Gedächtnis neu gedacht

In seiner Studie „Interkulturelles Gedächtnis. Ost-westliche Transfers von Saša Stanišić, Nino Haratischwili, Julya Rabinowich, Richard Wagner, Aglaia Veteranyi und Herta Müller“ beschäftigt sich Dominik Zink mit marginalisierter Erinnerung nach 1989

Von Andrea KreuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Kreuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn seiner Studie führt Dominik Zink den Begriff des interkulturellen Gedächtnisses ein. Angelehnt an die Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis von Jan und Aleida Assmann handelt es sich hierbei um eine Ergänzung der bereits bestehenden Konzepte zum kulturellen bzw. transkulturellen Gedächtnis und umfasst Formen der Erinnerung mit einer interkulturellen Dimension. Innerhalb der Studie wurden Texte berücksichtigt, welche sich mit den ost-westlichen Transfers nach 1989 auseinandersetzen und als weitere Gemeinsamkeit das Problem der Marginalisierung von Erinnerung aufgreifen. Es erfolgt hier allerdings nicht lediglich eine Hinterfragung der vorherrschenden Erinnerungskultur, sondern das Problem des Dazwischen wird thematisiert, welches oftmals ein Dazwischen-Verschwinden nach sich zieht, da die interkulturelle Erinnerung nicht den typischen Selektionsmodi einer spezifischen nationalen Erinnerungskultur entspricht.

Unterteilt in vier Kapitel beschäftigt sich die Studie zunächst mit dem Ursprung und der Genealogie des geeinten Europas nach 1989 anhand der beiden Texte Vor dem Fest von Saša Stanišić und Das achte Leben von Nino Haratischwili.

Bei Stanišić befindet sich ein Dorf auf der Suche nach seinem Ursprung und der eigenen Geschichte. Der Text wird durch ein Hinterfragen der konkreten Erinnerungskultur und deren konstituierenden Elemente geleitet. Durch die Überlagerung verschiedener geschichtlicher Ebenen und zahlreicher intertextueller Referenzen werden die stete Wiederholung von gesellschaftlicher Gewalt sowie die Illusion einer gewaltfreien Gesellschaft illustriert. Nach Zink verdeutlicht Vor dem Fest inwiefern das Konzept der gemeinschaftlichen Erinnerung als gewalttätiges Archiv zu begreifen ist, da die kollektive Erinnerung notwendigerweise Stimmen und Perspektiven exkludiert.  

In Das achte Leben wiederum wird dieser Zwang zur Wiederholung anhand einer Familiengeschichte aufgezeigt. Die Hoffnung und Chancen jeder Generation werden jedoch stets enttäuscht und die Geschichte wiederholt sich. Letztlich findet Haratischwilis Text jedoch keine adäquate formale Struktur und bleibt in dieser Hinsicht vielleicht zu konservativ, um wie in Vor dem Fest die Dekonstruktion einer genalogischen Vorstellung vorzunehmen. Dieser Eindruck des formalen Konservatismus wird sich vor allem im späteren Vergleich mit Herta Müllers Atemschaukel verstärken.

Zuvor beschäftigt sich Zink im zweiten Kapitel mit der ökonomisch motivierten Migration gen Westen. Die Protagonisten der hier untersuchten Romane befinden sich mit ihrer Arbeit in einem Grenzbereich zwischen Legalität und Illegalität und geraten hinsichtlich dieser neuen Grenze in eine Dynamik von Heimlichkeit und Klandestinität. Sowohl Die Erdfresserin von Julya Rabinowich als auch Habseligkeiten von Richard Wagner setzen sich mit dem Themenkomplex der Sexarbeit auseinander, wobei das Geschlecht der Romanfiguren hier einen wesentlichen Unterschied bildet. Während die Protagonistin bei Rabinowich keine Lösung für ihre Probleme findet, kann Wagners Protagonist der prekären Situation schließlich entfliehen. Rabinowichs Protagonistin Diana hingegen ist es unmöglich, ihrem Problem in der Psychotherapie Ausdruck zu verschaffen. Die Arbeit als Prostituierte, welcher sie aufgrund einer fehlenden Arbeitserlaubnis und der ökonomisch prekären Situation nachgeht, betrachtet der Therapeut als bloßes Problem der Work-Life-Balance und nicht als Missstand gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge. Dianas Unvermögen, ihre Probleme in der neuen Sprache selbst und ohne Dolmetscherin zu artikulieren, verdeutlichen die Aussichtslosigkeit ihrer Situation. Durch die Sprachlosigkeit wird die Anklage innerhalb des ost-westlichen Grenzregimes nicht gehört und die Ausbeutung setzt sich fort. Nach Zink kann die Darstellung dieser Strategien des Grenzregimes, sich gegen jedwede Form von Kritik und Anklage zu immunisieren, als Ziel des Textes betrachtet werden und so wird die bereits aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten einer gerechten Erinnerung bei Rabinowich radikalisiert.

Im folgenden Kapitel wird anhand der beiden Texte Warum das Kind in der Polenta kocht von Aglaja Veteranyis und Spaltkopf, wiederum von Julya Rabinowich, und deren unmögliche Erzählsituationen versucht, in der Gesellschaft wirksame Marginalisierungsstrategien aufzuzeigen.

Veteranyis Roman konfrontiert die Rezipienten zunächst mit dem scheinbaren Tagebuch einer Analphabetin. Im Zentrum dieses Tagebuches steht die alte Paradoxie der Selbsterkenntnis und wie bei König Ödipus erfolgt zu diesem Zwecke die Rekonstruktion der eigenen Kindheit.  Im Gegensatz zum antiken König steht die Protagonistin jedoch am anderen Ende der patriarchalen Gesellschaft und arbeitet schließlich als Nackt-Tänzerin in einem Varieté, um ihr Überleben zu sichern. Wie zuvor bei Rabinowich wird sie aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse dazu gezwungen ihren Körper zu verkaufen. Zink vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass beide Texte verdeutlichen, wie in einer globalisierten Welt neue Möglichkeiten der Ausbeutung geschaffen werden, welche durch den Stimmverlust der Ausgebeuteten gekennzeichnet sind. Es handelt sich hierbei um Erfahrungen, die im Zwischenraum der verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen verloren gehen, worauf mit dem Präfix „Inter“ innerhalb des Konzepts des interkulturellen Gedächtnisses hingewiesen werden soll.

Der Titelgebende Spaltkopf im zweiten Roman dieses Kapitels stellt wie Baba Yaga eine zentrale Figur der russischen Märchenwelt dar und fungiert als einer der Erzähler im Roman. Die Passagen des Spaltkopfes werden durch Kursivierung von denen der Protagonistin optisch abgetrennt. Perspektivisch berichten beide in der ersten Person Singular von den Geschehnissen. Der Spaltkopf kann als Symbol für erlittene Traumata der jüdischen Großmutter betrachtet werden, welche der Exekution ihres Vaters beiwohnen musste. So hat sie sich zwar von den Erinnerungen an dieses Erlebnis gelöst, sie bleiben jedoch durch den Spaltkopf, welcher als Chronist der Familiengeschichte auftritt, präsent. Als Metapher für die Migrationserfahrung der Familie von Russland nach Österreich erfolgt die Vermischung verschiedener Literaturtraditionen. Von der klassischen griechischen Tragödie, über die europäische Märchentradition, die deutsche Lyrik, nationale Klassiker wie Bulgakows Meister und Margarita, bis hin zu Mickey Mouse. Das erlebte Trauma der Migration ergibt sich letztlich aus der Verschränkung zwischen dem geträumten Märchen sowie dem realistischen Roman des westlichen Kapitalismus. Wie Zink ausführt, werden hier die Möglichkeiten der intertextuellen Beschreibbarkeit von Migration aufgezeigt und die Gefahr des Verlustes im Dazwischen unter anderem durch den eigentlich unmöglichen Erzähler, den Spaltkopf, verdeutlicht.

Das letzte Kapitel schließlich ist Herta Müllers Atemschaukel und damit der Erinnerung an die Internierungserfahrung des Protagonisten Leo Auberg gewidmet. Angelehnt ist seine Geschichte an jene Oskar Pastiors, welcher durch seinen überraschenden Tod nicht als Ko-Autor des Romans fungieren konnte. Als Roman über Erinnerung widmet sich Atemschaukel der Frage, wie Erinnerung vom Kontext der Erlebnisse in den Kontext des Erinnerungsmoments, im konkreten Fall vom Lagerleben in die Zivilgesellschaft, übersetzt werden kann. Bezogen auf die von Zink formulierte Frage nach den Möglichkeiten einer gerechten Erinnerung verbindet Müllers Roman als einziger zwei zentrale Ebenen. Einerseits setzt er sich im Allgemeinen mit Problemen des Erinnerns auseinander, andererseits gibt er Zeugnis von der dichterischen Arbeit Oskar Pastiors, welche im Lagerkontext der konkreten physischen Zerstörung ausgesetzt war. Damit werden nicht lediglich Kunst und Literatur allgemein dem Lager entgegengesetzt, sondern Pastiors literarische Arbeiten fungieren als Teil der Anklage im Kampf um die Rückgewinnung der Deutungshoheit über die Geschehnisse und setzen dem Lager darüber hinaus etwas Individuelles entgegen.

In den Schlussbetrachtungen führt Zink zuletzt aus, dass in den behandelten Romanen besonders die Metapher des Archivs herausgefordert werde. Da die Archivstruktur immer vom eigenen Selbstverständnis abhängig ist, finden verschiedene Formen der Erinnerung weder im östlichen noch im westlichen kulturellen Gedächtnis ihren Platz. Die Vorsilbe „Inter“ ist auch als Verweis auf den Raum zwischen diesen Gedächtniskulturen zu sehen und die Erinnerungen im Zwischenraum, die weder jenseits noch diesseits der Grenze Gehör finden. Innerhalb der analysierten Texte werde zudem deutlich, dass Interkulturalität, also die ökonomische und menschliche Bewegung zwischen verschiedenen Kulturen, keine Utopie, sondern eine moderne Gesellschaftsordnung darstellt. Diese ermöglicht neue Arten von Ausbeutung, Leid und Ungerechtigkeit, deren Berichte in den traditionellen Erinnerungskonzeptionen nicht miterfasst werden. Die Einführung eines neuen Terminus für diese spezifische Form der Erinnerung erscheint daher schlüssig und es ist anzunehmen, dass das vorgestellte theoretische Konzept in Zukunft durch weitere Anwendungsbeispiele elaboriert und bereichert werden wird.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Kein Bild

Dominik Zink: Interkulturelles Gedächtnis. Ost-westliche Transfers bei Saša Stanišic, Nino Haratischwili, Julya Rabinowich, Richard Wagner, Aglaja Veteranyi und Herta Müller.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
337 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783826061509

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch