Verschollene

Maike Wetzel beschreibt in „Elly“ so sensibel wie leise ein ganz besonderes Rollenspiel

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Allein zum Judo-Training unterwegs verschwindet Elly. Die Spur verliert sich, ihre Eltern Judith und Hamit, ihre ältere Schwester Ines, sie alle verlieren Elly und zugleich sich selbst. Zuflucht nehmen sie in Tagträumen, Ängsten, Depressionen und rastlos leerer Betriebsamkeit. Besonders der stille Vater Hamid verhält sich professionell. Pläne schützen ihn vor der Wirklichkeit. Wenn die Tochter verschwindet, dann werden Detektive gebraucht. Hamit spricht wenig, besonders mit Ehefrau Judith. Ihre Wahrnehmungen changieren deutlich, nur wahrhaben wollen sie das nicht, genauso wenig wie Ellys Verschwinden.

Maike Wetzel erzählt in Perspektiven. So leise wie präzise geben Hamit, Judith und Ines, Ellys Schwester, Einblicke in ihre Lebenswirklichkeit. Vater und Mutter verbergen die entzweite Zweisamkeit, voreinander, manchmal auch vor sich selbst. Judith stellt nüchtern fest: „Elly ist fort. Wir haben noch Ines. Ich hoffe, sie bleibt.“ Über Elly spricht sie anders: „Meine Kleine, mein Wildfang, mein Hort. Sie ist die, nach der ich alles vergaß. Alle ersten Momente sind plötzlich nur noch letzte Augenblicke, der Anfang vom Ende, Vorboten des Untergangs. Elly ist weg, verschwunden. Niemand weiß, was mit ihr geschah. Es gibt keine Lösegeldforderung, kein Schuh wurde gefunden, kein Haar. Sie radelt zum Training und kam niemals dort an.“ Ratlose Polizisten denken an ein Verbrechen oder an ein bloßes Verschwinden des Mädchens. Vielleicht sei Elly auch einfach so gegangen.

Diese Familiengeschichte entsteht aus Andeutungen, die dank Wetzels kunstvoll-kurzen Sätzen tiefgründiger und vielsagender sind als weitschweifige Betrachtungen und farbige Stilisierungen. Auf Metaphern wird, ein seltenes Glück, weithin verzichtet. Innere Erregungszustände und nervöse Anspannung treten zutage, behutsam darlegt, respektvoll beobachtet und doch so empathisch und intensiv beschrieben, dass wohl niemand diesen schmalen Roman aus der Hand legen möchte. Wir folgen lesend diesen Spuren. Judith erinnert sich, wie sie Hamid kennenlernte, auch unbedingt kennenlernen wollte, gekünstelt, auch enthusiastisch von ihm berichtete und ihn schließlich heiratete. Er „lächelte höflich“, also geschmeidig, auf einer Party, und übersah sie. Doch Judith suchte hartnäckig und fand ihn: „Bei jedem anderen war ich mir selbst für ein ermutigendes Lächeln zu schade gewesen.“ Judith sagt knapp und zugleich alles: „Wir hatten einen zweiten ersten Moment.“ Zwei Töchter werden geboren, erst Ines, dann Elly. Eine konventionelle Partnerschaft entwickelt sich, eine solide Ehe, von Wetzel dezent beschrieben, somit ein tristes Fassadenglück. Hamid arbeitet ständig. Judith wird schwer depressiv, als Elly verschwindet. Ines sagt über ihre Familie: „Jeder taumelt für sich allein.“ – und erzählt: „Das Schweigen gehört zu meiner Familie. Es ist schwer zu beschreiben, es zu fassen zu kriegen, denn das Schweigen besteht nicht aus Stille. Meine Eltern und ich reden über dies und das. Dazwischen fällt eine Wahrheit. Sie fällt tief. Kein Satz fängt sie auf.“

Die geliebte Elly, die Lebensmitte, kann unmöglich tot sein. Vier Jahre später, ganz unerwartet, taucht eine Verschollene auf, ein Mädchen, eigentlich schon eine junge Frau, die nun die neue Elly spielt. Kann sie wirklich die wiedergekehrte Elly sein? Sie muss es sein, nur die Großeltern wenden sich ab, erkennen die Täuschung, wollen sich nicht betrügen lassen, im Gegensatz zu Judith, Hamid und Ines.

Maike Wetzel erzählt eine fantastische, zugleich verstörende Geschichte, konzentriert und doch schwebend, behutsam, beobachtend, zärtlich und ist mit großer Sympathie den von ihr erdachten Figuren zugetan. Sie beschreibt, wie Menschen einander noch anschauen, auch wenn sie längst den Blick füreinander verloren haben, auch weil sie eingesponnen sind in ihre Wahrnehmungen, durch Tabletten oder Arbeit betäubt. Sie alle haben sich eine neue luftige Wirklichkeit erdacht, die sie nun bewohnen und beherzt, aber ängstlich verteidigen. Die Macht der Verdrängung ist groß. Selbst die Polizisten bilden Theorien. Für alles muss es eine Erklärung, auf jede Frage eine Antwort geben. Nichts ist so stabil wie der Glaube an Ursache und Wirkung, nichts so mächtig und plausibel, zeigt die Autorin, wie die blühende Fantasie, nichts so authentisch wie eine vorgestellte Wirklichkeit. In ihr bleibt sogar Raum für Ellys fantastische Wiederkehr. Das Leben erscheint als Rollenspiel, in dem – diskret, namentlich nicht genannt – auch Franz Kafka verborgen gegenwärtig ist, etwa wenn Ines von einer „Verwandlung“ träumt: „Manchmal stelle ich mir vor, dass ich morgens aufwache und ein Käfer bin.“ Vervollkommnet hat dieses Rollenspiel die neue Elly, ein Mädchen mit vielen Namen, das selbst auch verschollen ist, auf der Suche nach einem Obdach und einer schützenden Identität. Mein Name sei Elly, denkt dieses Mädchen, und erklärt sich:

Ich erfinde mich, ich spiele mich, täglich neu. Ich erzähle, um zu leben. Was stört, töte ich ab. Ich lausche auf die Herzen und erzähle den Menschen dann, was sie hören wollen. Ich lulle sie ein. Dazu benutze ich, was ich erlebe und fühle. Ich nehme, was ich habe, und biege es um. Ich verschiebe einfach den Blickwinkel darauf, ich leuchte die Szene anders aus. Strahlender. Dunkler. Verhangen. Ganz nach Wunsch… Ich suche nur eine Rolle, in der ich es aushalten kann. Ich renne schon so lange. Ich ziehe von Land zu Land, von Kinderheim zu Kinderheim. Ich suche ein Zuhause.

Die verschollene Elly aber bleibt verschwunden, sie wird, sie kann nicht wiederkehren.

Maike Wetzel zeigt das weite Land der Fantasie, das Rollenspiel des Lebens, bunt kolorierte Wahrnehmungen und abgründige Wirklichkeiten. Eine Reihe von ausgezeichneten Erzählungen, mit Literaturpreisen zu Recht bedacht, hat die Autorin bereits vorgelegt. Ihr erster Roman, so vielschichtig wie anregend, verdient eine aufmerksame Lektüre und resonanzvolle Wahrnehmung. Jeder Leserin, jedem Leser sei darum empfohlen, sich auf Ellys Spur zu begeben. Wir werden hoffentlich noch viele Erzählungen und Romane von der Autorin lesen dürfen.

Titelbild

Maike Wetzel: Elly. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
148 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783895612862

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