlotte Beradts lange vergriffenem und nun neu aufgelegtem Essay Das Dritte Reich des Traums. Die Berliner Journalistin, 1939 ins New Yorker Exil geflohen, zeigt anhand ihrer Traumsammlung aber gerade, dass der Nationalsozialist Ley die Macht des Regimes, das er selbst vertrat, völlig unterschätzte.

Wir wissen heute viel darüber, was der Totalitarismus im Individuum anrichtet, wie er das Empfinden von Autonomie auflöst und aus der Isolation unzähliger Einzelner eine anonyme und formbare Masse konstituiert. Deutlich weniger aber wissen wir darüber, wie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf das träumende Subjekt einwirkten.

Beradt nennt ein Schlüsselerlebnis, das sie zur Sammlung von Träumen im Dritten Reich motivierte: Nach der Machtergreifung, als sie Nacht für Nacht schweissgebadet aus Alpträumen erwachte, kam ihr der Gedanke, dass sie kaum die einzige sein dürfte, die im neuen politischen Kontext von Verfolgung, Folter und Tod träumte. Sicher teilte sie diese Träume mit anderen. In dieser Idee liegt ein Kernpunkt des 1966 erstmals veröffentlichten Essays (während des Krieges hatte Beradt schon für ein New Yorker Magazin einen Artikel in englischer Sprache verfasst, der Einblick in die Traumsammlung gab): Anders als der psychoanalytischen Traumdeutung geht es nicht darum, was die Träume über das individuelle Subjekt aussagen. Vielmehr betont Beradt die von unterschiedlichen Träumern geteilten Trauminhalte oder ähnliche Traummotive: „nicht individuelles Geschick, sondern typisches Geschehen“.

Objektiven und nachvollziehbaren Standards hält die Sammlung nicht Stand, dafür waren die Umstände, in denen Beradt Träume sammelte, zu instabil und prekär. Zwischen 1933 und 1939, dem Jahr ihrer Flucht, notierte Beradt eigenen Aussagen zufolge Träume, die sie von ihren Zeitgenossen erfragte. Rund 300 Personen unterschiedlichster Milieus vertrauten ihre Träume der Autorin an: darunter Hausfrauen, Fabrikbesitzer, Studierende, Ärzte, Anwälte und Arbeiter. Inwieweit die Träume bis zu ihrer Niederschrift verzerrt und modifiziert wurden und welche Rolle hier die Erinnerung (der Träumenden und später der Autorin) spielte, ist nicht mehr auszumachen. Die Suggestionskraft der meist dunklen, surrealen und doch so deutlich an die historische Wirklichkeit gebundenen Träume ficht das nicht an. Vielmehr wird die von ihnen ausgehende eigentümliche Faszination noch gesteigert durch die literarischen Referenzen Beradts, die in Form von Motti und Kommentaren präsent sind und die „politischen Träume“ sozusagen rahmen – Kafka natürlich, aber auch Orwell, Huxley oder der biblische Hiob.

Zwei wichtige Einschränkungen liegen Beradts Sammlung zugrunde und konturieren deren Umfang und Charakter: Was den Inhalt betrifft, so bleiben Träume physischer Gewalt, die es zweifellos in großer Zahl gab, unberücksichtigt. Damit macht Beradt noch einmal deutlich, dass es ihr um psychologische Mechanismen und innere Vorgänge geht, die das nationalsozialistische Regime in Gang setzte. Was die Auswahl der Träumenden angeht, so sind die Anhänger der Nationalsozialisten nicht vertreten – wohl die Schwankenden und Unpolitischen, die also, die insgeheim und teils uneingestanden doch dazugehören wollen; nicht aber die glühenden Adepten. Dadurch wird der Blick geschärft für die inneren Nöte und Konflikte der potenziellen Opfer des Regimes und auch für die Ambivalenzen derjenigen, die zwischen Ablehnung und Versuchen, sich zu arrangieren, oszillieren.

Angeordnet sind die Träume, die Beradt wiedergibt und kommentiert, in motivisch orientierten Kapiteln, die nach Traumzitaten betitelt sind: Besonders einprägsam ist jenes zum Umbau der Privatperson, „Das wandlose Leben“: Ein Arzt träumt, er befindet sich in seiner Wohnung, deren Wände plötzlich verschwinden, während er es zugleich aus Lautsprechern tönen hört, dass einem neuen Dekret zufolge alle Wände abgeschafft werden. Ein anderes Kapitel zu „bürokratischen Greuelmärchen“ zeigt auf, wie sich die Menschen noch im Traum beobachtet und kontrolliert fühlen. Überhaupt ist es eines der wichtigen Verdienste des Essays, deutlich zu machen, dass der Kontrollwahn totalitärer Regime, der Versuch, das Privatleben der Bevölkerung bis ins kleinste Detail hinein zu durchdringen und dadurch ja gerade aufzulösen, ebenso grenzenlos wie pervers ist, immer aber auch auf die (unbewusste und gar ungewollte) Verinnerlichung totalitärer Strukturen baut. So subtil und genau zeigen die Träume diesen Prozess auf, wie es im Wachzustand für Beradt gar nicht möglich wäre.

Dies tritt unter anderem im Kapitel „Doktrinen machen sich selbständig“ zu Tage, in dem am Bild Dunkelhaariger im „Reich der Blonden“ thematisiert wird, wie sich die nationalsozialistische Ideologie in der Traumästhetik Raum schafft, oder auch in dem Kapitel zum Nicht-Helden, der die passive Persönlichkeitsstruktur des unterworfenen Subjekts aufzeigt. In weiteren Kapiteln werden „verhüllte“ bzw. „offene Wünsche“ behandelt, die die schwierige Position jener konturieren, die kein Teil sind der NS-Massenbewegung. Eine Sonderstellung nehmen zwei träumende Gruppen ein, denen eigene Kapitel gewidmet werden: Einerseits die „handelnden Personen“, darin paradigmatisch Widerstandskämpfer, deren Träume sich von den anderen durch ihren aktiven Charakter unterscheiden, da sie darin noch als Handlungssubjekt agieren, und andererseits die Träume von Juden, die aufgrund ihrer Rolle im Dritten Reich gesondert behandelt werden.

Bedenkt man, dass die Träume alle aus den 30er Jahren stammen, so überrascht ihr antizipierendes Moment und die aus ihnen sprechende Klarsicht: Sie können, so Beradt, die Struktur einer Wirklichkeit deuten, die sich als Alptraum gebiert. Selbstentfremdung, Isolation, Identitätsverlust und Auslöschung – für uns sind das heute Stichworte, die wir mit dem Leben in totalitären Regimen verbinden; wie man zur „Nicht-Person“ wird, ist aber schon in den Träumen der frühen 30er Jahre nachzuvollziehen. Da ist der Fabrikbesitzer, der sich mit einem nur grotesk gelingenden Hitlergruss vor seiner Belegschaft demütigen lässt und da ist die Frau, die eine Liste verbotener Wörter träumt – darunter das Wort „Ich“. Die Autorin erhebt im Rückblick den Anspruch, Träume zur „Evidenz“ des Dritten Reiches zu zählen, „denn sie schienen voller Aufschlüsse über die Affekte und Motive von Menschen während ihrer Einschaltung als Rädchen in den totalen Mechanismus“.

Diese Auffassung lässt Beradt in Konfrontation zum Autor der „Traumdeutung“ treten: Anders als bei Freud, dem es darum ging den latenten Traumgehalt interpretierend zu erschließen, fällt dieser im „Dritten Reich des Traums“ in eins mit dem manifesten Traumgehalt. Beradt schreibt einmal, es ginge in der Sammlung um Menschen, „die direkt aus [ihrer] Existenz heraus“ träumen. In ihrem klugen Nachwort liest die Herausgeberin Barbara Hahn, vor Kurzem hervorgetreten mit einem eigenen Buch zu Träumen im 20. Jahrhundert, den Essay denn auch als kleinen „Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus“, und damit aber auch als „Absage an Traumdeutungen“: „Die gesammelten Träume archivieren politische Erfahrungen“. Zu bedauern bleibt, dass von einer berühmten Leserin des Essays, Hannah Arendt, zu deren monumentaler Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ das kleine Buch ja vielfach in Beziehung gesetzt werden kann, kein schriftliches Zeugnis ihrer Lektüre erhalten ist. Vorstellbar ist jedoch, was Arendt an dem Essay der Freundin womöglich besonders würdigte. Beradts Text ist eine (Wieder-)Entdeckung wert, weil er das Eingreifen der nationalsozialistischen Diktatur ins Intimste vor Augen führt. Es gibt kein Versteck, das vor ihrem zerstörerischen Wirken sicher wäre.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
173 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518224960

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