Arbeit der Nähe

Zum neuen Roman von Sabine Peters „Alles Verwandte“

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die entfalten ihre ganze Kraft erst nach der Lektüre, mit etwas Zeit – der neue Roman von Sabine Peters, Alles Verwandte, zählt zu diesen Büchern. Man legt das Buch beiseite und hat plötzlich das Gefühl, auf einer langen Reise gewesen oder noch immer irgendwo unterwegs zu sein. Mag der Titel auch suggerieren, dass wir dem, was uns bindet, nicht entkommen, dass was uns Bewegung scheint vielleicht nichts ist als ein Fortgehen im Kreis, das vom Vertrauten ausgeht und sich eben dort vollendet. So betrachtet, ist das Fremde nur scheinbar unvertraut und neu; mit tausend unsichtbaren Fäden sind wir an das Vertraute gebunden, das uns sehen lässt, was wir wissen. Die Reise aber, so heißt es am Schluss des Romans, geht weit über jeden von uns hinaus. So ist da zuerst und zuletzt eine Bewegung des Aufbrechens, eine Reise in die Geschichte und an den Ort, an dem man selbst steht. Zunächst ist da Marie – eine der beiden Hauptfiguren des Romans und aus früheren Texten der Autorin vertraut –, die aufbricht zu einer Reise in ein ihr von früheren Reisen vertrautes und doch fremdes Land.

Marie ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg. Lino ist Künstlerin und lebt in Feital, einem kleinen Dorf im Osten Portugals. Vor einigen Jahren zählte die Gemeinde 78 Einwohner. In der Nacht ihres 71. Geburtstags wacht Lino auf, geht in ihrem einsamen Haus umher, hört das Schreien der Katzen im Hof, zählt ihre Schritte durch das von Skulpturen bevölkerte Atelier, sinnt dem Vergangenen nach, träumt von einer Zeit, als das Leben wie eine Zeichenaufgabe schien. Während sich die um eine Generation jüngere Marie in aller Frühe auf den Weg zum Flughafen Fuhlsbüttel macht, um mit ihrer Freundin Lino ihren Geburtstag zu feiern, bewegt diese sich in „Augenflügelschlägen zwischen Hamburg und Feital“. Während des Fluges widmet sich Marie einem sonderbaren Fund, dessen Herkunft rätselhaft bleibt: Sie liest in dem Lebensbericht von Linos Vater Felipe, der 1909 in jenem portugiesischen Dorf zur Welt kam, dem sie sich nun in Fluggeschwindigkeit nähert. Zwar lesen wir, „die Vergangenheit, das ist kein Ort“, da niemand, wie Lino sagt, an zwei Orten zugleich leben könne, aber durch Marie werden Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre in Hamburg wach, als auch Lino noch dort gelebt hat. Linos Haus beherbergt Träume und Erinnerungen, Gespräche, Legenden und Geschichten, auch wenn die so wortkarge wie scharfzüngige Lino die Geister der Vergangenheit manchmal gern vertreiben würde. Die Väter und Mütter sind da, die Geschwister, auch Marten und Rupert. Marten und Lino waren einmal verheiratet, Marten lebt noch immer in Hamburg. Rupert ist Maries verstorbener Lebensgefährte. Er war es, der Felipes Bericht vor vielen Jahren von einem Besuch in Feital mitgebracht hat und ihn ebenso als sein Vermächtnis hinterlässt wie Felipe selbst. Felipes Aufzeichnungen legen Zeugnis ab von einem Leben in Armut und Gottesfurcht, von harter Arbeit ebenso wie vom Glück desjenigen, dessen Saat aufgeht; pars pro toto stehen sie für die Erfahrungen einer unterdrückten Klasse im Portugal des frühen 20. Jahrhunderts, jener Umbruchphase zwischen Monarchie und Republik, die von politischer Instabilität geprägt war und in den 1930er Jahren in den katholisch-autoritären ‚Neuen Staat‘ mündete; Geschichte von unten – ganz in Ruperts Sinne. Inzwischen sind Kapitalismus und Neoliberalismus bis in den abgelegensten Winkel vorgedrungen. Für Lino bedeutet das, dass die Preise für die Maronen, die sie in stundenlanger Arbeit sammelt und kiloweise auf dem Markt in Trancoso verkauft, beständig sinken.

Arbeit, so stellt sich bald heraus, ist eines der zentralen Themen des Romans: die Arbeit der Künstlerin, des Landarbeiters, der Hausfrau, der Schriftstellerin. Aber auch die Arbeit einer Nähe, die in den Tagen, die Marie und Lino gemeinsam verbringen, immer wieder neu hergestellt werden muss. Manchmal – gerade im Beisein von Theo, auch einem Freund aus alten Tagen, der mit einem geschwollenen Fußgelenk bei ihnen strandet – scheint sie unverbrüchlich, in anderen Momenten bedroht, getragen von einer gemeinsamen Geschichte, die in den 80er Jahren in Hamburg beginnt, als Marie noch studiert und bereits erste Texte verfasst. So beginnt sie, über Linos Bilder und Skulpturen nachzudenken. Schreibend geht sie den Empfindungen nach, die die Arbeiten in ihr auslösen. Die Arbeit der Künstlerin und die der Schriftstellerin gehen ineinander über wie Sehen zum Sichtbarmachen. Während Marie zu begreifen versucht, warum sie sich von Linos Skulpturen „so wie angezündet fühlt“ und nach einer Antwort auf dieses Gefühl sucht, erscheint ihr das Atelier der Freundin mit einem Mal durchlässig für all das, was sich außerhalb der Mauern des Hauses ereignet. Kunst, so ließe sich aus Maries Überlegungen ableiten, gründet im Naturverhältnis des Menschen und ist die notwendige Auseinandersetzung mit einer immer schon vom Menschen durchwirkten Natur:

Im Atelier poltert ein Bagger über das steinige Land. Greifer und Schaufeln reißen die Erde auf. Die Axt wird an Wurzeln gelegt. […]

Gerade noch das Laub im Licht, die Wurzeln in der Erde, schon vorbei. Kreislauf des Wassers unterbrochen, endgültig. […]

Hölzer lagern, Hölzer trocknen.

Im Atelier nehmen sie andere Formen an. […]

Ein Wurzelwerk, jahrzehntelang von niemandem gesehen, stummes Leben unter der Erde. […] Dann aus der Dunkelheit gehoben. Lino hat die natürlich gewachsenen Formen teilweise roh belassen, teilweise fein geschliffen, einige hat sie in blaue Farbe getaucht. Ein verzweigtes Netzwerk, kopfüber gestellt, so dass die Wurzeln wie krumme Finger und Stacheln und Strahlen zum Himmel zeigen.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse, da sind sich Lino und Marie einig, sind der „Schwarzgrund“, der noch die intimsten zwischenmenschlichen Beziehungen durchdringt und daher in Worte gefasst werden muss. Die Gespräche, die sie führen, sind verflochtene Gebilde aus subjektivem Erleben und analytischer Reflexion der politisch-ökonomischen Verhältnisse, über denen man nicht steht, sondern denen man selbst preisgegeben ist. So erweist sich ihrer beider gesellschafts- und ideologiekritische Haltung als wichtiger gemeinsamer Nenner ihrer Freundschaft. In der nachdrücklichen Verschränkung von Literatur und Politik liegt eine, wenn auch auf den ersten Blick nicht gleich offenkundige Verbindung zum Werk des 2008 verstorbenen Autors Christian Geissler. In einem jüngst veröffentlichten Beitrag zu Geissler schreibt die Autorin sinngemäß, Literatur könne ihre Aufgabe der Arbeit an der Wirklichkeit nur wahrnehmen, indem sie die Sprache, mit der diese Wirklichkeit beständig reproduziert wird, zertrümmert, um auf diese Weise wieder einen Raum für das gesellschaftlich Verdrängte und das politisch Mögliche zu schaffen. (Peters: Radikalität bei Christian Geissler. In: Detlef Grumbach (Hg.): Der Radikale. Christian Geisslers Literatur als Grenzüberschreitung. Berlin 2017, S. 21–32) Wenn Sabine Peters auch nicht eine mit Geisslers Texten vergleichbare inhaltliche wie ästhetische Radikalität anstrebt, so bezeugen doch die Referenzen auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen (wie Armut und Flucht) oder das ‚Sprachspiel‘ – das Verdrehen von Wortbedeutungen, das Spiel mit dem Klang von Worten, das assoziative Spiel –, das Lino und Marie, jede ein Schalk ihrer eigenen Sprache, miteinander spielen und das Ausdruck der Suche nach einem freien Raum in der Sprache ist, und nicht zuletzt die präzise Beobachtung und Selbstbeobachtung Maries einen unhintergehbaren Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Nicht von ungefähr also kommt Marie ein Satz in den Sinn, der aus dem Roman von Rupert stammt, aber eine Spur zu Wildwechsel mit Gleisanschluss, einem der letzten Bücher Christian Geisslers legt: „ein schrei, der zurückkommt, ist eine arbeit geworden“. Der Schrei impliziert Widerstand, den Ausdruck und die Arbeit der politischen Überzeugung, das zum Laut gewordene Leiden an den Verhältnissen nicht in ihrer bloßen Erscheinung, sondern als begriffene, veränderbare.

Am Schluss des Romans brechen wir erneut zu einer Reise auf, aber die Reise geht nicht zurück. Durch Linos träumende Augen sehen wir die Versammlung der Lebenden und der Toten, kleine Figuren am Ufer des atlantischen Ozeans, einige – darunter vielleicht auch Rupert und Marie – bauen ein Boot.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sabine Peters: Alles Verwandte. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
205 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835331303

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