Kulturpatriotismus als Alternative zum Dumpfdeutschen
Thea Dorn poliert Traditionslinien und argumentiert besonnen zu Identitätsfragen
Von Bernd Blaschke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Land der Deutschen eine Seele suchen, sein Wesen oder wenigsten Wertbestände zu erkunden: Heimat- und Identitätsfragen treiben Thea Dorn schon länger um. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Richard Wagner publizierte die gelernte Philosophin, geübte Romanautorin und Fernsehmoderatorin 2011 einen Stichwort-Band zur „deutschen Seele“. In gut 70 jeweils 2 bis 40 seitigen Essays sondierten die beiden dabei Orte, Bräuche und Dinge, die besonders bedeutsam für die Deutschen seien. Heraus kam ein geistreiches Sammelsurium, ein deutsches Kuriositätenkabinett. Dort wurde auf 40 Seiten der Rolle der Musik für die Deutschen nachgegangen, auf 30 Seiten dem „Weib“ und auf nur 3 Seiten dem „Bierdurst“ – dazu kamen freilich 7 Seiten „Gemütlichkeit“ und 14 Seiten „Reinheitsgebot“. Von Abendbrot, Arbeitswut und Abendstille über Kindergarten, Kirchensteuer, Kitsch und Kleinstaaterei bis zu Winnetou, Wurst und Zerrissenheit kartierte das Autorenduo durch diverse Lebenssphären umherschweifend die deutsche Seelenlandschaft. Das war anregend, verspielt, amüsant – und es war 2011.
Nun im Jahr 2018, nach heftigen Identitäts- und Grenzdebatten und einer Serie von AfD-Wahlerfolgen in Land- und Bundestagswahlen ist das öffentliche Senden (um vom Stammtisch-Gerede zu schweigen) über Bedingungen und Gehalte des Deutschseins heiß gelaufen. Es ist viel Dampf im Kessel. Darf man Deutschland lieben oder nur Europa oder gleich die global zusammenschnurrende Welt? Und wenn ja, welches Deutschland soll man rühmen und lieben? Mit erstaunlicher Gelassenheit, Souveränität und einer kräftigen Prise liberaler (und doch mitfühlender!) Leidenschaft seziert Dorn nun das Meinungsgetümmel und bezieht Position. Dabei verwendet sie das klassisch philosophische Besteck der Begriffsunterscheidungen. Sie stellt grundlegende Fragen, was immer ein guter Einstieg ist, argumentiert abwägend, erzählt kleine und große Geschichten und spielt Ideen-Konfrontationen häufig im Modell eines sokratischen Dialogs durch.
In acht Kapiteln findet Thea Dorn eine Art vernünftigen Mittelweg zwischen nationshassenden Antipatrioten und xenophoben Deutschnationalen. Dabei wird sie ihrem Ratgeber-Untertitel weithin gerecht; der verspricht einen Leitfaden für aufgeklärte Patrioten. Die gewitzte Autorin trägt ihr Plädoyer für einen humanistisch gezügelten, weltoffenen Patriotismus ziemlich argumentationsstark vor. Zu ihren Kapitelstichworten schreibt sie freihändig, ohne Fußnoten und geht dabei gleichwohl anknüpfend oder widerlegend auf zahlreiche ältere und neuere Identitätsdebattenbeiträge ein. Von Johann Gottfried Herder, Helmut Plessner und Ralf Dahrendorf bis zu Marina und Herfried Münkler, Robert Menasse und Ulrike Guérot hat sie einige Bücher zum Themenkomplex verarbeitet. Liebster Kronzeuge ist ihr freilich der vom Ästheten und Kultur-Sonderwegs-Deutschen zum Demokraten und westlich orientierten Zivilisationsverteidiger gewordene Thomas Mann. Die derzeit allzu oft reflexhaft, unbesonnen verlaufende Debatte über die glorreiche oder schändliche Geschichte der Deutschen, über Gründe, das Heimatland zu lieben oder zu kritisieren, kann von Dorns umsichtig abwägender Handreichung nur profitieren. Die Richtung weist ihrem Plädoyer ein überzeugender moralischer Kompass gepaart mit alltagstauglichem Pragmatismus.
Worum geht es nun genau in Dorns acht Kapiteln zum aufgeklärten, erträglichen Deutschsein? In jedem Kapitel befragt sie einen Leitbegriff der Nationaldebatte auf seine Herkunft, ideologischen Implikationen und Aufladungen. Sie testet gleichsam die Brauchbarkeit von Konzepten wie „Identität“, „Leitkultur“ und „Patriotismus“. Sie erwägt ihre Nütz- oder Schädlichkeit und ihre Reichweite für ein individuelles Selbstverständnis wie für politische Debatten. Los geht es mit der elementaren Frage, ob es eine abgrenzbare „deutsche Kultur“ überhaupt gebe, was dazugehöre und was nicht. Die Kurzantwort lautet: Es gibt sie schon, wie es auch eine türkische Küche oder eine amerikanische Musikkultur gebe. Doch dürfe man solche kulturellen Herkunftslinien nicht konservativ identitär verstehen. Vielmehr gedeihe Kultur offen, auf Wandlungen und transnationalen Austausch bezogen; kulturspezifische Grundzüge im Sinne einer Familienähnlichkeit ließen sich gleichwohl erkennen.
Das zweite Kapitel fragt nach Existenz, Nutzen und Schaden einer Leitkultur (die Dorn als Leitzivilisation verstanden wissen möchte), das dritte nach Last und Glück von Identität oder Identitätslosigkeit. Ihre Kapitel vier bis sechs verorten die Bindung und Liebe zur Heimat in ihrem Verhältnis zu einem europäischen Identitätsbewusstseins respektive zur Idee eines allumfassenden, nichts mehr ausgrenzen wollenden Weltbürgertums. Dorn wägt das jeweils Gute und Nützliche an diesen Kollektiv-Identitätsprojektionen ab, und zwar in individualpsychologischer wie weltpolitisch zivilisatorischer Hinsicht. Schließlich gelten ihre letzten beiden Kapiteln einer kompakten Erzählung deutscher Geschichte in normativer Hinsicht. Dies geschieht unter der ambitionierten Überschrift „Die deutsche Nation – warum es sie gibt“. Wobei Dorn dieses „warum“ einerseits im Sinne der Genealogie versteht (woher wir kommen), vor allem aber teleologisch, als Wille des solidarischen Zusammenseins zu guten, humanistisch vertretbaren Zielen. Dorns nicht-biologistisches Konzept der Nation stützt sich auf Ernest Renans voluntaristisches Nationsmodell, aus dessen berühmter Rede von 1882 sie zustimmend zitiert:
In der Vergangenheit ein gemeinsames Erbe von Ruhm und Reue, für die Zukunft ein gemeinsames Programm; gemeinsam gelitten, gejubelt, gehofft haben – das ist mehr wert als gemeinsame Zölle und Grenzen, die strategischen Vorstellungen entsprechen. […] Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist.
Eine heute gemeinhin wenig populäre Opferbereitschaft fordert Dorn auch für unser postheroisches Zeitalter. Allerdings wünscht sie dies nicht blind oder wertneutral für die eigene Nation, sondern für hohe Werte: Freiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Bewusstsein für hochkulturelle Leistungen zudem das Einstehen für die geschichtlichen Verbrechen des Nationalsozialismus. Opferbereitschaft fordert Dorn also für die Werte, die sich als Leitzivilisation Deutschlands auf langen (Um-)Wegen ausgeprägt hätten, und die es nun gegen Widersacher (sie benennt hier Chinas autoritären Staatskapitalismus ohne Menschenrechte ebenso wie islamistische Frauenbilder) gleichermaßen zu verteidigen gelte, wie sie jenen Freiheit oder Schutz suchenden Neuankömmlingen zu vermitteln seien. Einwanderung möchte sie mithin streng an Werten (im Sinne des Asylrechts) orientiert steuern; ökonomische Gründe der Immigrierenden wie auch des aufnehmenden Landes mit seinen demografischen oder arbeitsmarktbedingten Problemlagen müssten dahinter zurückstehen.
Sehr deutlich wird, wie peinlich Dorn die Kaperung von Kategorien wie Heimat, kulturelle Identität oder Vaterlandsliebe durch die neue Rechte findet. Hier schreibt sie mit einigem Pathos und artikuliert ihren Abscheu ebenso deutlich wie sie unmissverständlich erklärt, dass die Verbrechen des deutschen Faschismus einen unvergesslichen Zivilisationsbruch darstellen, mit dem man (näherhin: jeder Empfindsame) weder durch Vergessen noch mittels automatisierter Gedenkfolklore fertig werde. Wie die Berlinerin mit hessisch-pfälzischem Migrationshintergrund in ihrer kurzen, normativ-moralischen Geschichte der Deutschen die Walser-Bubis-Debatte oder den Historikerstreit auf wenigen Seiten verhandelt und bewertet, das zeugt von ihrer Souveränität im Bewerten von Argumenten und von Mut zur Positionierung.
Nachdem Dorn eingangs mit guten Gründen die Orientierung an einer „Leitkultur“ ersetzt sehen möchte durch die eher politisch liberalistischen Prinzipien einer „Leitzivilisation“, kommt sie am Ende doch nochmals zu spezifisch (hoch-)kulturellen Bestandteilen an ihrem idealen Patriotismus zurück, die über Gleichheit, Freiheit und Rechtstaatlichkeit als Rahmenwerte hinausreichen. Dem individuellen wie politischen Freiheitsspielraum, der vom Verfassungspatriotismus geschätzt und verteidigt werden soll, stellt Dorn einen letztlich freilich etwas diffus bleibenden Bildungs- und Kulturpatriotismus als vermeintlich motivations- und begeisterungsstärkere Antriebskräfte zur Seite. Hier werden Franz Schuberts Lieder, Johann Sebastian Bachs Passionen und die Tradition der Faust-Dichtungen als kanonische Werke gepriesen. Zudem wird die Kenntnis von Homers europäischen Gründungsepen dem Daddeln auf Computer- oder Handy-Displays opponiert. Dorn glaubt mithin nicht an das globale Internet als mögliche Heimat – für die Digital Natives, die sich zu Hause fühlen möchten, wo sie sich per WLAN in die Netzwerke einklinken können. Erst große, komplexe Kunstwerke trainieren und vermitteln den Umgang mit komplizierten Problemlagen, könnte man Dorns didaktische Funktionsbestimmung für den Hochkulturkanon paraphrasieren.
So sympathisch dieses Bekenntnis zum Orientierungs- und Verständigungswert klassischer Werke daherkommt, so wenig systematisch wird dieses Bildungs- und Kulturplädoyer vorgetragen. Statt einer genaueren Bestimmung spezifisch deutscher, europäischer oder weltliterarisch globaler Werke, die einen Kanon (was ja ursprünglich „Maßstab“ bedeutet) für aufgeklärte Patrioten bilden könnten, bleibt es bei der Nennung einiger Big Names und der Feststellung, dass deutsche Kultur und Kulturheroen (von Johann Wolfgang Goethes Faust bis Hermann Hesses Steppenwolf) seit mindestens 200 Jahren von einer produktiven Zerrissenheit geprägt seien. Hier wünschte man sich aus Dorns Feder durchaus noch ein wenig mehr der Arbeit an einem zeitgemäßen, aufgeklärten Kulturkanon. Doch bleibt ihr Vorschlag einer Ergänzung des Verfassungspatriotismus (als sittlich zivilisatorisch wie politisch unabdingbarer Rahmen), den sie übrigens mit schönen Funden weit vor Dolf Sternberger und Jürgen Habermas auf kaum bekannte Theoretikern des 18. Jahrhunderts zurückführt, mit einem gleichsam heimeligeren, mehr Leidenschaft versprechenden Kulturpatriotismus ein bedenkenswertes Projekt.
Wollen wir hoffen, dass dieser Leitfaden zum erträglichen Deutsch- und Patriotischsein in die Hände und Köpfe möglichst vieler gelangt, die von dumpfdeutscher Rede verführt werden könnten. Oder als Argumentenkiste und Gesprächsvorlage für diejenigen gute Dienste leisten möge, die als Eltern, Lehrer, Nachbarn oder Mitbürger den xenophoben, ausgrenzenden Nationalismen dieser Tage etwas Feineres, Sensibleres und Attraktiveres entgegensetzten möchten: einen aufgeklärten Kulturpatriotismus.
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