Zur Adoption freigegeben

Über „Digitale Heldengeschichten“ in Aline Madeleine Holzers medienübergreifender narratologischer Studie

Von Benedikt KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benedikt Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im Jahr 1784 exemplarisch mit der Drucklegung einer Nibelungen-Ausgabe ein im weitesten Sinne wissenschaftliches Interesse an den sogenannten Rittergedichten der Vorzeit (wieder-)erwacht, scheint es an prominenter Stelle zunächst keinen Schuss Pulvers wert. Bereits zweieinhalb Dekaden später beklagt sich Heinrich von Kleist in einem Brief an seine Verlobte, dass sich in den Regalen einer Würzburger Bibliothek nur Rittergeschichten befänden – und zwar rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern und links die Rittergeschichten ohne Gespenster. Mit dieser Feststellung ist dann auch programmatisch die Stoßrichtung der bis in die Gegenwart reichenden populären Mittelalterrezeption beschrieben: die konkreten historischen Textzeugen sind etwas für den Elfenbeinturm der Gelehrten, für bibliophile Wissenschaftler oder neurotische Philologen und weltfremde Historiker, das eigentliche in den Vorstellungen wirksame Mittelalter wird dagegen in den Medien der Populär- und Unterhaltungskultur inszeniert. Ob nun im Groschen-, Schund- und Schauerroman, effekthaschend in Film und Fernsehen oder eben im Computerspiel, das unterliegt den Bedingungen, Möglichkeiten und Vorlieben des jeweiligen Zeitgeistes.

An diesem Punkt setzt Aline Madeleine Holzer mit ihrer Masterarbeit an und versucht herauszufinden, wie viel wahres, echtes, kurz: authentisches Mittelalter in einigen der erfolgreichsten Titeln der Computerspielbranche steckt. Der Fokus liegt dabei klar auf stoff- beziehungsweise motivgeschichtlichen Traditionen und narratologischen Aspekten. In ihrem Anliegen ist die Arbeit den aktuellen Brückenbauprojekten verpflichtet, die den hochkulturellen Blick (hier aus Perspektive der germanistischen Mediävistik) auf die vermeintlichen Keller-, Schmuddel- und Waisenkinder der medialen Großfamilie richten. Diesem Anliegen ist es dann auch geschuldet, dass Holzer in den ersten beiden Kapiteln zunächst Thema und Herangehensweise rechtfertigt, einen kurzen Abriss über Geschichte, Anliegen und Methode der Game Studies liefert sowie über das Erzählpotenzial des Computerspiels im Rahmen der technischen Realisierbarkeit reflektiert. Dass in der noch jungen Forschungsgeschichte der Game Studies besonders die Pädagogen dieses schwarze Schaf gerne umgehend in das nächstbeste Waisenhaus verbannt hätten, verwundert ein wenig, vermutet man stiefmütterliches Verhalten doch vor allem auf Seiten der Literaturwissenschaft. Die das Computerspiel betreffende Problematik lässt sich nämlich unterm Strich mit der Gretchenfrage nach der Literarizität formulieren. Und das liest sich bei Holzer wie die Geschichte vom verlorenen Sohn. Ein verkanntes Medium wird unter dem Paradigma kulturwissenschaftlicher Slogans (Kultur als Text) zurück in den Schoß der Textualisierbarkeit geholt. Recht so.

Nach der spannenden Schilderung dieser doch etwas tragischen Familienereignisse und der Zusammenfassung der darauf folgenden Sorgerechtsstreitigkeiten unter den verschiedenen Fachwissenschaften erscheint Holzers Forderung nach mehr Interdisziplinarität nur konsequent. Besonders wenn sich der methodische Zugriff, bedingt durch die hohe Interaktivität des Computerspiels, mindestens als divergent beziehungsweise eher als schwierig gestaltet. Eine stärkere Berücksichtigung der internationalen Forschungsliteratur sowie der Grundsatzdiskussion zwischen Ludologen und Narratologen hätte an dieser Stelle jedoch sicherlich zeigen können, dass sich das ein oder andere Versöhnungsritual sowie zaghafte Annäherungsversuche bereits vollzogen haben – allerdings meist außerhalb der deutschsprachig geführten Diskurse. So bleiben die ersten beiden Kapitel etwas rudimentär. Vor allem auch, weil mit den sogenannten Abenteuer-Spielbüchern ein Vorläufer des interaktiven Erzählens keine Beachtung findet. Reihentitel wie The Warlock of Firetop Mountain oder Lone Wolf ritten in den 1980er Jahren nicht nur auf der großen Fantasy-Welle, sondern waren international ebenso große kommerzielle Erfolge. Viele dieser Titel werden aktuell sogar in verschiedenen Übersetzungen wiederaufgelegt. Da auch die ersten Pen-and-Paper-Rollenspiel-Systeme wie Dungeons & Dragons oder Das schwarze Auge ungefähr zur gleichen Zeit veröffentlicht wurden und sowohl im Ausbau interaktiver Erzählmodi sowie im Ausbeuten des mittelalterlichen Zitatenschatzes deutliche Parallelen zu den Fantasy-Gamebooks aufweisen, hätte man sich hier gleich noch ein wenig um diese Waisenkinder kümmern können. Besonders wenn von den angesprochenen Titeln Adaptionen im Computerspiel-Milieu vorliegen (zu denken wäre hier an Referenztitel wie die Baldurs Gate-Reihe, die DSA-Nordlandtrilogie oder an Drakensang). Diesbezüglich machen sich aber wohl nur jene Literaturwissenschaftler die Hände wirklich schmutzig, die sich ohnehin im Rahmen der Trivialliteraturforschung nur mit den Zweitgeborenen beschäftigen. Schade jedenfalls, denn an dieser Stelle wurde leider etwas Potenzial verschenkt – gerade auch im Hinblick auf die später folgenden, von Holzer als „erfolgreiche Mesalliance“ zwischen Mittelalter und Fantasy betitelten Überlegungen.

Im dritten Kapitel geht es dann weniger um die Geschichte der Game Studies als mehr um Geschichten und Geschichtliches im Computerspiel. Womit ja per se gewisse epistemologische Schwierigkeiten und damit die nächsten Gretchenfragen verbunden sind: inwieweit kann Geschichte überhaupt authentisch in einem digitalen Medium dargestellt werden? Inwieweit ließen sich dabei historische Korrektheit oder Faktizität überhaupt messen? Inwieweit lässt sich Geschichte grundsätzlich nur über Geschichten, also im Rahmen der Diegese erfahren? Und inwieweit können diese Geschichten immer nur Aktualisierungen sein? Obzwar Holzer diese Fragen an-, um-, mit- und überdenkt, werden sie explizit nicht wirklich durchdacht. Weshalb die Überlegungen in diesem Kapitel einerseits zwar einen hauptsächlich reproduktiven Charakter haben, zumindest über den Umweg der Zitation aber andererseits auch erinnerungskulturelle beziehungsweise kulturwissenschaftliche Aspekte berücksichtigt werden, die sich in Kombination und Summe mit anderen Aspekten dann als ungemein produktiv erweisen. Allein in Bezug auf die Schlagworte ‚Wissensbestände‘ und ‚Geschichtsbewusstsein‘ kommt es hier zu einem vielversprechenden Stelldichein, das sogar auf Nachwuchs hoffen lässt. Geboren muss dieser dann allerdings an anderer Stelle werden, denn Holzers Ausführungen enden leider viel zu schnell indem sie mit Valentin Groebner resümiert: „dann sind die Mittelalterinszenierungen der Populärkultur heute genau das wirkungsmächtige Mittelalter, das uns umgibt und vorgibt, was Mittelalter denn genau ist.“ Demnach verrät der gegenwärtige allgemeine Blick auf ‚das Mittelalter‘ also weniger über das Mittelalter per se als über den Betrachter selbst. Um einen reflektierten Umgang mit Geschichte respektive ein selbstreflexives Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, spielen folglich authentische Geschichtsbilder weniger eine Rolle als populäre. Eine Einsicht übrigens, die bereits Eingang in die Geschichtsdidaktik gefunden hat. Diese populären Bilder vom Mittelalter zeigen ein „Sekundärmittelalter“ (Groebner), ein Mittelalter also, das immer wieder aufs Neue konstruiert wird und sich im 21. Jahrhundert vor allem unter Einfluss der Fantasy laut Holzer zu einem „Supermittelalter“ entwickelt. Einer der verwaisten Bastarde aus dieser nicht standesgemäßen Ehe von traditionellen Wissensbeständen und Fantasy ist dann das Computerspiel mit mittelalterlichem Setting. Und diese Waisen werden dann in den folgenden Kapiteln zur Adoption freigegeben, womit die Probleme beginnen.

Zunächst erscheint der Eklektizismus problematisch, wenn nicht sogar willkürlich: es ist nicht nachvollziehbar, unter welchen Kriterien die untersuchten Computerspiele von Holzer ausgewählt wurden. Es werden verschiedene Genres wie Single-Player-Rollenspiele (Dragon Age), MMORPGs (Guild Wars 2, World of Warcraft), Strategiespiele (Anno 1404, Spellforce) oder Action-Adventures (Assassin’s-Creed) buntgemischt, während Genreklassiker beziehungsweise Referenztitel wie die Gothic-, Diablo- und The Elder Scrolls-Reihe oder auch Medieval: Total War und Crusader Kings kaum oder gar keine Erwähnung finden. Weiterhin problematisch erscheinen die Untersuchungsparameter: anstelle die im vorherigen Kapitel angedachten kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu vertiefen oder zu systematisieren, macht Holzer unter Bezugnahme auf die vielgelobte Dissertation von Carl Heinze (Mittelalter Computer Spiele) erst einmal zwei neue Fässer auf und erschließt mit den Kategorien „Mittelalter als Kulisse“ und „Mittelalter als Marke“ neue Untersuchungshorizonte – die Exploration des Neulands beschränkt sich dann allerdings im Wesentlichen auf das Setzen der Flagge. Auch wenn sich mit dem von Hans-Joachim Backe entwickelten Strukturmodell zur Untersuchung der narrativen Makrostruktur von Computerspielen eine von Holzer zunächst berücksichtigte Methodik anbietet, wird diese Methodik im Untersuchungsteil nicht stringent angewandt. Und das führt nicht zuletzt zu einem weiteren Problem: während narratologische Aspekte zu sehr zurücktreten, erschöpft sich das weitere Vorgehen vor allem im Aufzeigen von Begriffs- und Motivimporten. Das erscheint wiederum nicht nur willkürlich, sondern auch nicht zielführend. Wenn also in den unterschiedlichsten Computerspielen (meist) stark dekontextualisiert Begriffe oder Namen aus zum Beispiel der germanischen Mythologie Verwendung finden, kann man sich durchaus fragen, welchen Erkenntniswert die bloße Nennung des Zitats bieten soll? Zumal mit der Verquickung von germanischer Vorzeit und Mittelalter weitere Probleme auftauchen, die über die Person Richard Wagners als der große nachhaltige „Mittler des Mittelalters“ (Peter Wapnewski) zu Mittelalterkonstruktionen des 19. Jahrhunderts führen. Zusätzlich führt Holzer dann einige Überlegungen aus, die sich auf Charakteristika mittelhochdeutscher Literatur beziehen, in der Übertragung auf Computerspiele mit mittelalterlichem Setting jedoch ziemlich unspezifisch bleiben: Verwendung von Traum- und Anderweltmotivik, Unabhängigkeit der Protagonisten von Witterungsbedingungen, niemals zu spät kommende Helden, âventiurehafter Aufbau mit kombattanten Bewährungsproben und Endkämpfen et cetera sind keine Alleinstellungsmerkmale von Mittelalter- oder Fantasy-Games, sondern kennzeichnen ebenfalls viele andere Computerspiele. Die Bezüge wirken hier demnach etwas konstruiert. Dass Holzer schlussendlich dann auch noch die Authentizitäts-Debatte durch die Hintertür wieder hereinlässt, ist ebenfalls problematisch. Der selbstlose Einsatz für die medialen Waisenkinder hatte zunächst ja hehre Ziele vermuten lassen, wenn am Ende der Arbeit dann hier und da doch wieder damit argumentiert wird, dass die untersuchten Games teilweise ‚authentisches‘ Mittelalter abbilden oder sich von ‚authentischen‘ Quellen, also hier der mittelhochdeutschen Literatur inspirieren lassen, wird in der Argumentation zumindest implizit ein Rehabilitationsanspruch (eventuell sogar hochkultureller Dünkel) mitformuliert. Was aber einerseits nicht nötig und andererseits wiederum nicht zielführend ist, da die untersuchten Games ja ein Sekundärmittelalter abbilden – und Sekundärmittelalter ist per definitionem ein hochgradig konstruiertes und vor allem populärkulturell wirksames Mittelalter.

Noch ein Wort zur Konstruiertheit beziehungsweise zum Aufhänger von Holzers Arbeit: das Adjektiv ‚episch‘ ist sicherlich immer an Narrative gebunden und umschreibt im alltagsprachlichen Gebrauch die superlativische Überformung des Normalen, des Erwarteten. Episch kann also die Niederlage der deutschen Nationalmannschaft während einer Weltmeisterschaft sein, episch kann sich eine Überlandfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln gestalten, genauso die Biografie eines Geisteswissenschaftlers oder eben das Erleben eines Computerspiels. Mit den verschiedenen Konnotationen von ‚episch‘ zu spielen und eine Beziehung zum Begriff der ‚Epik‘ und damit zur Heldenepik sowie zum Epos herzustellen, erscheint dabei allerdings weniger gelungen und mehr konstruiert.

Auch wenn die Liste der Monita eine gewisse Länge hat, kann man Holzers Masterarbeit nicht vorwerfen, dass sie eine Masterarbeit ist. Viele der Kritikpunkte liegen in der Natur genau dieser Sache begründet. Würde man die Arbeit eingedenk ihres Entstehungskontextes würdigen, nämlich als akademische Abschlussarbeit, dann wäre sie in vielerlei Hinsicht ‚episch‘. Da die Arbeit jedoch in gedruckter Form einer breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, müssen zwangsläufig auch andere Bewertungskriterien geltend gemacht werden. Und das führt unter dem Strich zum Urteil, dass mit Holzers Arbeit vor allem eine Einführung vorliegt. Wer sich bisher weder mit Game Studies im Allgemeinen noch mit Mittelalterrezeption im Computerspiel im Speziellen befasst hat, ist mit Holzers Arbeit nicht schlecht beraten. Forschungsstand und -geschichte werden gut zusammengefasst, die Einzeluntersuchungen geben dann verschiedene Beispiele für verschiedene Zugänge, die an anderer Stelle weiter vertieft werden können. Der große Gewinn an Holzers Arbeit ist dabei sicherlich die multiperspektivische Ausrichtung. Verschiedene Zugänge der unterschiedlichsten Fach- und Teildisziplinen werden hier nicht nur zusammengefasst, sondern vor allem in Beziehung zueinander gesetzt. Auch wenn diese Form des Synkretismus noch ein wenig unausgegoren wirkt, keine elaborierte Methodik zum Ergebnis hat und auch im Untersuchungsteil nicht stringent angewandt wird, dürfte sich die Lage der medialen Adoptivkinder zukünftig verbessern – vor allem wenn sich Eltern mit germanistisch-mediävistischem Hintergrund um Games mit mittelalterlichem Setting kümmern.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Aline Madeleine Holzer: Digitale Heldengeschichten. Medienübergreifende narratologische Studie zur Rezeption der mittelalterlichen deutschsprachigen Epik in Computerspielen.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
193 Seiten, 44,95 EUR.
ISBN-13: 9783631720295

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