Fantastische Gefühle
In seinem Jahreszeiten-Zyklus beweist Karl Ove Knausgård ein weiteres Mal, dass er ein ‚Schriftsteller der Nostalgie‘ ist
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEigentlich hatte Karl Ove Knausgård im allerletzten Satz des letzten Bandes seines sechsteiligen Zyklus Min Kamp behauptet, er sei froh, nun endlich kein Schriftsteller mehr zu sein. Hieß das, dass er aufhören wolle zu schreiben, fragte etwas unbedarft der Moderator seiner Frankfurter Lesung im letzten Jahr den norwegischen Autor. Dieser verwies nur lapidar auf die paar Jahre, die zwischen der norwegischen und der gerade erschienenen deutschen Ausgabe von Kämpfen, jenem sechsten Teil, lagen, und dass er seitdem fleißig weiter veröffentlicht habe. Ob es sich nun aber formal um das Werk eines „Schriftstellers“ handle, oder um essayistische bzw. autobiographische Schriften eines Durchschnittsbürgers, davon könne man sich ja auch bald aufgrund der zu erwartenden deutschen Übersetzungen hierzulande ein Bild machen.
Tatsächlich hat Knausgård nach dem Ende von Min Kamp einfach weitergeschrieben; zunächst erschien ein Briefwechsel mit seinem Freund Fredrik Ekelund zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014, Kein Heimspiel, der aufgrund der neuesten Ausgabe dieses Sportereignisses hierzulande erst in diesem Frühjahr erschien. Bereits dieses über 600 Seiten umfassende Buch ist geradezu in Nostalgie getränkt, vor allem, was den Teil Knausgårds angeht. Während Ekelund nämlich während der Weltmeisterschaft im Gastgeberland Brasilien weilt, und den weltgewandten, neugierigen Bonvivant gibt, sitzt der grummelige Knausgård zuhause in Südschweden, versorgt seine Familie und schwelgt in Erinnerungen an vergangene Turniere.
Dass Fußballweltmeisterschaften sich ideal zu einer subjektiven Einteilung von Lebensabschnitten sowie zur melancholischen Rückschau – inklusive posthumer Glorifizierung manchmal gar nicht so ruhmreicher Momente – eignet, ist zwar keine neue Erkenntnis, aber es ist trotzdem faszinierend, wie viel man (ein weiteres Mal) gerade aus Knausgårds Kindheit und Jugend erfährt, wenn er sich nicht nur an legendär gewordene Fußballspiele erinnert, sondern auch an seine jeweilige Lebenssituation. Fasziniert sind beide von dem Gedanken, dass junge Menschen in 20, 30 Jahren ebenso nostalgisch die WM 2014 in Erinnerung haben werden und auf ähnliche Weise erinnerte Momente diskutieren wie Knausgård und Ekelund etwa jene legendäre Schlacht von Gijon, als Deutschland und Frankreich ein sensationelles Halbfinale spielten. Jeder WM-Sommer sei ein toller Sommer, so Knausgård noch vor der WM euphorisiert. Dafür schläft er aber sehr oft erschöpft bei den Spielen ein, ein augenzwinkernder Beitrag zur verklärenden Erinnerung, der im Werk dieses Autors ja häufig auf diese Art stattfindet.
Jahreszeiten
War Kein Heimspiel ein Nebenwerk, ein literarischer Briefwechsel der etwas anderen Art – denn neben den Geschichten rund um den Fußball sprechen die beiden Schriftsteller natürlich auch sehr viel über Literatur –, so konzipiert Knausgård danach sein nächstes autobiographisches Großprojekt: Ein vierbändiges Jahreszeitenbuch, das er – vordergründig – für seine jüngste Tochter verfasst hat. Die Bände heißen entsprechend Im Herbst, Im Winter, Im Frühling und Im Sommer; die ersten drei, die seit Herbst 2017 passend zur jeweiligen Jahreszeit im Vierteljahrestakt beim Luchterhand Verlag in Übersetzung erscheinen, enthalten in großen Teilen jeweils knapp vierseitige poetische Skizzen zu allen nur denkbaren Themen. Manchmal sind diese aus der Natur genommen – Wespen, Kiefern, Marienkäfer –, manchmal sind es Dinge wie Eiscreme oder ein Grill. Manchmal beschreibt er auch Orte aus seiner Kindheit – Campingplätze eine Stuntshow, die Insel Gjerstadholmen – oder Empfindungen bzw. menschliche Eigenschaften wie Ohnmacht oder Zynismus, denen er nachspürt.
Adressiert sind diese Skizzen an seine Tochter, doch die Du-Form irritiert weniger als man annehmen sollte, da Knausgård sie nur gelegentlich verwendet, vielmehr widmet er sich den beobachteten und erinnerten Dingen. Wie in Min Kamp dienen jene Beobachtungen als Auslöser für seine persönliche, extrem subjektiv gefärbte Erinnerung; der Vater kommt immer wieder vor, auch sein Bruder, seine Mutter, seine Frau Linda und seine Kinder, also die Personen, die wir bereits aus dem sechsbändigen Zyklus kennen, und die vielen Lesern dadurch vertraut sind wie enge Freunde. Dazu kommt, dass jeder Band mit Gemälden eines jeweils anderen Künstlers bebildert und nicht zuletzt auch aus diesem Grund recht edel aufgemacht ist.
Brach der Band Im Frühling aus dieser starren Form aus und präsentierte stattdessen ein Tagebuch, das sehr an seine Reflexionen in Min Kamp erinnerte, entscheidet sich Knausgård im letzten der vier Bücher, dem mit Bildern von Anselm Kiefer verschönerte Im Sommer, das nun in Übersetzung vorliegt, für eine Mischform. Zwar dominieren auch hier Skizzen zu allem nur Denkbaren, von Mücken über Hunde, kurze Hosen, Mixer bis hin zum Musiker Sting, doch zweimal werden diese von langen Tagebuch-Passagen unterbrochen. Das Buch ist mit knapp 500 Seiten daher auch um ein vielfaches dicker als seine drei Vorgänger. Und, die erfahrenen Knausgård-Leser werden es ahnen, es sind genau diese Passagen, die den vierten Band so lesenswert machen.
Knausgård erzählt viel von seinen Kindern; er schildert im ersten Tagebuch, wie er mit seinem Sohn auf eine Lesereise nach Brasilien fliegt. Daran ist nichts Spektakuläres: Man geht spazieren, ins Restaurant, der Sohn spielt mit seinem neu erworbenen iPad, Knausgård hält eine Pressekonferenz, und freut sich, erstmals in Lateinamerika zu sein. Auch erzählt er von den – zugebenermaßen etwas ausufernden – Online-Aktivitäten seiner Kinder. Im Hause Knausgård scheint es normal zu sein, dass jedes Kind im Alter zwischen acht und zwölf am iPad hängt, Youtube-Videos schaut, via Facetime chattet, Netflix schaut oder im Internet surft. Der Autor selbst macht sich darüber zwar Gedanken, doch obwohl er glaubt, den Kindern würde es besser gehen, wenn sie mehr in der Natur spielen würden und sich nicht so elektronisch abschotten würden, so sieht er deutliche Parallelen zu seiner Kindheit, als er sich auch tagelang ins Zimmer verkroch und gelesen hat. Beides – YouTube und Literatur – sei ja nichts anderes als das Angebot zur Flucht in andere Welten, und damit kenne er sich ja bestens aus. Warum also urteilen?
In die Tagebuch-Passagen flicht Knausgård noch eine weitere, fiktionale Geschichte ein; er imaginiert, inspiriert von Erzählungen seiner Großeltern, eine alte Frau, die in Malmö lebt und deren Ehemann gerade gestorben ist. Im ersten Tagebuch zeigt der Autor, wie einfach es ist, eine Fiktion zu konstruieren, indem er die autobiografische erste Person Singular – den Erzähler Knausgård – unvermittelt durch die fiktive, die alte Frau, ersetzt. Zunächst kommentiert er für den Leser diesen Schritt, doch im zweiten Tagebuch unterlässt er auch dies. So erfahren wir von einer zweiten, diejenige Knausgårds überlagernde Erinnerung, die um den Zweiten Weltkrieg kreist, als die Frau ihren Mann und ihre Kinder zurückließ, um mit einem österreichischen Wehrmachtssoldaten zu fliehen – jenem Mann, der nun im hohen Alter verstorben ist. Der Autor möchte hierbei demonstrieren, wie sehr große Entscheidungen einen Lebensweg beeinflussen, während er, in seinem eigenen Leben, immer nur vor „kleinen“ Entscheidungen stand, die in der Summe zwar auch einen Lebensweg vorgegeben haben, aber eben keine eine entscheidende, lebensverändernde Wendung hervorgerufen habe. Oder vielleicht doch? Wissend, dass er diese Zeilen kurz vor der Trennung von seiner Frau schreibt, lässt sie in einem anderen Licht erscheinen als uns der Ich-Erzähler weismachen möchte.
Die Nostalgie Knausgårds
Vor allem aber ist die den kurzen Texten implizite Nostalgie augenfällig. Knausgård erinnert sich oft an seine Kindheit, doch sind diese Erinnerungen viel positiver konnotiert als in den oft niederschmetternden Passagen aus Min Kamp. Das Verhältnis zum Vater wird von einem anderen Standpunkt aus beleuchtet, einem verzeihenderen, mitleidsvolleren. Zwar wird dessen autoritäre, willkürliche Schreckensherrschaft, von der wir aus dem Zyklus wissen, immer wieder angedeutet, doch sucht Knausgård viel öfter nach Erklärungen für dieses Verhalten. Er erinnert sich sogar an einige schöne, prägende Momente und hofft, dass sein Vater diese vielleicht auch behalten habe. Es sind, noch viel mehr als in Min Kamp, die Kinder, die bei Knausgård ein nostalgisches Erinnern an die eigene Kindheit evozieren. Man hat diese Spuren bereits im besten Band des Zyklus, Teil Drei (zu deutsch Spielen), gespürt, doch in seinen einzelnen Beobachtungen, gerade zur Natur und bestimmten Orten, klingt eine Sehnsucht nach der Unschuld der 70er Jahre durch, die oft in philosophischen Reflexionen endet.
So analysiert er in „Campingplätze“ den gesellschaftlichen Wandel, der sich an diesem, auch für ihn in seiner Kindheit speziellen Ort ablesen lässt. Knausgård schreibt, über je mehr Geld man verfüge, desto mehr würde man sich einmauern; nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch im Urlaub. Ein Hotelzimmer ist ein einsamer Rückzug, eine Rekreation letztlich des Eigenheims, in dessen räumlicher Abgrenzung der Drang zur Abschottung realisiert werde. Anders der Campingplatz, in den 70er Jahren noch als Ort der Durchreise genutzt, bei dem man, sei es im Zelt, aber verstärkt auch im Wohnwagen, eine größere Offenheit lebe. Doch mittlerweile habe der Drang zur Abschottung dazu geführt, dass immer mehr Dauercamper immer mehr ausgetüftelte Hausimitationen aufstellen, aus denen man sich wiederum monatelang nicht fortbewegt. Die Räder der Wohnwägen bleiben demnach als letztes Symbol für einen einst vorhandenen Drang zur Freiheit.
An dieser Episode, aber auch in der zuvor erwähnten Gegenüberstellung von Büchern und elektronischen Geräten, ist gut zu erkennen, wie die Verbindung aus allgemeiner Beobachtung und persönlicher Erinnerung zu einer Reflexion über den gesellschaftlichen Wandel wird. Das Verlangen nach Nostalgie ist vorhanden, aber es ist ein gebrochenes Verlangen, das vom bekanntermaßen meist zweifelnden Autor stets kritisch hinterfragt wird – als wolle er sich kasteien für seinen Wunsch, die eigene Vergangenheit zu verklären und sie dabei auch zu objektivieren.
Doch Erinnerung wird auch in Bezug auf Kunst thematisiert. Interessant etwa, wie Knausgård beim zufälligen Herauskramen der Sting-CD The Dream Of The Blue Turtles durch den Chor, welcher den ersten Track „If You Love Somebody, Set Them Free“ einleitet, für wenige Sekunden in eine andere, wie er später herausstellt, nostalgisch verklärte Welt transportiert wird: „Sekundenlang schien meine Seele zu erzittern. Die fantastischsten Gefühle übermannten mich. Dann zogen sie sich zurück wie die Wellen an einem Strand…“ Knausgård fährt fort, er verbinde „intensive Erinnerungen mit allen Platten von The Police“ und geht tatsächlich alle fünf Alben der ehemaligen Band Stings durch, bis hin zur Erinnerung an den Welthit „Every Breath You Take“, der ihm zwar niemals so recht zusagte, den er jedoch damals, 1983, immer wieder hört, „aus einem Radio, das jemand zu dem Badeplatz unter dem Wasserfall mitgenommen hat, wo wir von der Klippe aus in einen tiefen Strudel springen, an dem neuen Ort, in den wir gezogen sind.“
An dieser Passage lässt sich recht gut erkennen, wie die Methode Knausgårds funktioniert: Dinge – in diesem Fall einzelne Songs eines bestimmten Künstlers – evozieren Erinnerung, und es ist stets jener streng subjektive Assoziationsprozess, der bestehen bleibt. Töne, aber auch Objekte, wie viele andere Texte dieses Bandes zeigen, senden Signale aus, welche uns in eine (oft nostalgisch verklärte) Vergangenheit transportieren, und dabei ist es egal, ob diese Dinge an Banalität nicht zu übertreffen sind. Es wirkt fast wie ein Überzeichnen seiner eigenen Methode, dass der Popmusikkenner (und ehemalige Musikjournalist) Knausgård einen Mainstream-Musiker wählt, der heute als ziemlich uncool gilt, anstatt der dutzenden angesehenen Bands aus der Punk- und Indie-Szene, die er in seinem Min Kamp-Zyklus immer wieder als ihn entscheidend prägend anführt. Aber das ist gerade sein Punkt: Erinnerung ist nicht bewusst selektiv, sie wird nicht gesteuert, sie übermannt einen einfach, wenn man Glück hat, mit jenen „fantastischsten Gefühlen“.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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