Anrufung und jaktierende Sprache

Mary Jo Bangs lyrische Totenklage um ihren Sohn ist auf Deutsch erschienen

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 25. Juni 2004 erschien in der New York Times eine Traueranzeige für Michael Donner Van Hook, verstorben mit 37 Jahren an einer Überdosis Medikamenten, Sohn von Gary Bang und der amerikanischen Lyrikerin Mary Jo Bang, deren Totenklage um ihren Sohn 2007 auf Englisch erschien. Nun haben es Uda Strätling und Matthias Göritz unternommen, Elegy ins Deutsche zu übertragen. Was vorliegt, ist in der Tat eine einzige Elegie, auch wenn sie aus 64 einzelnen Gedichten besteht. Hier gibt es kein zentrales Einzelgedicht, etliche Motive werden immer wieder aufgenommen und zu einem komplexen Geflecht aus Trauer, Schmerz und Anrufung komponiert: „Please / Come back. Please Be…/” – in Elegie kommt nichts vorwärts, man nimmt keine Chronologie innerer Entwicklung wahr. Zwar sind viele Gedichte mit der Realzeit verlötet: „September is“, „November Elegy“, „January Elegy“, „A Year Ends“. Doch Zeit ist hier immer – so der Titel eines anderen Gedichts – „Now“, ein unbewegliches, nur in sich selbst bewegtes „Jetzt“ des Schmerzes. Zeit ist aber auch anwesend als Erinnerung. Bang nimmt Fragmente aus dem Leben ihres Sohnes auf, in einem Gedicht wird er als Vierjähriger dargestellt, in einem anderen als kindlicher Erfinder eines Kartenspiels. Erinnerungen, die sind ja das Benzin der Trauer-Arbeit, der Entwicklung weg vom Toten, vom Verlust. Doch fällt auf, dass diese Erinnerungen wie unverbundene Splitter auftauchen. Die Erinnerungen an ihren Sohn wirken kaum als Versuch, die Arbeit der Trauer zu verrichten, wie das von Freud 1917 beschrieben wurde: Das geliebte Objekt existiert nicht mehr. Die Libido muss vom Objekt abgezogen werden. Ein Hin und Her aus Sträuben, Nichtakzeptieren und Anerkenntnis der Realität beginnt. Kraft und Zeit sind nötig, die Lösung zu vollziehen.

Findet das hier statt? Freud grenzte Trauer von Melancholie / Depression ab. Verarbeitet die Trauer einen Objektverlust, so muss man Melancholie anders verstehen, aber auch hier geht es um Bindung und Beziehung. Bei der Melancholie gelingt die Ablösung vom geliebten Objekt nicht richtig. Der Melancholiker identifiziert sich mit dem Objekt, das verloren ist. Damit verliert sein Ich einen Teil seiner selbst – im Gegensatz zur Trauer, wo es nicht zu einem Ichverlust kommt. Ich führe Freuds Unterscheidung nicht an, um an einer Autorin herumzupsychoanalysieren, vielmehr sind Freuds Beschreibungen hilfreich zum Verständnis von Inhalt, Sprache und Form in Bangs Elegie. Inwiefern? In der Trauer und in der Melancholie beschäftigt sich das Subjekt nur mit dem verlorenen Objekt, ist nur auf es bezogen, in sich mit ihm eingeschlossen. Die äußere Realität wird abgedimmt, ausgeschlossen. Der wesentliche Unterschied zwischen Trauer und Melancholie besteht darin, dass bei der Trauer die Welt leer geworden ist, bei der Melancholie ist es das eigene Ich, das verarmt.

In Bangs Elegie fällt ein mehrfaches Eingeschlossensein auf, das zugleich Ausgeschlossensein oder vielleicht besser Unerreichbarkeit signalisiert. Ein Gedicht heißt nicht zufällig „Enclosure“. Die Asche ihres Sohnes wird nicht in einer Urne, sondern einer „box“ aufbewahrt, eingeschlossen, in der Nähe der Mutter gehalten. So nah er ist, so ist er doch unerreichbar, sie ist ausgeschlossen, weil sie lebt und er nur noch Asche ist, unerreichbar im Tod. Hier folgt die zweite Einschließung. Interessanterweise tauchen in Elegie weder Michaels Vater noch der Bruder auf. Bang scheint geradezu eingemauert in diese Trauer – und schließt aus. Und schließlich scheint sie auch mit ihm, Michael, eingeschlossen zu sein, in sein Fehlen, in die Tatsache, dass sie ihn vermisst: sie sei „mired“ – also: verstrickt, verwoben, hineingewurstelt – „as I am, // In this missing“.

Bangs Trauer wird kompliziert durch Michaels früheres Leben. Sein Tod scheint kein Zufall gewesen zu sein, er hatte viele Jahre mit Drogen zu kämpfen:

…Here I am
Sitting on a chair, thinking
About you. Thinking
About how it was
To talk to you.
How sometimes it was wonderful
And sometimes it was awful.
How drugs when drugs were
Undid the good almost entirely

…Da bin ich
sitze auf einem Stuhl, denke
an dich. Denke
daran, wie es war,
mit dir zu reden.
Wie es manchmal wunderbar war
und manchmal furchtbar.
Wie Drogen, wenn da Drogen waren
das Gute fast vollständig aufhoben

Kompliziert wird die Trauer auch durch das Verhältnis Bangs zu ihrem Sohn, Fremdheit wird angedeutet, die Hilflosigkeit einer Mutter angesichts der Unerreichbarkeit und Schroffheit eines offensichtlich begabten (diese Begabung lässt der Schutzumschlag erahnen, den ein Gemälde des Sohns Donner Van Hook ziert. Zwar erinnert das an Jackson Pollock, wirkt aber dennoch eigenständig und nicht bloß imitierend), aber schwierigen Kindes. Andeutungen eines gequälten, überforderten Lebens tauchen auf: „It´s always been difficult“. Oder: „You with a handful of Phenobarbital tablets. / You with a need // To escape the too much.” Und kompliziert wird die Trauer durch Schuldgefühle Bangs:

Grief of the mother
Whose child has been swept away

By the needle broom
Of all her mindless errors.

Leid der Mutter,
deren Kind weggefegt wurde

vom Nadelbesen
ihrer vielen gedanklosen Fehler.

Sie spricht von „ihrem Mangel”, wirft sich falsches Verhalten vor: „If she had only done X / When instead she´d done Y / Then he would see this / Sun, this rain”.

Schon allein diese inhaltliche Komplexität macht Bangs Gedicht zu einem der großen Klagegesänge der Literatur. Doch findet das Entsprechung in Sprache und Form? Ja, so wenn sich Bang abarbeitet am Nevermore und an der Zeit – das wird sprachlich unscheinbar und daher umso eindrücklicher unter anderem mit Zeitadverbien konstruiert: „Someone has seen you / And says you were fine / Just hours before you weren´t.” „Just“: gerade eben also noch, aber dann war er vorbei. In einer anderen Zeile heißt es: „In the mind´s photographic eye // He still looked like he was, but he wasn´t.” „Still”: immer noch oder noch – solche winzigen semantischen Anzeiger des Umkippens des Augenblicks vom Leben zum Tod finden sich oft und sind der Versuch, sprachlich zu fixieren, was das Gefühl nicht erfassen mag. Es bleibt beim Nichtakzeptieren des Todes ihres Sohns über die Zeit hinweg: „She kept waking thinking / No less today than a year ago.“ Die Zeit entfaltet sich in dieser Trauer nicht, schreitet nicht fort, sie kreist in sich: „He lived in her mind / As a limited aspect where time kept circling // A track that went back/To the death day”: Die Zeit kreist in sich zurück zum Todestag des Sohnes.

Ist das hier also keine Trauer, sondern Melancholie? Ein Verlust im Ich, das dadurch verarmt, was symptomatisch für die Melancholie wäre? Das Interessante an Freuds Unterscheidung ist nach wie vor, dass sie einerseits treffsicher, andererseits völlig daneben ist. Warum? Irgendwann ist nach Freud ein Trauerprozess abgeschlossen, die Realität des Verlusts wird anerkannt, man lebt weiter. Verarmt das Ich aber nicht doch? Stirbt, wenn ein geliebter Mensch stirbt, nicht auch bei Trauer dauerhaft ein Teil des eigenen Lebens? Bleibt eine Bindung, eine Beziehung nicht nachhaltig gekappt? Das Faszinierende an Bangs Gedicht ist, dass es genau diese Ambiguität artikuliert.

Wenn der Prozess der Trauer lange Zeit in sich kreist, dann hat das in der Melancholie / Depression eine Entsprechung. In der deskriptiven Psychopathologie kennt man das Phänomen des Gedankenkreisens, landläufig Grübeln genannt. Man kommt immer wieder auf ein Problem zurück, umkreist es, kann es nicht lösen. Man haftet ewig an einem Gedankeninhalt, einem Insichkreisen des Denkens, das immer wieder in Schlaufen und Rückkehrbewegungen auf sich selbst zurückkommt. Ein Denken, das auf der Stelle tritt. Auch das wird hier beschrieben als „Rumination“, Ruminieren.

Was das Grübeln im Hirn, ist in der Psychomotorik das Jaktieren. Wer trauert, wer Schmerzen hat, wiegt sich zur Beruhigung hin und her, vor und zurück wie ein hospitalisiertes Kind. Es ist wie ein Gebet an der Klagemauer. Doch wieder geht es bei solchen Vergleichen nicht um eine Psychopathologisierung von Literatur. Vielmehr verweist dieses ‚Jaktieren‘ auf formale Qualitäten von Bangs Elegie. Sie zeigen sich beispielsweise an ihrer Art der Verwendung von Enjambements. Enjambements verbinden und unterbrechen. Man kann Enjambements gewissermaßen ‚motorisch‘ verstehen: sie beugen sich nach vorn und zurück. Sie verbinden sich dem nächsten Wort in der nächsten Zeile, nähern es also an; sie unterbrechen den Satzfluss, entfernen sich also vom nächsten Wort, beugen sich weg und zurück. Diese formale Struktur lässt sich bei Bang immer wieder erkennen.

Das, unter anderem, macht die Übersetzung des Gedichts schwierig, weil der Satzbau im Englischen einige Abweichungen zum Deutschen aufweist. Überdies unterscheidet sich das Englische vom Deutschen durch seine Knappheit. Dieses Gedicht zu übersetzen stellt somit mehrere Herausforderungen, die teilweise hervorragend angenommen wurden. Ein Spezifikum Bangscher Lyrik ist die Verwendung von Abstrakta, oft durch Substantivierung von Adjektiven, die einen Touch ins Neologistische bekommen. Zugleich werden diese Abstrakta oft mit Konkretem kombiniert. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: „In the welled nothingness of definitely, / There is another // Sad sobbing day…/“. Wie soll man das übersetzen, ohne dass dabei nicht nur Hölzern-Storchenbeiniges entsteht? Als: „Im quellenden Nichts des Bestimmten / gibt es wieder nur einen / traurig seufzenden Tag“? Oder: „In der quellenden Nichtheit von bestimmt / ist ein weiterer // Traurig seufzender Tag“? Göritz und Strätling haben sich für folgende Lösung entschieden: „Im sickernden Nicht-Bestimmten / wartet wieder ein anderer // Trauer- und Tränentag.“ – Angesichts der Dichte der englischen Stelle scheint mir das eine elegante Lösung.

Allerdings haben mich einige der Übersetzungen auch verwirrt. Das ist nicht unbedingt kritisch gemeint, aber mir wurde manchmal einfach nicht klar, welcher Logik Strätling und Göritz folgten. Zwei Beispiele sollen das zeigen. Im Gedicht „Words“ heißt es: „Parole. Mote in one´s eye.” Strätling und Göritz übersetzen das mit: „Langue. Parole. Bewährung. Balken im Auge.” „Parole” ist ja nun die „bedingte Haftentlassung”. Zwar legt der Titel des Gedichts eine linguistische Deutung des Wortes nahe – aber hier de Saussures Unterscheidungen von langue und parole unterzubringen, ist wenig plausibel. Ähnlich geht es mir mit der folgenden Stelle aus „Enclosure“: „Sight and sound. Sight and sound.” Wiedergegeben wird das von Strätling / Göritz mit „Bild und Geräusch. Sight und Sound” – doch wozu? Offensichtlich will Bang wiederholen, repetieren – aus welchen formalen oder inhaltlichen Gründen auch immer; in der Übersetzung wird diese Absicht missachtet. Dennoch: Strätling und Göritz haben eine hochkomplexe, brillante Elegie endlich einer deutschen Leserschaft zugänglich gemacht.

Titelbild

Mary Jo Bang: Elegie. Gedichte.
Englisch / Deutsch.
Übersetzt von Matthias Göritz und Uda Strätling.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
168 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835332423

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