Vorwärts in die Vergangenheit!
Über Spielarten der Nostalgie in der gegenwärtigen Kulturlandschaft
Von Jonas Heß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Frühjahr schrieb Lars Weisbrod in der ZEIT über den aktuellen Film von Steven Spielberg, Ready Player One, einem Sci-Fi-Streifen, der in der nahen Zukunft spielt. Weisbrod stieg mit einer Aufzählung der unzähligen Anspielungen ein. Auffällige Anspielungen auf die 1980er Jahre. Mal mehr, mal weniger offensichtlich würden da z.B. Zurück in die Zukunft, Knight Rider, die Actionserie A-Team oder der Animationsfilm Akira herbeizitiert.[1]
Etwas eigenartig, mag man da denken, für einen Film, der in der Zukunft angesiedelt ist. Doch eine Rückwendung zu den 80ern lässt sich gegenwärtig freilich nicht nur in diesem einen Spielfilm finden. Zu nennen wären weitere Serien, wie Stranger Things, die Weisbrod auch erwähnt, Dark, aber auch 1983. High-Waist-Hosen und kurze, bauchfreie Topps halten außerdem wieder Einzug in den Kleiderschränken junger Erwachsener und auch die Musik der 80er aber auch der 90er erfreut sich wachsender Popularität unter jugendlichen Hörern.[2] Irgendetwas bzw. ziemlich viel an der Epoche oder an der Vergangenheit scheint gerade in Mode zu sein. Oder ist es mehr als das?
In Bezug auf Stranger Things jedenfalls falle auf, so Weisbrod: Eine Generation sehne sich „zurück nach Kindheit“. Und mit Blick auf Ready Player One resümiert er schließlich: „Wir haben es hier mit geradezu pornografischer Nostalgie zu tun.“ Mit diesem einen Wort verliert die Rede von der „Mode“ ihre Unschuld und wird zur Diagnose: Nostalgie.
Die Auffassung, dass wir uns gegenwärtig in Zeiten neu erblühender Nostalgie wiederfänden, ist schon häufiger geäußert worden. Sei es mit Blick auf den Brexit, der als das Ergebnis einer Sehnsucht nach den Zeiten des großen, starken Commonwealth betrachtet wurde, oder bezüglich des Ausgangs der Präsidentschaftswahl in den USA, in der Donald Trump mit dem in eine vermeintlich goldene Vergangenheit weisenden Slogan „Make America great again“ triumphierte. Sowohl die rechte wie auch die linke Seite des politischen Spektrums eigne sich ein nostalgisches Narrativ an, meint Jürgen Kaube in der FAZ. In schwärmerischer Rückwendung mal zu einem angeblich homogenen Volkskörper, mal zu einer scheinbar politischeren Zivilgesellschaft. Dass dies auch kulturell zu Buche schlägt, ist also vielleicht nicht verwunderlich.
Die Dynamik der Nostalgie
Nostalgie kann durchaus ein intensiver emotionaler Zustand sein. Der Blick ins Lexikon verrät nicht nur die etymologische Beziehung des Wortes zum Schmerz, zur Traurigkeit, sondern auch die ursprüngliche Bedeutung der Wortneuschöpfung aus dem 17. Jahrhundert: Die Melancholie aufgrund unbefriedigter Sehnsucht nach der Heimat. Ein Verlangen mithin nach einem Ort des Vertrauten und der Geborgenheit.
Solche Sehnsüchte drücken sich bekanntermaßen nicht selten auch in Feststellungen der Form „Früher war alles besser“ aus. Es wird angestrebt, diesen „besseren“, wahlweise natürlicheren, sozialeren, gesünderen, moralischeren usw. Zustand wiederherzustellen. Doch läuft man dabei Gefahr, Opfer der eigenen Erinnerungsstrukturen zu werden.
Die Psychologin Julia Shaw sieht die Problematik hierbei in zwei kognitiven Phänomenen. Zum einen vergäßen wir die negativen Begebenheiten der eigenen Vergangenheit, nur das Positive bliebe im Kopf und würde dann Ziel des schwermütigen Zurücksehnens. So sehnen wir uns nicht nur nach etwas, was ohnehin nicht wiederhergestellt werden kann, sondern nach einem Gesamtzustand, der so nie existiert hat. Zum anderen – und dies verstärkt den vorherigen Aspekt – erinnerten wir uns an die Zeit zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr am deutlichsten, da hier viele der prägendsten Erlebnisse (zum ersten Mal) stattfänden. Spätere Erinnerungen träten in den Hintergrund und die Affinität zur Nostalgie durch falsche bzw. unvollständige Erinnerungen an Vergangenes nehme mit dem Alter zu. Dass diese Prozesse unbemerkt ablaufen, mache es zudem schwer, ihnen entgegenzuwirken.
Das mag auf Nostalgie, die auf eine selbst erlebte Vergangenheit zielt, durchaus zutreffen. Doch mit dem eingangs erwähnten Ready Player One scheint es sich anders zu verhalten. Denn das eigentlich Verwunderliche dabei, so Weisbrod in seiner Rezension, sei, dass das Ziel des Zurücksehnens nun aber gerade nicht die Kindheit der Macher (und vieler Zuschauer) sei. Die allermeisten von ihnen seien jünger, als die Epoche, der das Nostalgische gilt.[3]
Den Grund hierfür sieht der ZEIT-Autor in unserer Unfähigkeit, uns mit und in einer mehr und mehr vernetzten und digitalisierten Welt zurechtzufinden. „Weil wir Computeranalphabeten nie gelernt haben, die digitale Welt tatsächlich zu begreifen, pilgern wir immer wieder zu ihren Ursprüngen zurück“. Sehnsucht nach einer einfacheren Zeit also, in der die Verheißungen der medialen Umwälzung zwar schon zu spüren und zu ahnen, aber eben auch noch verstehbar und beherrschbar waren – oder dies zumindest zu sein schienen. Sehnsucht somit auch nach einem scheinbar verlorenen Gefühl der Sicherheit und Ruhe.
Letzteres benötigt als Ziel der Rückwendung natürlich nicht zwingend die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Auch andere Epochen stehen immer wieder im Zentrum von Retro-Moden und Nostalgie. Man denke etwa an die Schwärmerei für die 20er Jahre oder gar die Belle Époque[4] in manchen Kreisen, oder aber an die Begeisterung für die 50er Jahre im Rockabilly-Umfeld. Alles Zeiten, die die Nostalgiker selbst nie erlebt haben.
Der Kolumnist Ian Jack konstatiert im Guardian ähnliche Sehnsüchte bei den Briten und sieht darin auch einen Grund für den Brexit. Er vertritt dabei ebenfalls die Auffassung, dass „we don’t need to have witnessed the real thing to feel nostalgic for it.” Und er geht sogar noch weiter: „It often helps if we haven’t.“ Nostalgie ist ein starkes aber diffuses Gefühl, oft schwer zu greifen oder einzugrenzen. Gerade deswegen lässt es sich so gut vereinnahmen – politisch wie kulturell.
Nostalgie läßt sich, nimmt man alles zusammen, keiner Theorie, keinem eindeutigen Interpretationsmuster unterwerfen. Die von ihr beschworenen Bilder der Vergangenheit mögen ideologisch eingefärbt sein. Aber es gibt keine inhaltlichen Kriterien, nach denen sie ihre Stimmungsobjekte besetzt.[5]
Das stellt der Pädagoge Dieter Baacke fest. Es sei „in eben dem Bemühen, ‚organisch‘ gewachsene und überschaubare Lebenseinheiten zu retten“[6], wo sich Rechts-Konservative und Links-Liberale träfen. Und so lassen sich auch auf kulturellem Terrain verschiedene Tonarten der Nostalgie finden. Seien es kindlich-unschuldigere Rückwendungen wie bei Ready Player One oder ernsthaftere, pathetische Wendungen.
Sieben Nächte
Als Mitte 2017 Sieben Nächte von Simon Strauß erschien, dauerte es nicht lange, bis ihm – nach anfänglichem Lob – gleich von mehreren Seiten Nähe zu neurechtem Gedankengut vorgeworfen wurde.[7] Hintergrund war dabei nicht nur der aus archaischem Mannesholz geschnitzte Erzähler, der – Fleisch essend und Auto fahrend – einem folgt, der „ihn führt“, sondern auch sein Sehnen nach einem kämpferischen Früher, als die Dinge noch besser standen.
Und tatsächlich lässt sich diese nostalgische Rückwendung an vielen Stellen des Romans finden. Manchmal so explizit wie in dem schon häufig zitierten Gedankengang der Deutschlandfahne, die sich fragt, wofür sie weht, „wenn doch keiner zu ihr aufschaut“. Sehr häufig aber verbirgt sie sich diffus zwischen den Zeilen. Die Handlung um den jungen Ich-Erzähler, der an der Grenze zur 30 eine Art Reifeprüfung unter Anleitung bestehen muss, in der er in sieben Nächten die sieben Todsünden auslebt, bietet dazu schlicht den erzählerischen Rahmen.
Denn das Gute, das Erstrebenswerte liegt hier immer im „Früher“. Der Erzähler ist auf der Suche nach den Antworten auf die großen Fragen, die in den „Archiven der Vernunft“ nicht gefunden worden sind und nur „auf offenem Deck, unter freiem Himmel gelöst werden können.“ Klar ist dabei aber stets, dass das Ziel dieses Ausbruchs (aus der Vernunft?) in der Vergangenheit näher, greifbarer war. Und so will der Erzähler auch „wieder den Wunsch nach Wirklichkeit spüren“, wieder „ein paar große Architekten“, denn: „Noch kann die Erinnerung Gegenwart werden.“
Auch der Erzähler will „nicht Niemand sein“, sehnt sich nach einem „Moment der Stärke und Entschiedenheit“, um seiner „Zeit zu widersprechen.“ In dieser seiner bedeutungsschwangeren Welt ist somit auch jeder Bissen Fleisch „ein Biss zurück zur Natur (…) zum Mythos“. Diese neuromantische Wendung[8] weg von der Ratio, hin zum Gefühl und der Leidenschaft ist aber gerade mehr als bloß pathetische Schwärmerei für Vergangenes. Sie ist bei Strauß das Rüstzeug, um kein „Fähnlein im Wind“ der Gegenwart zur werden. Dieses Ausspielen des Früher gegen das Jetzt ist es, was dem Band seine Brisanz verleiht. Er selbst will Widerstand sein, Widerstand durch Rückwendung.
Was war das für eine Zeit, als die Blätter noch weiß waren und die Bildflächen schwarz, als der Gang raus auf die Straße, rein in die Kneipen und fremden Wohnzimmer noch etwas bedeutete? Aufbruch, Widerstand, Türenschlagen – nach Wasser ohne Kohlensäure hat da bestimmt niemand gefragt. Und auch nicht, ob man immer noch von Studierenden sprechen sollte, nachdem sie mit einem Flugzeug abgestürzt sind oder ob das dann nicht doch eher Studenten waren.
Deutlicher als in anderen Zeilen des Textes wird hier klar, wodurch sich das nostalgisch ersehnte Früher auszeichnet: Bedeutung. Eindeutigkeit. Willen. Standhaftigkeit. Es ist dies gleichsam die Forderung nach einem Ausbruch aus der Ironie, dem nur halb ernst Gemeinten, der Dekonstruktion der Gegenwart. Mit Neid blickt der Erzähler auf dieses „Früher“, in dem man noch „nicht gleich mit einer Schusswunde vielleicht, aber wenigstens mit einer blutigen Nassrasur“ aufwachte, die Zeitung „mit Zorneslust“ aufschlug, „den Kaffee hinunterschüttete und die Nachtbekanntschaft vom Sofa schmiss“.
Ja, es sind Zeiten übersteigerter, geradezu stählerner Männlichkeit, die dem Erzähler so schmerzlich fehlen. Zeiten, so scheint es, in denen man sich noch sicher sein konnte, dass mehr Mann ist (und das noch von Bedeutung war), wer mit weniger Zähnen aus der Kneipennacht heimkehrte, wer die meisten Kinder mit den meisten Frauen zeugte, wessen Faust stets schneller und härter als jedes Argument war, und wer mit breiterem Lachen sich in die Waffen des Feindes warf. Als Leser wartet man beinah auf ein Lob des Grillens ohne Grillanzünder, der Prügelstrafe, der dreckigen Diesel-, nein, Dampfloks.
In der Tat, die ersehnte Vergangenheit habe sich dadurch ausgezeichnet, dass es noch „Gegner gab, echte Feinde.“ Und sicher: „Niemand wünscht sich einen Krieg, aber die Chance des Neuanfangs, der Gründerzeit, der Wunderkinder, von der darf man doch träumen.“ Es ist die Sehnsucht nach Trümmern aus angeblicher Lust am (Wieder-)Aufbau.
Was wiedererlangt werden soll, lässt sich also passim in Umrissen finden, aber nur mit abstrakten Begriffen benennen: Wahrhaftigkeit, Sinn, Authentizität, Verbindlichkeit. Es geht um Aufbruch, Konfrontation, Kampf und Widerstand. Und die Akteure sind durchweg mutig, leidenschaftlich, kompromisslos, ehrenhaft. Was all das letzthin verbindet, ist in mancher Hinsicht ein Streben nach Gewissheit, Klarheit und Einfachheit. Ein Verlangen nach Sicherheit.
Die Nostalgie wird dabei zum Vehikel für die Flucht aus den Grautönen der Gegenwart, hin zur Klarheit des Schwarz und Weiß einer imaginierten Vergangenheit: Mit begrifflichen Gewissheiten und Tatsachen. Endlich keine Diskussionen mehr, kein Abwägen. Zurück zum Greifbaren, zum Haptischen. Bestimmtheit. Verlässlichkeit. Wahrheit. Ein Mann, ein Wort!
Und so wird noch etwas deutlich: Bei Sieben Nächte – aber auch bei Ready Player One und Konsorten – liegt das Ziel der Nostalgie nicht in einer ferneren Vergangenheit, obwohl man sie selbst nicht erlebt hat, sondern gerade weil man sie selbst nicht erlebt hat. Sie wird damit zum Aufbruch in etwas Neues, zu etwas auf paradoxe Weise Pionierhaftem, beinah Avantgardistischem – und damit gewissermaßen auch zu etwas Frischem und Jungem.
Aus der Rückwendung in die Vergangenheit wird ein Ausbruch aus der Gegenwart in eine bessere Zukunft. Allerdings versehen mit dem Sicherheitsnetz des Vorstellbaren und schon (aus der Vergangenheit) Bekannten. Es ist eine Umdeutung. Denn der Ruf „Vorwärts!“ ist stets attraktiver als der nach einem „Zurück!“.[9] Und so geht es auf in eine Zukunft vergangener Gewissheiten.
Vergangenheit wird somit nicht mehr defensiv-konservativ, sondern offensiv-progressiv in Anschlag gebracht. Zugleich geriert sich Nostalgisches damit als Gegenbewegung zum digital Überfrachteten, zum bewusst-Ökologischen, zum „Establishment“ oder zur „Political Correctness“. Die Hipness des (jugendlichen) Dagegen-Seins hat sich so vom linken zum rechten politischen Spektrum erweitert.[10]
2018 als neues, rechtes 1968? Soweit muss man wohl nicht gehen. Doch in gewisser Hinsicht hat national-konservatives Gedankengut auf diese Weise gegenwärtig eine Chance auf Verjüngung und verstärkte Gesellschaftsfähigkeit. Denn auch das Schwarz und Weiß des Wir und Sie macht Dinge einfacher und gefühlt verstehbarer, genauso wie das Bild von den exakt zu bestimmenden kulturellen Wurzeln.[11] Auch wenn das so gewonnene Sicherheitsgefühl des Eindeutigen letztlich illusionär ist.
Munin oder Chaos im Kopf
Das Leiden am Verlust vergangener Eindeutigkeiten aber ist nicht nur bei den jüngeren Kulturschaffenden zu spüren. In anderer Verpackung als bei Strauß schwingt in Monika Marons Munin oder Chaos im Kopf Vergleichbares zwischen den Zeilen. Es geht um eine Erzählerin, die auf ähnliche Weise mit ihrer und unserer Gegenwart hadert. Sie berichtet von ihren täglichen Zeitungslektüren, und dem Unwohlsein, das sie verursachen. Anprangernd reiht sie die vermeintlich gleichermaßen schlimmen Themen aneinander: „irrsinnige Finanztransaktionen, von denen ich nichts verstand, […] die ständig wachsende Anzahl menschlicher Geschlechter, […] einen Terroranschlag in Syrien, Irak, Jemen oder auch in Paris“. Immer wieder hat sie sich deswegen vorgenommen, die Zeitung zu kündigen, „um von den Zumutungen der Nachrichten verschont zu bleiben“, auch wenn sie natürlich weiß, dass sie damit leider nichts am Zustand der Welt würde ändern können. Früher hätte man sowas nicht lesen müssen, soll das wohl heißen.
Und da es in diesem Roman ja eigentlich auch um Nachbarkeitsstreitereien und einen Artikel über den Dreißigjährigen Krieg geht, um die Vermengung von Geschichte und Gegenwart mithin, verwundert es nicht, dass der schreibenden und sinnierenden Erzählerin Mina Wolf bald gewahr wird, wie sehr man sich doch in einer Vorkriegszeit à la 17. Jahrhundert (oder 1913, oder 1930) befinde. Die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg nämlich, über den die Erzählerin einen Text zu schreiben hat, stelle sich „als grobe Vorlage für die Gegenwart“ dar und lasse sich in Begriffen beschreiben, „die ich täglich in den Zeitungen lesen konnte: Klimawandel, Wassermangel, Hunger, Verdoppelung der Bevölkerung in fünfzig oder sogar dreißig Jahren, und die Religionen, natürlich die Religionen.“ Hier wird die Zukunft somit zur Bedrohung.
Denn Mina Wolf lebt in einer dunklen Zeit. Nicht die Sorge über eine Rezession oder steigende Mieten treibt sie um, nein, überall das Gefühl eines kommenden Krieges, der sich immer deutlicher abzeichnet. „Bevor ein großer Krieg endgültig ausbricht, hat er als Wissen, wenigstens als Ahnung um seine Unvermeidlichkeit von dem Volk schon Besitz ergriffen.“ So groß die Gefahr, so groß das Verlangen nach Sicherheit. Diese Sehnsucht aber wird nicht in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart oder dem Versuch der positiven Beeinflussung der Zukunft zu stillen versucht. Stattdessen möchte Mina Wolf „zurück in den Frieden“, denn der liegt ja (ausschließlich) in der Vergangenheit.
Ob man den Roman nun als Thesenroman und damit in den Auffassungen der Erzählerin auch ein Stück weit die der Autorin liest, interessiert in diesem Zusammenhang weniger. Spannend ist vielmehr die als bedrohlich und abgründig empfundene Gegenwart, deren Ausweg scheinbar aber nicht in einer produktiven Auseinandersetzung mit ihr mit dem Ziel einer positiveren Zukunft besteht, sondern in einer Flucht in die Vergangenheit, in der angeblich alles noch besser war.
So ist es auch nur allzu verständlich, dass sich Mina Wolf auch gegen die „Genderscheiße“ positioniert. Es sei ein Krieg gegen die Sprache, und damit gegen „etwas so Wunderbares, Uraltes, mit den Menschengeschlechtern Gewachsenes“. Als sie dann daran denkt, wie sich nicht nur die Sprache, sondern auch die Gesellschaft verändert und verändert hat, überkommt sie schließlich pure Verzweiflung. Sie beginnt zu weinen beim Gedanken daran, dass „ich auf dem Spielplatz an der Ecke fast nur noch schwarzhaarige Kinder sah und mir ausmalte, wie die Stadt aussehen würde, wenn sie alle erwachsen wären und selbst wieder Kinder hätten“.
Das ist alles schon recht schlimm. Und nachdem die Erzählerin sich und uns zum zwölften Mal in einer Vorkriegszeit verortet hat und niedergeschlagen über die sich häufenden Meldungen über Vergewaltigungen, Raubzüge und Angriffe auf die Polizei räsoniert, die sie in Verbindung bringt „mit den Millionen Menschen, die in den letzten Jahren aus fremden Kontinenten eingewandert waren“, da wird spätestens auch dem letzten Leser klar: Ja, früher war alles besser. Im oben zitierten Text weist Kaube darauf hin, wie befremdlich solche Äußerungen gerade aus dem Mund einer Generation klingen, die noch mit den Morden der RAF, dem Kalten Krieg und der Ölkrise erwachsen wurden. Aggressive Nostalgie nennt er das.
Und das passt nicht nur, weil eine solche Nostalgie quasi nur um ihrer selbst willen existiert und sich ihre Gegenstände scheinbar wahllos und übergriffig aneignet, sondern auch weil sie hier aggressiv nach einem Weg zu einem einfacheren Urzustand lechzt. Da ist die Rede davon, das in der jüngeren Vergangenheit gewachsene Ordnungswerk aus Bürokratie, Demokratie, EU zu überkommen, von der „Lust es kaputt zu machen“. Bei aller Unterschiedlichkeit fällt der Text hier schließlich mit dem Strauß’schen und seinem Träumen von der „Chance eines Neuanfangs“ in eins. Es ist die „Sehnsucht nach einem Chaos“ (einem Weltenbrand?), aus dem alles jung und archaisch, klar und eindeutig wiedererwachsen soll.
Nun ist all das zwar gebrochen durch den nach und nach sich einschleifenden Austausch mit der altgermanischen Krähe Munin, die Minas Haltungen kritisch hinterfragt und (wenn auch nur teilweise) konterkariert. Doch ist es nicht trotzdem – oder sogar genau deswegen – ein „Stimmungsbild unserer Zeit“, wie der Verlag auf dem Umschlag verspricht? Eine Gesellschaft, die sich im Kleinklein von Nachbarkeitsstreitereien und Ressentiments verliert und sich aufgrund oder mithilfe einer brennenden Zukunft zurück in die Vergangenheit denkt, flankiert von germanischen Götterboten?
Das Grau und das Schwarz-Weiß
Eigentlich leben wir nicht in einer solchen nostalgischen Zeit, könnte man meinen, da immer neue technische Entwicklungen und Vereinfachungen unseren Blick und uns selbst immer schneller in die Zukunft führen. Doch bringt dieser sich noch immer beschleunigende „Fortschritt“ bekanntlich eben nicht nur Erleichterungen mit sich, sondern birgt mit den einhergehenden tiefgreifenden Umwälzungen der Arbeitswelt, des sozialen Miteinander, der Kommunikation usw. auch spürbare Nachteile.
Alte Gewissheiten und Sicherheiten brechen weg. Jobs werden von Maschinen und Computern übernommen. Menschen werden online aus tausenden Kilometern Entfernung indoktriniert. Wahlen sind digital beeinflussbar geworden. Großkonzerne sind in der Lage, jeden Schritt ihrer Kunden zu verfolgen. Die Liste wäre beliebig erweiterbar.
Niemand kann mehr absehen, was das nächste große Ding wird. Niemand weiß mehr, was morgen kommt und was diese Entwicklung bedeutet. Doch genau das und die immer höhere Geschwindigkeit dieser Entwicklung sorgen für die Umkehr der Sehnsucht in die Vergangenheit. In diese Richtung nämlich lässt sich auf Sicht fahren. Hin zu Zeiten, in denen man (nicht nur den digitalen, s. Weisbrod) Dingen noch folgen konnte, in denen man sie zu kontrollieren wusste oder zumindest glaubte und also mehr Macht empfand. Das Gefühl von Sicherheit und Stärke.
Doch ist das Sicherheitsgefühl, das sich an vergangene Gewissheiten knüpft, illusionär, weil doppelt unerreichbar: Die Vergangenheit ist nicht nur nicht wieder herstellbar, sie ist so (positiv), wie wir sie erinnern, in der Regel nie gewesen. Stärke liegt nicht in der Sehnsucht nach der illusionären Eindeutigkeit, sondern im proaktiven Gewahrwerden der realen Mehrdeutigkeit. Gerade in einer Zeit immer schnelleren Wandels und immer größerer Unsicherheit.
Wer in die (vermeintlichen) Sicherheiten der Vergangenheiten flieht, verschließt die Augen vor den Mitgestaltungsmöglichkeiten der Gegenwart. Es gilt mehr denn je, nicht ein Trugbild von Schwarz und Weiß zu (re-)konstruieren, sondern sich einer Realität aus Grautönen zu stellen.
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[1] Vgl. Weisbrod, Lars: Für immer Atari. In: Die Zeit Nr. 14 (2018) (28.03.18). S. 44.
[2] Das zeigt sich nicht nur auf Boombox-bestückten Sommerwiesen, sondern auch an den millionenfach geschauten „aktualisierten“ Musikvideos zu Klassikern wie „Rhythm is a dancer“ oder „What is love“. Zu denen wird – natürlich – geshufflet, wie man es schon in den späten 80ern tat.
[3] Und das trifft auch auf viele der anderen Beobachtungen zu.
[4] Woody Allen widmete vor einigen Jahren mit Midnight in Paris beiden Epochen zugleich einen Film.
[5] Baacke, Dieter: Nostalgie. Zu einem Phänomen ohne Theorie. In: Meyers enzyklopädisches Lexikon. Bd. 17: Nau – Os. Neunte, völlig neu bearb. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich 1980. S. 449-452, hier S. 452 (Hervorhebung original).
[6] Ebd., S. 451.
[7] Eine kleine Zusammenfassung der Debatte bietet die SZ.
[8] Strauß selbst sieht sich wie auch andere junge Literaten in romantischem Kontext („Neoromantik“). Die „Rich Kids of Literature“, eine Gruppe junger Autoren mit „ultraromantischer“ Zielsetzung, sahen sich daraufhin genötigt, sich mit überdeutlichen Worten zu distanzieren und Strauß ebenfalls neurechtes Gedankengut zum Vorwurf zu machen.
[9] Dem verwand ist auch der Aufruf zum „Widerstand“ aus dem Kreis der Neuen Rechten, in dem sich ein Gefühl des Aufbruchs mit der Konnotation, zu einer zu Unrecht marginalisierten Minderheit zu gehören, verbindet.
[10] Dazu passt im Übrigen, dass sich nicht nur an Wänden von Uni-Toiletten immer häufiger auch AfD-Schriftzüge oder Sprüche wie „Tod den Linksfaschisten“ lesen lassen.
[11] Vgl. Bettini, Maurizio: Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität. München 2018.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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