Die Frau spricht für sich

Amalie Skrams Psychiatrieromane erzählen von der Handlungsmacht einer Hysterikerin

Von Szilvia GellaiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Szilvia Gellai

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Else Kant ist eine sensible Frau – eine gefeierte Malerin und Mutter eines kleinen Kindes. In beiden Bereichen stellt sie hohe Ansprüche an sich und fürchtet sich davor, zu scheitern. Schlaflosigkeit, Halluzinationen, Angstzustände sind die Folge. Dem Zusammenbruch nahe und „verzweifelt bis zur Todessehnsucht“ sucht sie Hilfe bei Professor Hieronimus, dem als Koryphäe verehrten Psychiater des Städtischen Krankenhauses in Kopenhagen. Das Aufeinandertreffen der begabten Patientin und des renommierten Arztes führt jedoch zu einem erbitterten Kampf. Aus diesem autobiografisch inspirierten Stoff entfaltet die norwegisch-dänische Schriftstellerin Amalie Skram (1846–1905) gleich zwei Romane, die in der aktuell vorliegenden Neuübersetzung Seite an Seite stehen: Professor Hieronimus und In St. Jørgen.

Die beiden Romane erschienen erstmals 1895, im selben Jahr also wie Sigmund Freuds und Josef Breuers kanonisch gewordene Studien über Hysterie. Skram selbst jedoch sollte durch den dänischen Mediziner Knud Pontoppidan, das reale Vorbild des Professor Hieronimus, eine ganz andere Behandlung als die psychoanalytische erfahren. Pontoppidan trat seinerzeit zwar durchaus als Reformer der psychiatrischen Praxis auf – so stellte er vorwiegend gut ausgebildetes weibliches Pflegepersonal in seiner Abteilung ein und setzte der Isolation der Kranken durch das Prinzip der (bei Tag und Nacht) offenen Zimmertüren ein Ende. Wie aber gerade die letztere Maßnahme verdeutlicht, dominiert hier noch der durchdringende klinische Blick eines Charcot, sprich: Überwachung statt talking cure.

Was als erstes auffällt, ist die totale Diskrepanz zwischen dem Wunsch der Romanheldin, endlich mit einem Fachmann über ihren Zustand sprechen zu können, und der Wortkargheit des Professors, der sich von der neuen Patientin hauptsächlich anhand der Schilderungen des Ehemannes ein Bild verschafft. Sobald Else die Schwelle des Krankenhauses passiert, ist sie als Gesprächspartnerin erst recht disqualifiziert: „Wenn man auf diesem Flur liegt“, erfährt sie später von einer Schwester, „glaubt einem niemand ein Wort von dem, was man sagt.“ Professor Hieronimus unterbindet fortan jeglichen Kontakt zur Außenwelt und setzt sich zum Ziel, der Patientin Disziplin beizubringen. Die Hysterikerin hat sich der autoritären Ordnung zu fügen: „Lernen Sie erst einmal einen gewissen Grad an Selbstbeherrschung! Ihre Krankheit besteht darin, dass Sie sich nicht beherrschen können“, so der Chefarzt. Das Bett – für die Schlaflose ohnehin die Folterbank schlechthin – darf sie darum zunächst überhaupt nicht verlassen. Trotz großzügiger abendlicher Medikation kann sie aber bei den offenen Türen und dem andauernden Lärm weiterhin kein Auge schließen.

Zum Schrecken der devoten Schwestern, die im Stillen doch Sympathie für sie fassen und ihr zur Demut raten, nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Sie nennt Hieronimus einen „Papst im Taschenformat“ und verlangt ihre Entlassung. Der Arzt rächt sich auf seine Weise, öffnet demonstrativ den lang ersehnten ersten Brief, lässt keinen Besuch zu und erklärt Elses bildend-künstlerisches „Interesse für das Abnorme“ zum sicheren Beweis ihrer Geisteskrankheit. Selbst der immer freundliche Assistenzarzt, mit dem auch mal Dialoge möglich sind, genießt es, ab und an die totale Macht seines Berufsstandes über die Patienten durchblicken zu lassen. Dessen ungeachtet stehen die Doktoren in der Auseinandersetzung mit Else insgesamt ziemlich schlecht da. Skram pflegt dabei einen naturalistischen Stil, der das intensive emotionale Innenleben der Protagonistin umso schärfer hervortreten lässt. Nach 25 Tagen gelingt ihr schließlich die Versetzung in eine andere Einrichtung in St. Jørgen, wo die Fortsetzung des Romans spielt. Was bleibt, ist die Wut dem eigenen Ehemann gegenüber und ein an Besessenheit grenzendes Interesse für Hieronimus.

Literarische Psychiatriegeschichten bieten meist exzellente Gelegenheiten für die Beobachtung von gesellschaftlichen Ideologemen, insbesondere, was die abendländische Ordnung der Geschlechter betrifft. Für die Gegenwart gilt dies nicht minder als für die Jahrhundertwende. Und Skrams Romane sind außergewöhnlich. Nicht nur verkaufen sie sich damals sehr gut, sondern entfachen zudem eine öffentliche Kontroverse, vor deren Wellen Pontoppidan zeitweilig sogar nach Jütland flieht. Professor Hieronimus wohnt eine ungeheure Wucht inne, denn Else ist keine Märtyrerin. Ihre angebliche Krankheit besteht gerade darin – und Skram artikuliert dies glasklar –, als Frau ein aktives, handelndes und kritisches Subjekt sein zu wollen und diesen Anspruch auch zwischen den Wänden einer patriarchalischen totalen Institution erfolgreich zu behaupten. Die im psychiatrischen (und auch im psychoanalytischen) Diskurs üblicherweise zum Schweigen verdammte Frau spricht damit für sich, ja erzählt ihre Geschichte selbst. Die Neuauflage von Skrams Werken ist sehr zu begrüßen, macht sie doch eine starke weibliche Stimme der Moderne wieder hörbar.

Titelbild

Amalie Skram: Professor Hieronimus.
Mit einem Nachwort von Gabriele Haefs.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt.
Guggolz Verlag, Berlin 2016.
462 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370070

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