Ritt über den Bodensee

Hundert Jahre nach ihrem Tod erscheint erstmals ein autobiographischer Text Franziska zu Reventlows über die Desertion ihres Sohnes im Ersten Weltkrieg

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franziska zu Reventlows bislang unbekannter und nun erstmals veröffentlichter autobiographischer Text Die Kehrseite des deutschen Wunders zähle zu den „beeindruckenden Zeugnissen der Dokumentarliteratur der Moderne“, urteilen Kristina Kargl und Waldemar Fromm, die HerausgeberInnen eben dieses Textes. Gemeinhin ließe sich so etwas unter der Rubrik Eigenwerbung verbuchen. In diesem Falle aber ist es mitnichten eine Übertreibung. Denn Reventlow gibt genauestens Auskunft über ihre Planung der risikoreichen Flucht ihres Sohnes Rolf, der während des Erstens Weltkriegs als deutscher Soldat über den Bodensee in die neutrale Schweiz ruderte. Mit Reventlows Text dürften die noch immer quicklebendigen Spekulationen und Mythen über diese Flucht ein Ende finden. Und darüber hinaus schließt er einige weitere Lücken in der Biographie seiner Autorin. Reventlows Leben bis 1910 ist insbesondere durch ihre Tagebücher gut belegt. Doch enden sie mit ihrer Münchner Zeit und brechen am 14. Oktober 1910 auf ihrer Fahrt nach Paris ab. Die zweite umfangreiche biographische Quelle, ihr Briefwechsel mit ihrem ehemaligen Geliebten Bogdan von Suchocki, überstand dessen Auswanderung zunächst in die USA, später nach Mexiko nicht lange und versiegt bereits 1909.

Das (veröffentlichte) Quellenmaterial aus der Zeit nach 1910 ist hingegen dürftig und bestand bislang im Wesentlichen aus einigen Briefen Reventlows an eine Handvoll Freunde und Bekannte sowie einigen Berichten und Tagebucheinträgen von ZeitgenossInnen.

Nun aber liegt ein umfangreicherer Text Reventlows über die Jahre von 1914 bis 1917 vor. In seinem Zentrum steht die fast schon sagenumwobene Desertation ihres Sohnes Rolf, den sie zwar nicht selbst unter dem Kugelhagel deutscher Soldaten über den Bodensee ruderte, wie es mythenbildende Erzählungen wollen, an der sie aber nicht unwesentlich Anteil hatte.

Geschrieben hat Reventlow den Text offenbar auf Wunsch von Henry-Pierre Roché, der 1907 für einige Monate zu ihren Geliebten gehörte und später als Autor von Jules et Jim bekannt wurde. Rochés Nachlass lagert im Harry Ransom Center der University of Texas in Austin. Dort hat die als Professorin für Literaturwissenschaft an der südafrikanischen Stellenbosch Universität tätige Roché-Forscherin Catherine du Toit Reventlows Text entdeckt.

Von 1916 an lebte Roché als Kunsthändler in New York, wo er sich in der „Franco-American War Cooperation“ engagierte. Möglicherweise bat er Reventlow, mit der er noch immer in freundschaftlicher Verbindung stand, deshalb um eine ausführliche Schilderung der spektakulären, damals nicht nur in den Gazetten heiß diskutierten Flucht, weil Reventlows Bruder Ernst einer der bekanntesten und rührigsten Kriegsverherrlicher war. Jedenfalls dürfte die Nationalität Rochés der Grund dafür sein, dass Reventlow seinem Wunsch in französischer Sprache nachkam. Aline Coulombeau-Ottinger hat den Text für die vorliegende Ausgabe ins Deutsche übertragen.

Neben Reventlows Bericht enthält der Band weiteres beachtliches Quellenmaterial. Zum einen den fast ebenso langen Abschnitt über den Ersten Weltkrieg aus den bislang ebenfalls nicht publizierten Erinnerungen ihres Sohnes Rolf und zum anderen einen auf Interviews mit Mutter und Sohn fußenden Bericht der französischen Illustrierten Excelsior über das waghalsige Fluchtunternehmen. Hinzu kommt ein teils farbiger Bildteil mit einer Reihe bislang unveröffentlichter Fotografien. Die HerausgeberInnen haben außerdem den letzten bekannten Brief Reventlows in ihren Essay Die Gräfin und der Krieg aufgenommen. Er richtet sich an die Redaktion einer Schweizer Zeitung und wurde, wie Kargl und Fromm vermuten, um den 7. November 1917 verfasst.

Das Zentrum des Bandes aber bildet zweifellos Franziska zu Reventlows eigener Text, was allerdings weder aus dem Einband noch dem Titelblatt des vorliegenden Buches hervorgeht. Beide vermitteln vielmehr den Eindruck, man halte eine aktuelle Aufsatzsammlung zu Reventlow und dem Ersten Weltkrieg in Händen.

Reventlow hat ihren Bericht ganz in dem aus ihren literarischen Werken bekannten Stil feiner Ironie verfasst. Nur gelegentlich mischt sie angesichts der Ungeheuerlichkeit des Krieges entsprechend harte Worte und Urteile unter. Bevor sich die Autorin dem Ersten Weltkrieg zuwendet und ausführlich von ihren Vorbereitungen zur Befreiung ihres Sohne aus dessen Klauen erzählt, blickt sie kurz in ihre Kindheit und Jugend im elterlichen Schloss nahe Husum zurück. Dies dient ihr insbesondere dazu, sich in scharfen Gegensatz zu ihrem „berühmten Bruder“ Ernst zu stellen, „der so blutrünstige Artikel geschrieben hat“ und „zum Pangermanisten wurde“. Heute ist sie die berühmte oder doch zumindest bekannte Autorin, während der spätere Nationalsozialist – er trat bereits 1927 der NSDAP bei – zu Recht weithin vergessen ist.

Den Ausbruch des Krieges erlebte Reventlow „sehr krank“, so dass sie zunächst „nicht viel von den Ereignissen“ begriff. Wenige Monate später, im November 1914, aber reiste sie für zwei Monate nach München – um sich einer Operation zu unterziehen, wie man aus den Erinnerungen ihres Sohnes erfährt – und fand die bayrische Hauptstadt, die noch vor wenigen Jahren „die freiste, die fröhlichste, die anti-preußischste, die kosmopolitischste Stadt in Deutschland“ gewesen war, von preußischen Untugenden überwältig. „Niemals“ waren Reventlow ihre „ehemaligen Landsleute“, deren kriegsbegeisterte Sprache sie „nicht verstand“ und deren Gesten sie „abstießen“, „so unsympathisch, wie damals, als sie aufwachten und alle einverstanden und einer Meinung mit der einzigen und großen Idee waren“. Diese als „deutsches Wunder“ gefeierte Gleichschaltung, der „blindwütige Antisemitismus“ und die allgegenwärtige „Liebe und Freude am Krieg“ hat sie gründlich von jeglichen Sympathien für alles Deutsche befreit. Zu ihrem Entsetzen wurde jedoch auch ihr siebzehnjähriger Sohn von dem ‚Wunder‘ übermannt.

Anderthalb Jahre später, im Frühsommer 1916, war Reventlow ein zweites und letztes Mal in München. Rolf, der inzwischen nicht mehr ganz so begeistert war, aber doch seiner vermeintlichen Pflicht nachkommen wollte, hatte Anfang des Jahres die Einberufung erhalten. Wieder fand Reventlow die bayrische Hauptstadt und ihre Menschen gründlich verändert vor. „Der Hurrapatriotismus war von einer allgemeinen Depression abgelöst worden.“ Niemand mehr liebte den Krieg oder hatte Freude an ihm. Während ihres Aufenthaltes kam es sogar zu Hungeraufständen, die allerdings im Keim erstickt wurden.

Kaum war ihr Sohn in eine Uniform gesteckt worden, begann Reventlow schon „das Projekt“ seiner Desertion zu entwickeln. Die Überwindung der sich dabei ergebenden Hindernisse schildert sie sicher nicht ganz frei von einer gewissen Selbststilisierung. Da sie in der neutralen Schweiz lebte und seit ihrer Scheinehe mit einem russischen Baron selbst russische Staatsbürgerin war, konnte sie nicht ohne weiteres nach Deutschland ein- oder von Deutschland ausreisen. Darum ließ sie sich zum Schein vom deutschen Nachrichtendienst anwerben. Denn sie erhoffte sich so, künftig nach Belieben ein- und ausreisen zu können. Außerdem gewann sie die Unterstützung anarchistischer Kautschukschmuggler für ihr Vorhaben, Rolf auf illegalem Wege in die Schweiz zu holen. Während all der Vorbereitungen für den – wie allen Beteiligten bewusst war – waghalsigen Ritt über den Bodensee konnte sich Reventlow allerdings keineswegs sicher sein, dass ihr Sohn überhaupt desertieren wollte. Diese Gewissheit erlangte sie erst kurz vor der Durchführung des Unternehmens, als sie einander in Konstanz sehen konnten.

Zwar verlief keineswegs alles so, wie von Reventlow geplant. Aber bekanntlich gelang ihrem Sohn am 8. August 1917 dennoch die Flucht in einem Ruderboot. An diesem Tag lässt Reventlow ihren autobiographischen Essay mit den triumphierenden Worten „Ich habe dem Kaiser meinen Sohn weggenommen“ enden. In ihnen spiegeln sich die überaus persönlichen, aber keineswegs gänzlich unpolitischen Gründe für all die Wagnisse, welche die antipatriotische Pazifistin dabei einging.

Der Abdruck der Erinnerungen ihres Sohnes reicht über diesen Tag hinaus und endet erst mit der Novemberrevolution 1918, also einige Monate nach dem tragischen Tod seiner Mutter, die offenbar in ihren letzten Lebensmonaten bereits sehr geschwächt und von Krankheit gezeichnet war.

Ein informativer Essay der HerausgeberInnen beschließt den Band. Eine kleine Kritik daran betrifft die Zitierweise einer bestimmten Quelle: der Tagebücher Reventlows. Bekanntlich gibt es die auf Else Reventlows Ausgabe fußende Version von Brigitta Kubitschek in Bd. 3 der Werkausgabe von 2004 und die teils beträchtlich davon abweichende (und zweifellos authentischere) von Irene Weiser und Jürgen Gutsch aus dem Jahr 2006. Kargl und Fromm nennen in den Fußnoten zumeist Kubitscheks Edition als Quelle, obwohl sie aus derjenigen von Weiser und Gutsch zitieren. Das beeinträchtigt den Wert des vorliegenden Bandes jedoch nicht. Die hier erstmals vorgelegten Quellentexte sind von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Reventlow-Forschung und für alle, die über die Lebensgeschichte dieser faszinierenden Persönlichkeit Neues erfahren wollen.

Titelbild

Kristina Kargl / Waldemar Fromm (Hg.): Die Kehrseite des deutschen Wunders. Franziska zu Reventlow und der Erste Weltkrieg.
Volk Verlag, München 2018.
174 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783862222704

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