Authentische Drachen und realistisches Mittelalter

Mittelalterrezeption im digitalen Spiel

Von Bernhard RunzheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Runzheimer

Die Vermittlung von Geschichte beziehungsweise historischen Ereignissen stellt je nach Art des Mediums unterschiedliche Anforderungen an die Rezipient_innen. Während es Bücher den Leser_innen überlassen, die darin beschriebene Welt durch eigene Bilder zu synthetisieren, vermitteln bildgebende Medien wie der Film eine präkonfigurierte Visualität, die sich im Kino häufig auf Attraktion und Spektakel fokussiert. Das Video- oder Computerspiel ergänzt diesen Ansatz noch um eine interaktive Komponente, sodass die Spieler_innen sich nicht nur innerhalb einer historischen Rahmung bewegen, sondern diese durch ihre Taten auch beeinflussen können.

Damit stellt sich die Frage: Was wird minimal benötigt, um ein Setting im digitalen Spiel ‚mittelalterlich‘ erscheinen zu lassen? Theoretisch reichen dafür ein wenig Natur, ein gesatteltes Pferd und ein Schmied, der vor seiner Hütte unaufhörlich ein glühendes Metallstück bearbeitet. Will man die Konturen schärfen, können noch ein Ritter in Ganzkörperrüstung und ein Lautenspieler hinzuaddiert werden. Fügt man dieser Melange jedoch zusätzlich einen Drachen hinzu, landet man schon im artverwandten Fantasy-Setting und hat die Grenze von ‚realistisch‘ und ‚fiktional‘ überschritten, die die Genres ‚Mittelalter‘ und ‚Fantasy‘ voneinander trennt.

Doch wie sind Realität und Fiktion im Kontext des digitalen Spiels zu verstehen? Sind der Schmied und der Ritter nicht ebenso fiktional wie der digitale Drache im selben Setting? Und inwieweit kann man von Realität sprechen, wenn die komplette Diegese nicht – wie im Film – fotografisch abgebildet, sondern digital erschaffen wird? Insofern wäre es wohl zielführender, von Authentizität statt Realismus zu sprechen. Auch hier gibt es aber graduelle Abstufungen, die von ‚keine Drachen‘ bis hin zu ‚historisch akkurat’ reichen, was in diesem Extrem jedoch weitere Fragen aufwirft, die in den letzten Monaten einen nicht unerheblichen Teil der deutschen Games-Community in den sozialen Netzwerken auf die digitalen Barrikaden getrieben haben: Wie authentisch muss ein Spiel sein, um einer realhistorischen Vorlage zu genügen? Wie stark dürfen digitale Spiele von realhistorischen Abläufen abweichen, ohne als geschichtsrevisionistisch etikettiert zu werden? Und schließlich: Ist eine historisch akkurate Darstellung im digitalen Spiel überhaupt möglich?

Stein des Anstoßes ist das Anfang des Jahres erschienene Rollenspiel Kingdom Come: Deliverance (2018/Deep Silver), welches im mittelalterlichen Böhmen des frühen 15. Jahrhunderts spielt und primär den hohen Grad an Realismus und Authentizität als Distinktionsmerkmal zu anderen Vertretern seiner Zunft – wie dem Fantasy-Rollenspiel The Elder Scrolls V: Skyrim (2011/Bethesda) – anführt. Das von den tschechischen Warhorse Studios erstellte Spiel, laut Online-Präsenz „ein realistisches First-Person RPG, das dich ins mittelalterliche Europa entführt“, wurde über den gesamten Entwicklungsprozess mit hoher medialer Aufmerksamkeit begleitet und weckte durch den realitätsnahen Ansatz die Erwartungen der Games-Community.

Im Februar 2018, einen Monat vor Veröffentlichung des Spiels, startete der YouTuber Jan Heinemann eine Debatte zum Realitätsverständnis von Kingdom Come: Deliverance, die seitdem nicht nur die Games-Community in zwei erbitterte Lager spaltet, sondern sich durch den Diskurs in den sozialen Netzwerken auch darüber hinaus perpetuiert. Im Kern geht es Heinemann um den medial propagierten Realismus, der bei näherer Betrachtung lückenhaft erscheint:

„Ich kann bei diesem Authentizitäts-Taumel nur den Kopf schütteln. Vor allem, weil er in der Regel fernab aller geschichtswissenschaftlichen Forschungsergebnisse oder -diskussionen verläuft, sondern sich stattdessen auf verbreitete Vorstellungen von Geschichte stützt, die als absolute Wahrheit gesetzt werden. […] Jedes Werk (so auch jedes Spiel) sagt nichts über die historische Wirklichkeit aus, die es abzubilden behauptet, aber alles darüber, wie seine Autor*innen oder Entwickler*innen diese sehen – oder sehen wollen.“[1]

Speziell der letzte Satz sollte als Faustregel für die Rezeption und Bewertung digitaler Spiele gelten, die eine historische Authentizität für sich beanspruchen – vor allem bei geschichtlichen Epochen, die über das Zeitalter des Films und der Fotografie hinausgehen. Im Fall von Kingdom Come: Deliverance wurde versucht, diese vorhandenen Wissenslücken so gut wie möglich durch die Zusammenarbeit mit Geschichtswissenschaftler_innen, Universitäten und Museen zu schließen:

„The game is being developed with a full-time historian on-staff, and Warhorse Studios has been working closely with Universities and Museums to recreate real-world locations that existed in the 15th century, when King Sigismund and his Hungarian army marched into Bohemia intent on conquering the land.“[2]

Allen Bemühungen zum Trotz kann aber maximal eine Interpretation der erzählten Epoche vermittelt werden, jedoch keinesfalls eine als ‚realistisch‘ zu bezeichnende Diegese. Dies zeigt sich bereits in dem auf der Electronic Entertainment Expo (E3) veröffentlichten Trailer, der die Charaktere zwar in brillanter Optik präsentiert, aber diese in narrative und cineastische Konventionen einbettet und somit die mühsam aufgebaute diegetische Authentizität direkt wieder unterläuft. Die Frage nach einem wie auch immer gearteten Realismus bedarf daher aufgrund seiner Polyvalenz einer vorherigen Distinktion: Wie ist der Begriff ‚realistisch‘ im Kontext von Kingdom Come: Deliverance zu verstehen?

Auf visueller Ebene bedeutet die Verwendung dieses Begriffs die Hervorhebung der grafischen Darstellung, die sich im Laufe der Jahre innerhalb kürzester Zeitspannen fortwährend überholt. Seit jeher ist die Zuschreibung ‚Realistische Grafik‘ eines der beliebtesten Verkaufsargumente übereifriger Marketingabteilungen, wobei der Satz ‚Bessere Grafik als vor drei Monaten‘ wahrscheinlich einen treffenderen Wahrheitsgehalt hätte. Weiterhin sind die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Diegese denen der Realität nachempfunden und sorgen dafür, dass sämtliche Elemente unter anderem der digital implementierten Schwerkraft gehorchen. Zudem ist das Setting insofern realistisch, als dass es sich an den Gegebenheiten der realen Welt orientiert und keine Drachen oder sonstige dem Fantasy-Genre entlehnte Objekte enthält.

Neben Heinemanns generellem Lamento an der für das Spiel propagierten historischen Authentizität fokussiert sich seine zentrale Kritik auf den Gründer und leitenden Entwickler der Warhorse Studios, Daniel Vávra beziehungsweise dessen Vorlieben für Verschwörungstheorien und Musikprojekte verurteilter Neonazis, die im Anschluss direkt mit der Authentizitätsdebatte verknüpft werden: Digitale Spiele mit historischem Realitätsanspruch können insofern immer nur bestimmte Aspekte authentisch abbilden und stellen demnach ein Konglomerat an Eindrücken dar, die die beteiligten Entwickler_innen von der jeweiligen Epoche haben – was im Umkehrschluss nicht nur Rückschlüsse auf deren Gesinnung und politische Ansichten zulässt, sondern auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Vorstellungen ist, wie Eugen Pfister treffend zusammenfasst:

„Wir dürfen nie vergessen, dass Spiele mit einem historischen Setting nicht Quellen der dargestellten Epoche, sondern Quellen der darstellenden Epoche sind, also der transportierten Geschichtsbilder.“[3]

Mit zunehmendem Produktionsaufwand seitens der Entwickler_innen und Rezeptionsanspruch seitens der Spieler_innen in Sachen digitalem Realismus sieht sich die Community nun mit einer größeren Debatte konfrontiert, deren Grenzen vermeintlich eindeutig sind, aber in der Praxis fließend ineinander übergehen und plötzlich ein Umdenken erfordern, das in den vorhergehenden Jahren nur selten bis gar nicht erforderlich war. Somit entstehen frappierende Lücken im digitalen Realitätskonstrukt, die in den grafisch reduzierten Vertretern der frühen Spielezunft nicht ins Gewicht fielen, aber im Lichte der geballten Technikpower moderner Spieleplattformen nun umso deutlicher zutage treten. Daher sind es auch zumeist diese fehlenden Elemente, die die öffentlichen Diskurse befeuern – wie im Fall von Kingdom Come: Deliverance die fehlende Diversität der böhmischen Landbevölkerung, die von Heinemann folglich mit den mutmaßlichen politischen Ansichten des leitenden Entwicklers begründet wird.

Eine ähnliche Problematik der selektiven Nichterwähnung findet sich vor allem in 3D-Shootern, deren narrative Rahmung den Zweiten Weltkrieg umfasst. Die dortigen Handlungen und Spielziele drehen sich primär um effektvoll in Szene gesetzte Kriegshandlungen und die Tötung unzähliger Nazis. Dementgegen bleibt der Holocaust oder überhaupt nur eine Reflexion des ‚Dritten Reichs‘ als einer der Hauptgründe für dieses optimale Feindbild in nahezu allen Spielen unerwähnt, was in der Masse der Spiele und unter der Prämisse einer ‚realistischen‘ beziehungsweise ‚authentischen‘ Darstellung zur Vermittlung eines unvollständigen und gefährlichen Gesamt- beziehungsweise Geschichtsbilds führen kann.[4]

Dieser stetig steigende Realitätsanspruch, der sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestiert und der von Seiten der Spieler_innen auch eingelöst werden soll, kann laut Robert Glashüttner aber in den seltensten Fällen erfüllt werden:

„Games neigen dazu, bestimmte Dinge und Aspekte realistisch wirken zu lassen, vernachlässigen dafür andere – sonst würde man mit der Spieleentwicklung ja auch nie fertig werden.“[5]

Dieses triviale ökonomische Argument verweist nochmals auf die fragmentarische Natur digitaler Diegesen und deren inhärente Notwendigkeit, Dinge lediglich real erscheinen zu lassen, obwohl diese hinter den Kulissen nur aus artifiziellem Stückwerk bestehen.[6] Unter diesem Aspekt bleibt eine historisch ‚authentische‘ Vermittlung des Mittelalters im digitalen Spiel ein nicht erreichbares Ideal, was zwar bestimmte Facetten dieser Epoche, wie beispielsweise Waffen und Kleidung, authentisch nachbilden kann, aber die für das Gesamtbild fehlenden Restinformationen aus Überlieferungen und tradierten Geschichtsbildern extrapolieren muss. Wollte man sich daher um eine Lösung des beschriebenen Diskurses um Kingdom Come: Deliverance bemühen, müsste man diese in der Definition und Verwendung des Wortes ‚realistisch‘ suchen, das in diesem Fall im Spannungsfeld von übertriebener Verkaufsargumentation und überhöhtem Realitätsanspruch zerrieben wurde. Kaum vorstellbar, dass es ähnlich scharf geführte Debatten um Authentizität im artverwandten Medium des Films gegeben hätte, die nicht abrupt mit dem lapidaren Kommentar ‚Es ist nur ein Film‘ beendet wurden.

Letztlich darf nicht vergessen werden, dass das digitale Spiel ein vergleichsweise junges Medium ist und die aus dessen Nutzung entstehenden gesellschaftlichen Debatten erst aufgezeigt und ausgefochten werden müssen. Für die Vermittlung mittelalterlicher Szenarien müssen sich die Spieler_innen einstweilen damit begnügen, dass eine lückenlose authentische Diegese vorerst unerfüllbar bleiben und ein realhistorischer Anspruch nur in einzelnen Facetten möglich sein wird, die in ihrer Gesamtheit einen möglichst glaubhaften Eindruck des Mittelalters erzeugen.

Die Gefahr, dass ein mediales Artefakt zu sehr von einem individuell geprägten Idealbild abweicht, liegt natürlich bei einem bildgebenden Medium in dessen Natur, was im digitalen Spiel aber durch Partizipation und Interaktion zumindest abgeschwächt werden kann: Viele Spiele bieten den Spieler_innen die Möglichkeit zur Erweiterung in Form von Modifikationen, kurz Mods. Damit ist es möglich, neue Inhalte hinzuzufügen oder bestehende Dateien auszutauschen. So gibt es zum Beispiel für The Elder Scrolls V: Skyrim diverse ‚Medieval‘-Mods, die unterschiedliche Elemente des Fantasy-Settings durch mittelalterlich erscheinende Grafiken und Modelle ersetzen und dieses somit ‚realistischer‘ aussehen lassen, ganz nach dem Motto: ‚Ich mach mir die Mittelalter-Welt, wie sie mir gefällt!‘

Diese Praxis löst natürlich wiederum andere Diskurse aus, die von ‚Ich ersetze alle Drachen in The Elder Scrolls V: Skyrim durch Thomas the Tank Engine‘[7] bis hin zu Nationalsozialismusglorifizierungen in offenen Online-Communitys[8] reichen.

Als Schlusssatz könnte hier ‚Es ist nur ein Spiel‘ stehen, aber so einfach ist die Sache dann eben doch nicht.

Anmerkungen

[1] Heinemann, Jan: Das ‚authentischste‘ Historienspiel aller Zeiten?! Die gewaltige Schräglage von ‚Kingdom Come: Deliverance‘. 18.02.2018. URL: https://lepetitcapo.wordpress.com/2018/01/13/das-authentischste-historienspiel-aller-zeiten-die-gewaltige-schraeglage-von-kingdom-come-deliverance (Abgerufen am 13.07.2018).

[2] Peppiatt, Dom: Kingdom Come: Deliverance Is So Historically Accurate Historians Are Consulting The Dev Team. 01.12.2016. URL: https://www.xboxachievements.com/news/news-25767-Kingdom-Come–Deliverance-Is-So-Historically-Accurate-Historians-Are-Consulting-The-Dev-Team.html (Abgerufen am 14.07.2018).

[3] Pfister, Eugen: ‚Wie es wirklich war.‘ – Wider die Authentizitätsdebatte im digitalen Spiel. 18.05.2017. URL: https://gespielt.hypotheses.org/1334 (Abgerufen am 14.07.2018).

[4] Vgl. Pfister, Eugen: Ein ganz gewöhnlicher Krieg? Der Holocaust in Games. 08.07.2018. URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/games/holocaust-in-games-ein-ganz-gewoehnlicher-krieg-a-1215145.html (Abgerufen am 15.07.2018); Runzheimer, Bernhard: ‚Ist das Kunst oder muss das weg?‘ Der schmale Grat kontrafaktischer Nationalsozialismus-Darstellungen im digitalen Spiel. In: Johannes Rhein/Julia Schumacher/Lea Wohl von Haselberg: Schlechtes Gedächtnis? Kontrafaktische Darstellungen des Nationalsozialismus in alten und neuen Medien. Berlin (i. E.): Neofelis.

[5] Glashüttner, Robert: Realismus in Games. 29.06.2017. URL: https://fm4.orf.at/stories/2851272 (Abgerufen am 14.07.2018).

[6] Vgl. Runzheimer, Bernhard: Digitale Kulissen und die Problematik der ludonarrativen Grenzmarkierung. 30.11.2017. URL: http://pixeldiskurs.de/2017/11/30/digitale-kulissen-und-die-problematik-der-ludonarrativen-grenzmarkierung (Abgerufen am 15.07.2018).

[7] URL: https://steamcommunity.com/sharedfiles/filedetails/?id=201861191 (Abgerufen am 15.07.2018).

[8] Schott, Dominik: Menschenjagd und nachgebaute KZs: Unterwegs in der Nazi-Community von Rust. 16.11.2017. URL: https://motherboard.vice.com/de/article/gyjney/menschenjagd-und-nachgebaute-kzs-unterwegs-in-der-nazi-community-von-rust (Abgerufen am 15.07.2018).

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg