Im Schatten des katholischen Irlands

Donal Ryans neuer Roman „Die Lieben der Melody Shee“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Melody Shee ist schwanger. Doch sie trägt nicht das Kind ihres Mannes in sich. Das Kind ist das Ergebnis einer Affäre mit ihrem minderjährigen Schüler Martin. Allmählich nähert sich der Leser in Donal Ryans neuem Roman Die Lieben der Melody Shee dem Ausmaß der Gräuel, denen sich Melody und ihr Mann Pat aussetzten. Sie hatte zwei Fehlgeburten. Er ließ sich heimlich sterilisieren. Das Ehepaar wendete sich voneinander ab. Er hatte Sex mit Prostituierten. Sie näherte sich ihrem Sprachschüler und glaubte: „Jedes Elend war besser als Langeweile.“ Und Melody legte es darauf an, schwanger zu werden. Pat verlässt sie. Im irischen Dorf wenden sich alle von der Ehebrecherin ab. Pats Vater rät Melody wegzuziehen und bietet ihr Geld für einen Neustart an. Sie bleibt.

Danach beginnt eine Leidensgeschichte, deren Ausmaß sich von aggressiven Besuchern und einem Ziegelstein mit erniedrigender Aufschrift, der durch ihr Wohnzimmerfenster geworfen wird, bis hin zu körperlicher Gewalt steigert. Gewalt widerfährt auch ihrer besten Freundin, der zum fahrenden Volk Irlands gehörenden Mary Crothery. Die 19-jährige Mary Crothery hat sich von ihrem Mann getrennt, weil sie keine Kinder bekam, und löste damit eine Fehde zwischen den Familien aus, die mit Stöcken und Schrotgewehren geführt wird. Beide Frauen verbindet mehr als die Kinderlosigkeit in der Ehe, die von der einen mit Trennung, von der anderen mit Ehebruch beantwortet wird. Und doch spürt der Leser, dass sich die schrecklichen Ereignisse noch steigern werden. Die Kapitel tragen die Schwangerschaftswochen als Überschriften. Sie ziehen sich als gnadenloser Countdown durch das Buch. Mit ansteigender Anzahl maximieren sich auch der Druck und die Gewalt. Melody berichtet von ihrer Ehe, ihrer Schulzeit, dem Selbstmord ihrer Schulfreundin Breedie Flynn und bezeichnet die Erinnerungen als „Scherben“ in Absätzen komprimierte Splitter. Ihre messerscharfen Kanten schneiden ein, sie bleiben dem Leser im Gedächtnis.

Ein Grund dafür ist die virtuose, mal wirbelnde und mal ruhige und poetische Sprache Ryans. Häufig zieht sich ein einziger Satz über ganze Absätze, in einem Fall über mehr als zwei Seiten des Buches, was der Rastlosigkeit und Spannung in den Erzählungen von Melody Shee Ausdruck verleiht. Der Leser wird vorangetrieben, von der Geschichte umfangen und gezogen. Sehr lebendig, nah und intim werden Melodys Irrungen und ihre Wut geschildert – und wie aus Liebe Hass werden kann: „Aus heißem Blut wird böses Blut.“ Hinzu kommt die Atmosphäre Irlands, dem Land der Widersprüche, in dem die Polizei die Racheakte und die Welt der Traveller kaum in den Griff bekommt. Auch in der deutschen Übersetzung ist es Anna-Nina Kroll gelungen, diese Welt und die grobe Wirkung der eigenen Sprache der Traveller zu erhalten. Das fahrende Volk spricht eine Mischung aus irisch-gälischen, englischen und romanesischen Begriffen. In der Übersetzung entwickelte Kroll mit viel Gefühl eine eigene Schreibweise, einen Dialekt für Mary Crothery und ihre Familie.

In Irland wird seit Jahren eine hitzige Debatte um Moral, Verhütung und Abtreibung sowie das Verhältnis von Staat und Kirche geführt. Nach dem Observer (2018) wird die überraschende Zwei-Drittel-Mehrheit im Frühling 2018 für eine Lockerung des Abtreibungsverbots in Irland als Zeichen gewertet, „wie sich gesellschaftliche Ansichten geändert haben, da auch Menschen mit traditionellen Ansichten ihre Meinung geändert haben“. In den Jubel des modernen Irlands über die neue Freiheit der Frau, ihre Möglichkeit der Selbstbestimmung und den so genannten Sieg der Menschlichkeit mischen sich Zweifel. Liest man das Buch von Donal Ryan, muss die Frage gestellt werden, was die neue Freiheit in dem von der katholischen Kirche dominierten Land bedeutet, in dem viele die Augen vor der Debatte verschließen. Melody Shee berichtet im Roman, sie habe einen Zeitungsartikel über das Thema Abtreibung geschrieben. Als ihr Vater ihn las, stieg ihm „die Röte ins Gesicht […] und dann ging er eine Stunde früher zur Andacht als sonst.“ Später fragt Pat flehend und weinend seine Frau: „Willst du es nicht wegmachen lassen?“ Ihre Schande soll ausgemerzt werden. Vielleicht kann der Ehebruch vertuscht werden. Die Tötung des Babys wäre zumindest ein Schritt zur Wiederherstellung der Ehre des Ehemannes.

Es wird deutlich: Wo Frauen nicht als gleichberechtigt angesehen werden, sexistische Ressentiments und moralisch fragwürdige Ehrenbegriffe bestehen, wird der Fall des Abtreibungsverbots auch negative Folgen haben, weil die Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch häufig zweifelhaft sind. Obwohl sich das, wie Melody mehrfach betont, „Produkt meines Wahnsinns, der fleischgewordene Beweis für meine Verdorbenheit“ nach der Geburt zur „Verkörperung des Guten, der Liebe, mein kleiner Gott“ wandelt. Als sie das Kind neben sich liegen sieht, ist das Ende des Buches die endgültige Niederlage der Frau. Zwar lobt der Diogenes Verlag auf dem Schutzumschlag, die Entscheidung, die Melody letztlich trifft, sei „unkonventionell und mutig“. In Wahrheit symbolisiert sie jedoch die Kapitulation der Mutter vor den gesellschaftlichen Konventionen. Die im Alltag verborgenen Risse und Schatten einer von katholischer Moral geprägten Welt treten umso deutlicher zutage. Melody erkennt in ihrem Kind Gott, denn Gott sei Liebe, „die über alles Weltliche hinausgeht“. Hatte sie zuvor trauernd resümiert, dass in ihrem „Einfamilienhaus ein Holocaust stattgefunden [hat], eine Auslöschung der Liebe“, findet sie durch ihr Kind zur Liebe zurück – und hält sie trotzdem nicht fest. Sie gibt das Kind an den jungen Vater Martin Toppy, der sie zusammen mit ihrer Freundin Mary Crothery verlässt. Dieses Ende erschüttert nachhaltig und ist bis zu den letzten Seiten des Buches nicht vorherzusehen.

Donal Ryans Roman Die Lieben der Melody Shee ist ein bemerkenswerter Beitrag zu den Debatten, die in Irland geführt werden. Er zeigt nicht das touristische Irland glücklicher Kühe auf grünen Wiesen, sondern er zeigt schonungslos die dörflichen Konflikte auf, aus denen brutale Gewalt entsteht. Ryan zeigt was passiert, wenn sich zwei Menschen ein Leben teilen, sodass jeder nur noch ein halbes hat. Der junge irische Autor hat ein geradezu protestantisches Plädoyer für Aufklärung und Freiheit geschrieben, das gelesen werden sollte.

Titelbild

Donal Ryan: Die Lieben der Melody Shee. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
296 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070231

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