Der Mann mit den zwei Identitäten

In Thorsten Palzhoffs Roman „Nebentage“ verschlägt es einen Westler in das Leipzig der Wendezeit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange hat Thorsten Palzhoff gebraucht. Mehr als ein Jahrzehnt, in dem sich auch privat für den 1974 Geborenen einiges tat, ließ er nach seinem Erzähldebüt Tasmon (2006) verstreichen, ehe mit Nebentage nun ein Roman erschien, der die Thematik der deutschen Wende einmal von der anderen Seite her aufzieht. Ein Buch, dessen Inhalt sich allein über den so abgegriffenen wie ungenauen Begriff „Wenderoman“ beschreiben ließe, ist der erste Roman des Autors indes nicht geworden. Denn mit demselben Recht könnte man Nebentage auch den Kategorien Familien-, Entwicklungs- oder Identitätsfindungsroman zuordnen. Für den Autor selbst wird Nebentage, wie er in einem Interview bekannte, vom Motiv der Vaterschaft, dem „Thema abwesender Väter“, getragen.

Das sind im Buch vor allem zwei: der des Helden Felix Fehling und jener der Frau namens Nica, die dem aus dem Westfälischen nach Leipzig Geflüchteten dort begegnet. Sie, die mit ihrer Mutter acht Jahre zuvor in den Westen gegangen ist, forscht nach den Spuren ihres vor elf Jahren verstorbenen Vaters, der als Beleuchter an einem Theater der Messestadt gearbeitet hat. Er sucht vor allem sich selbst und einen radikalen Neuanfang. Als er in der leeren Wohnung eines besetzten Hauses einen auf den Namen Tobias Voss ausgestellten Pass findet, greift er deshalb sofort zu und bedient sich fortan dieser neuen Identität als „Erlösung aus einem falsch programmierten Leben.“

Palzhoff hat seinem Roman eine Rahmenhandlung verpasst, die noch einmal fünfeinhalb Jahre später spielt. In einem rumänischen Gefängnis sitzt Fehling/Voss nach einem mysteriösen Autounfall und muss sich in einer Verhörsituation seiner doppelten Identität stellen. Er nutzt die Gelegenheit — die Konstellation erinnert wohl nicht von ungefähr an die Ausgangslage in Max Frischs Roman Stiller (1954) –, um sich seiner neuen Geliebten, die die Tochter seines aktuellen Arbeitgebers ist und ihn allein unter dem Namen Tobias Voss kennt, zu erklären.

Einen umfangreichen Packen Papier hat ihm sein Schließer Jan ausgehändigt, den er, obwohl er mit einer Geste nur um ein Blatt für eine briefliche Mitteilung gebeten hat, nun nutzt, um Felix Fehlings Geschichte innerhalb von 21 Tagen niederzuschreiben. Dabei behandelt der erste Teil des Romans — „Erster Stoß“ ist er überschreiben — in sechs Kapiteln Felix’ Leben bis zu seiner Flucht aus Dortmund in den revolutionsbewegten Osten. Der „zweite Stoß“ — in dem die Kapitel 13 und 14 fehlen — beginnt mit Felix’ Ankunft in Leipzig am Tag der letzten Montagsdemonstration und endet mit seiner Verwandlung in Tobias Voss. Im dritten und letzten „Stoß“ schließlich erfährt Felix die Geschichte von Nicas Vater Klaus Haff und lässt sich mit einem skrupellosen Wendegewinner auf Geschäfte ein, ehe ihn der Vater seiner neuen Freundin, den er in Leipzig kennenlernt, erlöst.

Ein bisschen Oskar-Matzerath-mäßig liest sich die Geschichte des Kindes und Jugendlichen Felix Fehling im ersten Teil des Romans. Der zeichenbegabte Knabe ist in Schule und Familie ein Außenseiter, Schweiger und Sonderling. Er macht sich Vorwürfe, bei seiner Geburt den eigenen Zwillingsbruder getötet zu haben, der nach ihm, erdrosselt durch zwei Nabelschnüre, auf die Welt kam. Eine Wachstumsstörung als Folge davon, dass er seinem Vater bei der Taufe aus den Händen fiel, isoliert ihn von Gleichaltrigen. Statt mit anderen zu spielen, bringt er sich mittels eines Lexikons selbst das Lesen bei und vervollkommnet sein Zeichentalent. Erst mit der Nachbarstochter Anita, der allerdings ein verhängnisvolles Talent zum Zündeln eignet, gelingt ihm eine Beziehung zu einem anderen Menschen, die ihn jedoch letzten Endes auch nicht aus seiner Isolation befreit. Das ändert sich erst, als er beim Anblick der Fernsehbilder aus dem Osten Deutschlands beschließt, in Leipzig noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

„Ein Heulen kam über die Menge“, lässt Thorsten Palzhoff den zweiten „Stoß“ der Erinnerungen seines Protagonisten anspielungsreich beginnenDenn mit dem Satz „Ein Heulen kommt über den Himmel.“ haben Elfriede Jelinek und Thomas Piltz ihre 1981er Übersetzung von Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973) einsetzen lassen. Wo es sich im Roman des amerikanischen Kultautors allerdings um einen (geträumten) V2-Angriff auf London handelt, bläst bei dem geschickt ein Hauptwerk der Postmoderne in seinem Buch aufrufenden Palzhoff das veritable Sturmtief  „Vivian“ die letzte Leipziger Montagsdemonstration auseinander und Nica in Felix’ Arme. Fortan sind die beiden unzertrennlich und suchen nach Orientierung in einer Welt, in der gerade sämtliche Gewiss- und Sicherheiten verloren gegangen sind und derweil ein – für junge Menschen durchaus attraktives – anarchisches Durcheinander herrscht, in dem das Alte noch nicht ganz verschwunden ist, während das Neue bereits nach einer Form sucht, in der es sich verfestigen kann.

Felix und Nica landen in der Leipziger Hausbesetzerszene rund um die Stockartstraße, die im Roman „Stöckartstraße“ heißt und ein Zentrum des Widerstands gegen den allzu glatten Übergang aus dem Staatssozialismus in den Staatskapitalismus darstellt. Man beteiligt sich an Herstellung und Vertrieb einer Zeitschrift, in der gegen „Westpropaganda“ zu Felde gezogen und Umweltzerstörung bekämpft wird, registriert voller Unmut die einstweilen noch in „Verkaufszelten“ residierenden Vorboten der „Kolonialisierung von drüben“ und lässt sich auf Straßenschlachten mit Nazi-Cliquen ein, denen es ein Dorn im Auge ist, wenn die „Stöckartisten“ mit einem „NIE WIEDER VERSCHISSMUS“-Banner ihre Hausfront schmücken.

Palzhoff hat gut recherchiert und Vor-Ort-Erkundigungen mit offenen Augen und Ohren sowie seiner Kamera unternommen. Er weiß, dass der ostdeutsche Staat „Freund und Feind in Genitivketten“ legte und – wenn das nicht genügte – mit einem eng über das Land gelegten Spitzelnetz jeden Widerstand gegen das Arbeiter-und-Bauern-Paradies zwischen Magdeburg und Dresden, Rostock und Görlitz brutal unterdrückte. Er kennt das Ritual des „alljährlichen […] Bücherklaus“ auf der Leipziger Messe genauso wie die Tücken beim Steuern eines Trabis oder die sich aus dem Wandel der Besitzverhältnisse im Osten ergebenden Chancen für skrupellose Immobiliendeals. Dass das „Zurücksetzen des in den Sand gesetzten Entwurfs“ eines Staatssozialismus, der nicht, wie geplant, alle glücklich machte, durchaus kein leichtes Unterfangen darstellte und neue Widersprüche hervortreiben musste, erlebt Felix Fehling alias Tobias Voss am eigenen Leib. Nachdem er sich mit dem skrupellosen Geschäftemacher Flackhaus eingelassen hat, der mit Stasiunterlagen gewinnbringende Erpressungen ins Werk setzt, weiß er, dass die Welt der Profiteure an Wende und Wiedervereinigung nicht die seine ist.

Mein Interesse für Aktionen des bürgerlichen Ungehorsams im Jahr vor der Maueröffnung verschob sich in Richtung des historischen Augenblicks direkt danach, als eine Alternative zur herrschenden Gesellschaftsordnung möglich schien. Aber schon zwei, drei Monate nach der Wende war der Weg für jene Alternativlosigkeit geebnet, die uns heute umtreibt. An der Desillusionierung nimmt mein mit wenig Durchblick begabter Romanerzähler allerdings nicht teil, er wünscht sich vielmehr eine Revolution für sich und sein eigenes Leben

, heißt es in dem eingangs bereits erwähnten Gespräch des Autors mit Michael Ladegast. Nebentage – laut Felix‘ Leipziger Freundin Nica sind damit „verlorene Tage, an denen sie ohne jeden Grund neben sich stehe“, gemeint – erzählt von diesem Wollen, das letztlich scheitern muss, in einer bilderreichen Sprache, mit vielen skurrilen Einfällen und Figuren, die in Erinnerung bleiben. Vielleicht hat Palzhoff mit seinem am Ende knapp 300-seitigen Buch etwas zu viel gewollt – die Stasigeschichte um Nicas Vater Klaus Haff, in die Felix mithilfe seines dubiosen Bekannten Flackhaus Licht bringt, etwa hätte eine eigene Erzählung verdient, im Rahmen des Romans einer Selbstfindung geht sie ein wenig unter. Alles in allem aber hat er mit Nebentage ein Romandebüt vorgelegt, das auf seine nächsten Projekte gespannt macht.

Titelbild

Thorsten Palzhoff: Nebentage. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
333 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783100590060

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