Träume ohne Deutung

Barbara Hahn rekonstruiert in ihrem Essay „Endlose Nacht“ eine Traumgeschichte des 20. Jahrhunderts jenseits von Freud

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Träume lassen sich nicht einfach bibliographieren“, schreibt Barbara Hahn in ihrem Buch Endlose Nacht, das „Träume im Jahrhundert der Gewalt“ zum Gegenstand hat. Wenn dieser Satz auch in der Danksagung fällt und damit gar nicht zum Essay selbst gehört, so scheint er doch etwas Grundsätzliches zu Traumnotaten auszusagen, die sich im 20. Jahrhundert – dem Zeitraum der Studie – als neue literarische Gattung etablieren. Denn ebenso schwierig wie das Aufzeichnen von Träumen ist ihr Lesen und ihre Behandlung in Literaturwissenschaft und –kritik. Der Germanistin Hahn gelingt es meisterhaft, so viel vorab, die Träume unzähliger Autoren in verschiedenen Sprachen in den Zusammenhang der „Unheilsgeschichte“ des 20. Jahrhunderts zu bringen, ihr Verstörungspotenzial aufzuzeigen, ohne sie in vorgeprägte Muster zu pressen.

Träume aufzuschreiben ist zwar eine uralte Kulturtechnik, wie es einmal heißt. Träume aufzuzeichnen ohne sie zu deuten dagegen nicht. Diese Beobachtung ist eines der zentralen Argumente des Buchs. In diesem Sinne versteht Hahn die oft kaum bekannten und vergriffenen Traumbücher als „Genre des Jahrhunderts“: „Übertragungen aus der Welt des Traums, die das ausschlagen, was Träumen immer als ihr Anderes beigegeben war: eine Erklärung.“ So aufgefasst, haben die Traumbücher des vergangenen Jahrhunderts für Hahn keine Vorläufer – und stehen in scharfem Kontrast zu Sigmund Freud, der doch mit „Die Traumdeutung“ das Jahrhundert einläutete. Bekanntlich richtete sich das Interesse der psychoanalytischen Traumdeutung auf die Entschlüsselung des latenten Traumgehalts, der hinter seinem manifesten Gehalt erst rekonstruiert (sprich: gedeutet) werden muss. Für die Träume, die Hahn hier aus einem Jahrhundert zusammenträgt, macht diese Trennung zwischen manifestem und latenten Gehalt schlichtweg keinen Sinn. Es gibt keinen anderen Text, der hinter dem offenbaren Traumtext dechiffriert werden müsste. Vielmehr versteht Hahn den Traum als ein Wissen, „das keine andere Form finden konnte als diese Notate“. Mehrmals spricht sie von den Träumen als möglichem Archiv und zitiert in diesem Zusammenhang die russische Dichterin Anna Achmatowa, der zufolge ihre (leider nicht aufgeschriebenen) Träume „unvergleichlich reiches historisches Material“ geboten hätten.

„Möglicherweise hat sich in einem Jahrhundert, wie alles um uns herum, auch die Traumwelt gewandelt“, schreibt 1977 der Auschwitz-Überlebende Primo Levi, von dem einige besonders einprägsame Traumszenen stammen. Der Autor vermutet, dass unsere Träume „nicht immer die unseren sind“, dass ihre Gewalt und Obszönität von außen in sie eindringen. „In der Folge einer tiefen historischen Zäsur wurden die Träumer in eine Welt gestoßen, die nicht die ihre ist“, kommentiert Hahn diese These.

So schreibt H.G. Adler an seinen Freund Franz Baermann Steiner am 24. Juni 1945 aus Prag, er habe „als Einziger meiner und meiner Frau Familie […] diesen schrecklichsten Traum überlebt“. Tatsächlich summieren die Träume von Lagerüberlebenden – der Konzentrationslager, aber dann auch der sowjetischen Arbeitslager – nicht nur einen umfangreichen Fundus; die ihnen gewidmeten Seiten zählen auch zu den bewegendsten des Buchs, auf denen Texte u.a. von Jean Cayrol, George Perec und Jorge Semprún behandelt werden. Cayrol berichtet, wie sich die Häftlinge morgens zuerst gegenseitig ihre Träume erzählten und daraus Kraft schöpften.

Ungemein verstörend ist dagegen ein Gedanke, der von Semprún durchgespielt wird. Das Empfinden, die Zeit im Lager sei womöglich nur ein Traum gewesen, ist in vielen autobiographischen Texten von Überlebenden zu finden. Doch Semprún gibt dem in „Quel beau dimanche!“ noch eine weitere Wendung: „Ja, ein Traum“, so der Erzähler, „aber ich bin nicht sicher, dass ich ihn geträumt habe. Vielleicht ist es ein anderer gewesen.“ (zit. nach Hahn 167) Dieser beunruhigende Gedanke führt letztlich zur Idee, das eigene Leben sei in Wahrheit der Traum eines Toten. Adorno formulierte einen ähnlichen Gedanken in „Negative Dialektik“ (1966): Wer zufällig überlebte, obwohl ihm der Tod in den Gaskammern vorbestimmt war, den suchten später Träume heim, dass er „gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahre Umgebrachten.“ (zit. nach Hahn 171)

Vor dem Hintergrund dieser identitätsbedrohenden Erfahrungen lässt sich verstehen, dass Figuren von aus dem Tode Zurückgekehrten – der biblische Lazarus und die antike Alkestis – wiederholt aufgegriffen und adaptiert wurden. Wenn auch der Traum seit jeher mit dem Tod in Verbindung gebracht wurde, so gewinnt dieser Nexus im „Jahrhundert der Gewalt“ doch eine neue, drängende Brisanz.

Doch auch jenseits der Lagerträume birgt Hahn Material, das selbst kundigen Lesenden zum Teil und insbesondere in der Zusammenschau kaum bekannt sein dürfte. Sie zeigt anhand der Träume auch politische Fragestellungen auf, nicht unähnlich des Verfahrens, das die Berliner Exilantin Charlotte Beradt (ebenfalls vertreten bei Hahn) bezogen auf die nationalsozialistische Terrorherrschaft in ihrer Träumesammlung „Das Dritte Reich des Traums“ anwendet. Erkenntniserhellend sind hier vor allem die Ausführungen zu Träumen zwischen den Weltkriegen. In den 20er Jahren sei die politische Rhetorik durchtränkt gewesen von Metaphern des Schlafens und Aufwachens – bevor die Nazis sich das Motto zu eigen machten, trat Kurt Tucholsky mit dem Ruf „Deutschland erwache!“ auf. Walter Benjamins „Jetzt der Erkennbarkeit“ wiederum ist – wie er im „Passagenwerk“ formuliert – „der Augenblick des Erwachens“.

Überhaupt sind die Gedanken zu Walter Benjamin, der Träume bekanntlich in unterschiedlicher Form in sein Werk webte, besonders weitreichend. Die Texte des Philosophen verdienen diesen genauen Blick, nicht zuletzt aufgrund eines so schillernden (wie notwendigerweise vagen) Begriffs wie dem „Traum des Kollektivs“, als Kontrapunkt zu C.G. Jung gedacht. Hahns Ausführungen erlauben auf jeden Fall, noch mal einen neuen Blick auf den einflussreichen Text „Einbahnstraße“ (1928) zu werfen. Andere aufgenommene Träume, wie Wieland Herzfeldes Sammlung „Tragigrotesken der Nacht“ (1920), sind weniger reflexiv, aber ebenso surreal, gar provokant.

Ein Motiv, das im Laufe des Essays immer wieder auftaucht, ist jenes, das durch das Traumende bezeichnet wird. So schließt das Buch an Stelle eines Nachworts mit einigen Seiten „vom Aufwachen“. Hahns großer Essay führt eindrücklich vor Augen, dass Wachen und Schlafen im letzten Jahrhundert nicht mehr scharf voneinander zu trennen sind. Der Traum, durch das Lager gegangen, endet nicht mehr im Aufwachen – es gibt kein Aufwachen –, sondern im Tod.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
200 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425657

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