Ohne Sonnentage leben

Annika Scheffels dystopischer Road-Trip-Roman „Hier ist es schön“

Von Carla SwiderskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carla Swiderski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Mission zur Besiedelung eines neuen Planeten oder eine geheime einsame Insel im Meer – zwei Utopien, die versprechen, der kargen, tristen Welt zu entfliehen. Einer Welt, in der es grau in grau ist, in der es kaum noch Pflanzen gibt, in der fast keine Rohstoffe mehr vorhanden sind und in der es kalt ist, weil die Sonne nur noch sehr selten scheint. In der die Lebensmittel knapp geworden sind und Treibstoff eine Mangelware ist. Eine Welt, die klein geworden ist und in der die Vorstellung von einem glücklichen Leben nicht mehr auf die Weite gerichtet ist, sondern auf die beschaubare, kompakte Umgebung. Wie es zu den einschneidenden klimatischen Veränderungen kam, die das tägliche Leben überschatten und die Träume auf eine bessere Zukunft in Sorgen über das Heute und Morgen umlenken, wird in Annika Scheffels Roman Hier ist es schön nicht thematisiert.

Die genaueren Umstände der Katastrophe ebenso wie die Neuordnung der Gesellschaft sollen offensichtlich nicht, wie sonst häufig im dystopischen Genre, Thema der Geschichte sein. Im Zentrum des Interesses steht der individuelle Umgang, stehen die Fluchtfantasien aus dieser ereignisarmen, reizlosen Welt, die nicht mehr viel zu bieten zu haben scheint. Die Insel oder der neue Planet – beides befindet sich in unerreichbarer Ferne. Nur nicht für Irma und Sam, den Protagonisten. Sie haben sich in einer Reality-Show gegen andere Kandidaten durchgesetzt und wurden live im Fernsehen zu den Auserwählten gekürt, die die erste menschliche Kolonie auf einem entlegenen Planeten im Weltall gründen sollen. Sie sind die Hoffnungsträger der mit Arenakämpfen auf Leben und Tod betäubten Gesellschaft, die ihre bedürfnisreduzierte Existenz mit medial befeuerten Projektionen der eigenen Sehnsüchte auf das Unerreichbare versüßen.

Doch bevor es nach einer zehnjährigen Vorbereitungsphase der Protagonisten, in der sie von der restlichen Welt abgeschottet in ominösen Trainings auf die Mission vorbereitet werden, dann tatsächlich ins All gehen soll, bricht Sam aus dem Medienzirkus aus. Er begibt sich auf die Suche nach einer verheißungsvollen Insel, dem angeblich letzten Stückchen Erde, auf dem es sich gut leben lassen soll – nur mit einer wenig hilfreichen Karte und einer Notiz ausgerüstet, die ihm verspricht, dass dort jemand, dessen Identität nicht einmal Sam zu kennen scheint, auf ihn wartet, was als Motivation für den Ausbruch doch recht dürftig anmutet. Irma folgt ihm unwillig, bleibt ihr doch keine andere Wahl, da die sogenannten Masken, die die TV-Produktion anonym und gnadenlos leiten, den Ausbruch als vielversprechenden Quotenbringer sehen und ihn deshalb im Hintergrund dirigieren und unterstützen – wenn sie Sam nicht sogar auf die Idee gebracht haben, denn mehr und mehr verfestigt sich der Verdacht, dass Irma und Sam auf ihrer Reise durchweg überwacht und geleitet werden und an Zufall eigentlich an keiner Stelle mehr zu glauben ist.

Ein Wiedersehen mit den im Stich gelassenen Freunden von Irma, ihren hadernden Eltern, den neugierigen Nachbarn und den vielen Zuschauern der Show, die mal mehr mal weniger freundlich gesinnt sind, aber alle so wirken , als haben sie schon auf die beiden Stars aus ihrer Lieblingsfernsehsendung gewartet, beleben die Reise, die Irma und Sam mit ihrem wie zufällig auftauchenden Jugendfreund Tom in dessen Familienauto unternehmen. Bruchstückhafte Einblicke in eine postapokalyptische Welt, die nach dem Einbruch der globalen Strukturen wieder auf den eigenen Garten verwiesen ist. Eine Welt, in der Mobilität ein Luxusgut ist. Ein Glück, dass kein einziges Mal während des gesamten Road-Trips getankt werden muss, denn das hätte wohl schwierig werden können. Auch schießt einem zwischendurch der Gedanke durch den Kopf, was für Survival-Trainings die beiden innerhalb der vorangegangenen zehn Jahre wohl absolviert haben, denn zumindest bei diesem irdischen Abenteuer sind sie anscheinend keine große Hilfe.

Im Laufe der Handlung stellt sich immer deutlicher heraus, wie unterschiedlich die Startbedingungen von Irma und Sam sind. Erfährt man hauptsächlich durch einen einleitenden Briefteil, dass Irma aus einem liebevollen familiären Umfeld stammt und sich als gelangweilte 16-Jährige freiwillig gemeldet hat, was ihre Familie und Freunde verstört zurücklässt, wird in den darauffolgenden personalerzählten Passagen deutlich, dass Sam in einer Art Versuchsanstalt der TV-Firma aufgewachsen ist und bisher keinerlei Berührung mit der nicht-inszenierten, freien Welt hatte. Damit sind die perfekten Voraussetzungen für ein Jugendbuch erfüllt, in dem sich zwei Teenies aus komplett verschiedenen Milieus langsam annähern und ineinander verlieben. Erfrischenderweise tun Sam und Irma dies jedoch nicht, zumal ja auch noch Tom da ist, der die Aufmerksamkeit beider auf sich zieht. Irma und Sam hingegen bleiben distanziert interessiert aneinander, mit einer gewissen Prise Unverständnis und Misstrauen gegenüber dem anderen.

Hier ist es schön ist nicht nur aus diesem Grund kein klassischer Jugendroman und wird auch nicht als solcher verkauft. Zwar beginnt er mit einem jugendlichen Figurenpersonal, doch macht die Handlung wie schon erwähnt einen Sprung von zehn Jahren, womit die Protagonisten Mitte zwanzig sind und ein ganz anderes Reflexionspotenzial besitzen könnten, als im Jugendliteraturbereich üblich. Nur merkt man es der Figurenpsychologie leider nicht recht an, dass nun junge Erwachsene das Geschehen dominieren. Bleibt das Gefühlsspektrum beider also eher im pubertären Bereich, werden auf der Handlungsebene neben Themen wie Freundschaft und Eltern-Kind-Beziehungen Spuren gelegt, die von bedrückenden Macht- und Gewaltstrukturen zeugen und grundsätzlich Fragen danach aufwerfen, wie eine Gesellschaft mit dem Recht jedes einzelnen Menschen auf Freiheit umgehen will, vor allem im medialen Zeitalter.

Damit bringt der Roman viele interessante und aktuell dringend zu diskutierende Probleme zusammen. Neben dem Klimawandel und der Frage nach der Nachhaltigkeit des aktuellen Lebensstils stehen auch medien- und moralphilosophische Themenkomplexe im Fokus wie beispielsweise das von der Autorin selbst in Interviews als Referenz genannte Medienphänomen „Mars One“ des niederländischen Fernsehkonzerns Endemol verdeutlicht, bei dem tatsächlich Menschen gecastet werden sollten, um die Erde für immer zu verlassen und eine erste Kolonie auf dem Mars aufzubauen. Bisher konnte das großangelegte Reality-TV-Projekt allerdings nicht verwirklicht werden.

Nun findet aber der Roman selbst keinen überzeugenden Weg, diese Gegenstände erzählerisch gelungen zu verbinden. In einem Genrehybrid aus Science-Fiction, Dystopie und Road-Trip-Roman werden viele Motive aus bekannten Vorgängern nicht immer logisch konsistent kollagiert. So erkennt man unter anderem prominente Vorbilder wie die Reise zum Meer aus Cormac McCarthys The Road, die teils tödlich endenden, medial inszenierten Arenakämpfe aus Suzanne Collins Romantrilogie The Hunger Games und der Verdacht auf komplette Überwachung und Konstruktion der innerliterarischen Realität aus dem Film The Truman Show. Zwischen all diesen Anleihen verliert sich die eigene Botschaft allmählich und es drängt sich beim Lesen immer mehr die Frage auf, was hier eigentlich erzählt werden soll und worum es im Kern geht. Das ist schade, weil das engagierte Vorhaben durch die diversen Erzählschleifen deutliche Längen erhält. Auch wenn die kunstvolle Art des Schreibens selbst durchaus ein Lichtblick ist.

Titelbild

Annika Scheffel: Hier ist es schön. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
389 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427941

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