Stummer Schrei und schreiende Stille

Zwei verwandte Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts – Francis Bacon und Alberto Giacometti – begegnen sich

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als markante Repräsentanten der internationalen künstlerischen Moderne, die doch in vielem auch als „antimodern“ anmuten, entwickelte jeder von ihnen einen eigenwilligen, einen einzigartigen Stil. Beide haben an der Figur, am menschlichen Körper festgehalten. Der Brite Francis Bacon beschäftigte sich mit der europäischen Malerei der alten Meister und der Moderne, von Diego Velasquez und Rembrandt bis Vincent van Gogh und Pablo Picasso. Der Schweizer Alberto Giacometti, der den größten Teil seines Lebens in Paris verbrachte, wandte sich neben moderner immer wieder außereuropäischer sowie antiker, besonders altägyptischer Kunst zu. In dieser Traditionsbezogenheit waren beide eher antimodern, was auch für ihr lebenslanges Festhalten an der menschlichen Figur und ihre Arbeit mit Modellen oder nach der Fotografie gilt.

Hauptwerke beider Künstler bilden heute zentrale Bestandteile der bedeutenden Sammlung Beyeler in Riehen/Basel, darunter Giacomettis komplette Figurengruppe für die New Yorker Chase Manhattan Plaza – sie kündet vom täglichen Mühen und Gehen und von einer überzeitlichen Lebens- und Naturidee – und Bacons erstes schwarzes Triptychon In Memory of George Dyer (1971) – vom Absturz über die Darstellung des an der Schwelle des Todes Stehenden bis zum eigentlichen Erinnerungsbild gewinnt hier die Spanne eines Todes in eigenständigen Segmenten Gestalt. Auch das von Beyeler erworbene Gemälde Lying Figure (1969) – ein Akt als Kampfstätte –, das den Abschluss der Doppelausstellung Bacon – Giacometti bildet, die noch bis  2. September in der Fondation Beyeler in Riehen/Basel stattfindet, hat Bacon für eines seiner besten gehalten. Für eine Begegnung der Werke beider Künstler ist die Fondation Beyeler also besonders prädestiniert, sie hat schon 2004 zusammen mit dem Kunsthistorischen Museum Wien eine monografische Ausstellung Francis Bacon und die Bildtradition und 2009 eine Giacometti-Retrospektive durchgeführt. Eine reale Begegnung der beiden Künstler fand im Rahmen von Giacomettis Aufenthalten in London zwischen 1962 und 1965 statt.

Im Zuge der Ausstellung entstand ein wissenschaftlicher Katalog, der die Beziehungen beider Künstler in Leben, Atelier und Werk thematisiert. Kuratiert wird die umfassende Ausstellung von so hervorragenden Spezialisten wie Catherine Grenier, Direktorin der Fondation Giacometti, Paris, Ulf Küster, Kurator der Fondation Beyeler, und Michael Peppiatt, London. Sie sind zudem die Herausgeber des Kataloges, der auch als eigenständiger Studienband angesehen werden kann.

Gewalt und Zwang hat Grenier ihren einleitenden Beitrag überschrieben. Beide – Giacometti und der acht Jahre jüngere Bacon – haben auf geradezu obsessive Weise an der menschlichen Figur festgehalten. Jeder versucht auf seine Weise, dem Körper in seiner maximalen Intensität Ausdruck zu verleihen: Tiefes Schweigen und Unmöglichkeit der Verständigung bei Giacometti, Schrei und Fiktionen des Fleisches bei Bacon. Zweifel und Unzufriedenheit waren die Triebkräfte ihrer Kunst. Seine exzessive Unzufriedenheit veranlasste Giacometti, ständig zu zerstören und dann erneut zu versuchen, die Wirklichkeit seines Modells zu erfassen. Seine Modelle erscheinen alterslos, ohne alles Anekdotische und ohne Festlegung auf eine Zeit. Auch Bacon überließ sich der Unentschiedenheit und den Spannungsschwankungen. Stets war er von einer unkontrollierten Bewegung getrieben und der Willkür des Zufalls unterworfen. Diese Zufälle lösten bei ihm einen „Schock“ aus und erlaubten ihm, sich der Wirklichkeit anzunähern. Wie Giacometti waren ihm, so Catherine Grenier, die Wirkungskraft der Angst und des Zweifels, die auf das Scheitern folgten, wesentliche Triebkräfte seines Werkes.

In ihren Ateliers waren die Künstler von der Welt abgeschieden und wurden von einer umfassenden inneren Bildersammlung festgehalten, insofern stellt die Gegenwart des Modells einen Bruch dar, ein unvermitteltes Auftauchen im Allerintimsten. Die Arena oder der Käfig, in denen die von beiden Künstlern platzierten Figuren eingeschlossen sind, erinnern an das Atelier, den Ort einer heftigen Konfrontation. Ein fieberhafter Impuls drängte Giacometti, seine Plastiken Stück für Stück zu entmaterialisieren, sie immer weiter zu „enthäuten“, so dass spindeldürre Figuren von extremer Fragilität blieben. Die Finalität des Todes, die im Lebenden wahrnehmbar ist, war ihm ständig bewusst. So zeigt sich auch in den Porträts seiner Modelle oft die Maske des Todes.  

Anstatt von Gewalt sprach Bacon lieber von „Unmittelbarkeit“, vom direkten Erfassen der Realität im Augenblick selbst, um die Quelle der Deformationen zu bezeichnen, die von den Betrachtern als gewalttätig bezeichnet werden. Die Gewalt, die sich in seinen Werken entfaltet, ist nicht diejenige, die ein Opfer erleidet, sondern die vitale Kraft, die es ihm erlaubt, die Angst und den krankhaften Drang zu überwinden, die von der Bedrohung ausgeht. Das Fleisch ist höchster Gegenstand des Erbarmens bei Bacon, es hat alle Leiden bewahrt und alle Farben des lebendigen Leibes angenommen.

Dem Schweigen und der Reglosigkeit der hieratischen Figuren Giacomettis – so führt Grenier weiter aus – entspricht der berühmte Schrei der Baconʼschen Päpste (1953), ausgestoßen in die Leere einer nicht überwindbaren Unmöglichkeit der Kommunikation. Das von Säbelhieben verwundete, angstverzerrte Gesicht einer laut schreienden Krankenschwester aus Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin kombinierte Bacon mit Velasquez’ Porträt von Papst Innozenz X., diesem herrlichen Abbild lauernder Macht. Stummer Schrei bei Bacon – schreiende Stille bei Giacometti. Der Prozess der Reduktion kann also bis an die äußerste Grenze gehen – unabhängig davon, ob man sie durch „Künstlichkeit“ (Bacon) oder durch „Stil“ (Giacometti) erreicht.

Ulf Küster führt in die Ausstellung ein und sieht gerade die eklatanten Unterschiede zwischen beiden Künstlern als besonders erhellend an, um das Werk des anderen zu verstehen. So wird die Radikalität, mit der Giacometti Farbigkeit aus seinen Arbeiten verbannt hat, durch die exzessive Farbigkeit der Bilder Bacons besonders deutlich. Außerdem wird sehr gut sichtbar, wie Kunstwerke Räume dominieren, einerseits durch die Monumentalität der Bildkompositionen Bacons – vor allem bei seinen Triptychen –, andererseits durch die Aura, die Giacometti auch den winzigsten seiner Figuren mitzugeben imstande war. In einzelnen Kapiteln beschäftigt sich der Autor dann mit Bezugspunkten, Einschnitten und Vergleichen zwischen dem Leben und Werk beider Künstler. So widmet er dem Besuch Bacons der Giacometti-Ausstellung in der Tate Gallery London am 13. Juli 1965 seine Aufmerksamkeit, von dem man so genau weiß, weil er fotografisch durch Graham Green dokumentiert wurde. Die Fotografien sind Dokumente einer beginnenden Freundschaft, die durch den Tod Giacomettis im Januar 1966 ein Ende fand. Küster stellt die Malerin Isabel Rawthorne vor, die eine Schlüsselfunktion für Giacometti, aber auch eine wesentliche Bedeutung für Bacon hatte. Das erste plastische Porträt, das Giacometti von ihr 1936 schuf, war eine Paraphrase der berühmten Nofretete-Büste. 1937 hatte er ein Erlebnis mit Rawthorne, das wie eine „Initialzündung“ für seine damalige Idee von Skulptur wirkte und zu immer kleineren Figuren führte. Um sich dann wieder vom Zwang der Kleinheit zu lösen, war sie es dann wieder – er war im Krieg von ihr getrennt –, die er in seiner ersten, fast lebensgroßen Plastik, der 1945 entstandenene ‚Femme au chariot‘, gestaltete. Hier begegnet uns erstmals der Typus der stehenden weiblichen Figur, die für Giacomettis gesamtes Schaffen verbindlich bleiben sollte. Mit an den Körper gelegten Armen und geschlossenen Beinen steht sie dem Betrachter frontal gegenüber, den Blick durch ihn hindurch oder über ihn hinaus gewendet. Aber auch Bacon hat Rawthorne häufig gemalt, am eindrucksvollsten in dem monumentalen Porträt von 1967, das sie in Lebensgröße auf einer Straße in Soho zeigt.

Vielleicht kann man noch auf einen Aspekt verweisen, den das Büdner Kunstmuseum Chur 2016 in seiner Ausstellung Solo Walks am Beispiel von Giacomettis Figur L’homme qui marche (1960) herausgearbeitet hat: Der schreitende Mensch steht isoliert, mit ausladendem Schritt im leeren Raum. Die stehenden oder gehenden Gestalten Giacomettis scheinen mit hagerer Figur, knotiger und zerfressener Haut, in metallischer Einsamkeit dahinsiechend, unendliche Räume um sich zu erzeugen. Dieser Schreitende aber ist gleichzeitig in sich gekehrt, während er vorwärts strebt, um vielleicht nie und nirgendwo anzukommen.

Geht man näher an diese Figur heran, scheint sie sich zu entfernen, Tritt man zurück, so glaubt man die Details umso schärfer wahrzunehmen. Die Skulptur steht nicht einfach nur im Raum, sondern sie entfaltet sich aus sich selbst heraus. Giacometti hat seinen Skulpturen die Bewegung, das Prinzip von Abstoßung und Anziehung eingegeben. Die Räumlichkeit, die von seinen Skulpturen ausgeht, ist mit dem Phänomen der Leere verbunden – sowohl mit der gähnenden, bedrohlichen als auch der aktiven, erfüllenden. Wie sich das Gehen hier in seiner elementarsten Form manifestiert, so konnte man es beim Rundgang durch diese Ausstellung in zahlreichen Aspekten und unterschiedlichen Reflexen der Solo Walks von 40 internationalen Künstlern finden, die auf verschiedenen Wegen durch die Welt und durch das Leben führten. Mit jedem Schritt verändert sich das Verhältnis des Menschen zum Raum, gehend bringt er seine Umwelt in Erfahrung und eröffnet er sich Reiche der Imagination. Wir gehen alle und wir gehen auf verschiedene Weise und auf verschiedenen Wegen.

Im Kapitel ‚La Cage‘ geht Hüter den Objekt-Raum-Beziehungen Giacomettis und Bacons nach: Giacometti hat Objekte in regelmäßige Drahtkonstrukte gesetzt – so seine berühmte Boule suspendue (1930). Hier hängt eine Kugel mit einer scheidenähnlichen Öffnung nur Millimeter über einem bananenähnlichen Keil, fast könnte sie ihn berühren: die ewig verweigerte Lust. Das Werk hat nicht nur eine erotische Dimension, es geht hier ebenso um die Sichtbarmachung von Energie und Gefühl im Raum. Auch Bacon strukturierte viele seiner Gemälde durch räumlich wirkende Liniengerüste. So entfaltet etwa das an sich zweidimensionale Bild Study of a Nude (1952/3) eine durchaus dreidimensionale oder „skulpturale“ Wirkung. Ein weiterer Vergleich tut sich im Thema „Schrei und Stille“ auf, das Grenier in ihrem Beitrag schon unter einem anderen Blickpunkt behandelt hat. Die schreienden Menschen gehören zu Bacons eindrucksvollsten und schockierendsten Werken. Dem steht die extreme Ruhe und Konzentration der Bildnisse Giacomettis gegenüber – die Stille, die wie hypnotisierend wirkt und der – so in den späten Porträts – die Qual des Scheiterns zugrunde liegt. Hüter zufolge offenbaren beide Künstler einen grundsätzlich ähnlichen Zweifel an der menschlichen Existenz und Individualität nach dem Zweiten Weltkrieg, der bis heute Gültigkeit hat.

Während Bacon meist nach Fotografien arbeitete, brauchte Giacometti die Präsenz von Modellen. Bacons Prozess des Verwischens und Deformierens vor allem von Köpfen ähnelt dem Vorgehen Giacomettis. Beide Künstler manipulieren das Aussehen ihrer Gegenüber und lassen deren Individualität im Unklaren. Doch immer steht der individuelle künstlerische Ausdruck im Vordergrund. Wie ist – fragt Hüter – das Verhältnis von Zeit und Raum, haben wir es mit der Bewegung als einer Abfolge von Stillständen zu tun? Bei Giacometti wird die Wirklichkeit der Bewegung dargestellt, Zeit und Raum sind eins. Das betrifft nicht nur die Figuren, die einen Ausschnitt eines Bewegungsablaufs darstellen, wie der Homme qui marche, sondern auch die stehenden Frauenfiguren, die ein Bewegungspotenzial darstellen, das möglicherweise durch ihre Verbindung mit den überdurchschnittlich großen Sockeln aufgehalten wird. Bacon, so argumentiert Hüter, war weniger formalen Zwängen ausgesetzt als Giacometti. Aber auch er hat dem Faktor Zeit in dem Pinselschwung Rechnung getragen, der die Dynamik in seinen Gemälden sinnfällig macht. Schließlich stellt Hüter fest, dass viele Werke von Giacometti und Bacon von verstörender Dualität sind: Einerseits künstlerische Brillanz, Leidenschaft, Intensität und vollendete Beherrschung der Ausdrucksmittel, andererseits eine Art Wille zur Destruktion.

Inwiefern lassen sich die Werke Giacomettis und Bacons in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit vergleichen, fragt Hugo Daniel in seinem Beitrag und sucht die Übereinstimmungen zwischen beiden Künstlern und ihre verpassten Begegnungen nachzuzeichnen. Während Bacon ausgiebig fotografische Reproduktionen für seine Bildkonstruktionen verwendete, verließ sich Giacometti auf die unmittelbare Beobachtung des Modells. Der Flachheit des fotografischen Bildes setzte er die Tiefe des eigenen Werkes gegenüber. Sein faszinierter Blick angesichts des fotografischen Bildes ist ein anderer als der kombinatorische Blick, den Bacon auf die Ikonografie des Schreckens anzuwenden verstand.

„Parallele Sichtweisen einer schrecklichen Wahrheit“ hat Michael Peppiatt seine Darstellung betitelt, in der er über die persönlichen Begegnungen und Gespräche beider Künstler, ihre Verhaltensweisen, Einstellungen und Überzeugungen, Darstellungsweisen, Arbeitsgewohnheiten sowie ihr jeweiliges „Realismus“-Verständnis berichtet. Weder Giacometti wollte als „existenzialistischer“ noch Bacon als „expresssionistischer“ Künstler kategorisiert werden, der Surrealismus aber übte eine starke Wirkung auf sie aus – obwohl die Surrealisten sie ausschlossen und auch sie selbst sich ausgeschlossen haben. Beide waren – so das Fazit von Peppiatt – gleichermaßen vom Geist ihrer Zeit geprägt worden:

das Gefühl der Entfremdung und Isolation, das der Mensch der Nachkriegszeit geerbt hatte, das Bedürfnis, das Menschenbild zu verzerren, damit es eine neue, schreckliche Wahrheit vermitteln konnte, das unerbittliche Bewusstsein, dass alle von uns armen Sterblichen dazu verdammt sind, in einer Leere zu existieren. Dies sind die stärksten Bande zwischen ihnen, und das ist letztlich sicherlich auch das, was von jedem Vergleich ihrer Werke am nachhaltigsten ausstrahlt.

Das könnte auch als Fazit dieses so aufschlussreichen, Kunstinteressierte wie Forschende gleichermaßen ansprechenden Studienbandes gelten, der – ergänzt durch die detailreich nachgezeichnete Biografie Giacomettis und Bacons (von Sylvie Felder) – modellhaft ein neues Kapitel vergleichender Kunstbetrachtung aufgeschlagen hat.

Titelbild

Ulf Küster / Catherine Grenier / Michael Peppiatt (Hg.): Bacon Giacometti.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2018.
206 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783775744164

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