Zwischen Tupac und Prinz von Bel Air

„The Hate U Give“ von Angie Thomas

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

THUG LIFE – „the hate you give little infants fucks everybody“ – so lautet eines der berühmtesten Zitate des Rappers Tupac Amaru Shakur, der 1996 unter nach wie vor ungeklärten Umständen ermordet wurde. Die rebellische, sozialkritische Haltung, die in seinen Rap-Songs zum Tragen kommt, spricht die 16-jährige Starr Carter zwar an und aktiviert ihr Renitenzpotenzial, beeinflusst ihr Leben aber nur wenig. Obwohl sie mit ihrer Familie in Garden Heights, dem Viertel der schwarzen Bevölkerung, wohnt, besucht sie eine Privatschule mit vorwiegend weißen SchülerInnen in Williamstown. Ihr Leben ändert sich schlagartig, als sie mit ihrem langjährigen Freund Khalil in eine Polizeikontrolle gerät und dieser ohne jeglichen Grund erschossen wird. Zu der Trauer um den Freund, zu den Bildern vom Mord, die sie immer wieder heimsuchen, tritt eine große Wut über die Berichterstattung in den Medien. Khalil wird als Drogendealer abqualifiziert, der zudem im Auto eine Waffe mit sich geführt habe. Auf Khalils Beerdigung lernt Starr die Rechtsanwältin April Ofrah kennen, die für die Organisation Just Us for Justice arbeitet und Starr bei ihrer Aussage im Polizeipräsidium und schließlich vor dem Geschworenengericht unterstützt.

Auch ihre Familie bietet Starr großen Rückhalt – ihre Mutter Lisa, die als Krankenschwester einen großen Teil der Familieneinnahmen sichert, ihr Vater Maverick, ihr älterer Stiefbruder Seven und der jüngere Bruder Sekani. „Big Mav“, ihr Vater, dealte vor Starrs Geburt mit Drogen, war einer der Alphas im Gang-Leben in Garden Heights und verbrachte einige Jahre im Gefängnis. Nun ist er ein angesehener Lebensmittelhändler mit eigenem kleinen Supermarkt. Die King Lords, die Gang, aus der Starrs Vater ausstieg, rivalisiert mit den Garden Disciples um die Vormachtstellung in Garden Heights. Von ihnen geht die erste Welle der Unruhen nach Khalils Tod aus.

Starr ist mit zwei Mädchen aus ihrer Schule befreundet. Während sie Maya, die aufgrund ihrer asiatischen Abstammung selbst mit Vorurteilen zu kämpfen hat, eng verbunden bleibt, zerbröselt die Beziehung zu Hailey. Chris, in den Starr verliebt ist, steht nach einigen Irrungen und Wirrungen treu an ihrer Seite, vor allem als das Geschworenengericht nach langer Wartezeit befindet, dass die Klage gegen den Polizisten, der Khalil erschossen hat, abgewiesen wird. Die bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die sich gegen diese Entscheidung richten, arten aus zur Abrechnung der King Lords mit Starrs Vater, dessen Geschäft sie verwüsten. Starr selbst hat zuvor ganz spontan ihren großen Auftritt als Rednerin vor den Demonstranten, in der sie ihre Version der Ereignisse um Khalil, die Version der Zeugin von Khalils Tod, kundtut und damit eine große Medienwirksamkeit beweist.

Die 30-jährige Angie Thomas hat mit The Hate U Give einen realistischen Roman vorgelegt, dessen Plot sie mit einer Katastrophe beginnen lässt. In einem sehr plastischen Diorama analysiert sie danach die Hintergründe, bezieht sich dabei ebenfalls auf historische Pfeiler der Black-Power-Bewegung, um nach einem turbulenten Showdown einen hoffnungsfrohen Schlussakkord zu setzen. Starr, die Ich-Erzählerin, bewegt sich überzeugend durch die Höhen und Tiefen der Handlung. Zum einen ist sie eine ganz normale Jugendliche, die auf ihren Schul-Abschluss hinarbeitet, eine Vorliebe für unterschiedliche Sneakers hat, Basketball spielt und seit einiger Zeit verliebt ist, zum anderen ist sie eine äußerst facettenreiche Figur, deren Leben bereits vor dem Mord eine Gratwanderung zwischen den Fronten ihrer schwarzen Community und der weißen vollführt. Sie ist ein bisschen „Prinzessin von Bel Air“, die sich aber keineswegs als einer affirmativen Sitcom entsprungene Prinzessin fühlt. Indem sie beispielsweise das Foto der entstellten Leiche des 14-jährigen Emmett Till postet (1955 von Weißen ermordet), ordnet sie sich in die Tradition ihres Vaters ein. Sie dynamisiert damit die Prinzipien einer Erziehung, die ideologisch zwischen Malcom X, den zehn Prinzipien der Black Panther Bewegung und „Black Jesus“ oszilliert. Mit den Charakterzügen der meist authentisch wirkenden Starr Carter lotet Angie Thomas gekonnt die Weiten und Tiefen aus zwischen Empfindsamkeit/Introversion einerseits und Kampfgeist/Extraversion andererseits.

Darüber hinaus evoziert sie Themen, die im Spannungsfeld der Diversität, hier im Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher Hautfarben, virulent sind: so etwa kulturelle Appropriation – in diesem Fall Weiße, die sich wie schwarze Rapper stylen – und insbesondere Xenophobie, personifiziert mit Starrs weißer Freundin Hailey. Ein Stigma fällt zudem auf all jene, die Khalils Tod instrumentalisieren, auf SchülerInnen, die an einer „echt krassen Demo gegen den Tod eines Drogendealers“ teilnehmen, um dadurch Freistunden zu ergattern. Schwarz und Weiß, die diametral einander entgegengesetzten Viertel Garden Heights und Williamstown, sind letztendlich nur die beiden Eckpfeiler, in denen selbst es gruppendynamisch sehr bunt und konfliktreich zugeht. Jedes Viertel ist ein eigenes tiefgründiges Soziotop. Während es Thomas in dieser Hinsicht für Williamstown bei Anspielungen belässt, führt sie die Komplexität von Garden Heights breiter aus. In diesem Viertel leben die „Thugs“, diejenigen, denen tagtäglich Hass entgegenschlägt, dem sie mit ihrem Hass begegnen, dort blüht die Kleinkriminalität, der Drogenhandel und das damit zusammenhängende „Gangbanging“. Es handelt sich also nicht nur um Schwarz und Weiß oder Gut und Böse – die Realität ist komplizierter und speist sich aus den breiten Paletten der Zwischentöne.

Realismus und Authentizität setzen sich in stilistische Unmittelbarkeit hinein fort. Angie Thomas verzichtet auf episches Präteritum und weckt mit der Zeitform des Präsens die Illusion einer Einheit von erzählendem und erlebendem Ich. Dialoge im Slang, die manchmal an das Rappen erinnern, befinden sich so stark im Abseits grammatikalischer Korrektheit, dass sie kaum adäquat übersetzt werden können. Soweit irgend möglich, hat Henriette Zeltner ihre Aufgabe gut gemeistert. Zu begrüßen ist, dass die Übertragung ins Deutsche mit einem Glossar angereichert wurde, in dem sich unter anderem all jene Begriffe finden, die nicht übersetzt werden konnten und noch nicht als gängige Anglizismen betrachtet werden.

Emmett Till (1955) – Tupac (1996) – Khalil – diese Trias der Epitaphe, in der sich Realität und Fiktion vermischen, weitet sich am Ende des Romans zu einer ganzen Liste von Namen aus, mit der Angie Thomas reale Erinnerungskultur realistisch fortschreibt. Wenn es nur um Khalil gehen würde, so sagt Starr, dann wäre es leicht aufzugeben. Es gehe aber um sehr viel mehr, um viele Opfer nämlich, die nicht vergessen werden dürften. Und daraus folge ganz konsequent, dass man niemals schweigen dürfe und niemals aufhören solle, zu kämpfen. Ein sehr wirkungsvolles Instrument in diesem Kampf ist der vorliegende Roman, mit dem Angie Thomas das brillante Psychogramm einer Protagonistin, die sich schlagartig im Rampenlicht der Öffentlichkeit befindet, skizziert und gleichermaßen in einem ebenso gelungenen Soziogramm die Bestandteile dieser Öffentlichkeit konfiguriert. Trotz einer Fiktion, die nicht zuletzt deshalb betroffen macht, weil sie ganz reale Ereignisse aufruft – man denke nur an die Unruhen in Ferguson im Jahre 2014, nachdem die Polizei einen schwarzen Jugendlichen erschossen hatte – , steckt der Text voll positiver Energie, was schon allein die Namen von Big Mavs Kindern indizieren: Starr, so sagt der Vater, sei sein Stern der Hoffnung in schlechten Zeiten gewesen, Seven sei eine heilige Zahl und Sekani bedeute Fröhlichkeit.

The Hate U Give gilt eigentlich als Jugendroman; laut Bestsellerautor John Green „a stunning, brilliant, gut-wrenching novel that will be remembered as a classic of our time“. Dem ist voll zuzustimmen. Doch wie – mit anderer thematischer Akzentuierung – die Romane von Green ist auch der Erstling von Angie Thomas für alle Lesealter und ganz vorzüglich auch als Schullektüre geeignet. Bei seinem Erscheinen im Jahr 2016 wurde er in den USA zu Recht begeistert rezipiert. Inzwischen hat er es auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises 2018 geschafft und für dieses Jahr ist ebenso ein „major motion picture“ angekündigt. Man darf gespannt sein.

Titelbild

Angie Thomas: The Hate U Give. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanschen von Henriette Zeltner.
cbt, München 2017.
511 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783570164822

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