Ein Animationsfilm aus dem Mittelalter

Die französischen Historiker Pierre Bouet und François Neveux entschlüsseln den Teppich von Bayeux

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Teppich von Bayeux – bei dem es sich genau genommen nicht um einen Teppich, sondern um eine Stickerei handelt – ist wohl eines der bekanntesten Kunstwerke aus dem 11. Jahrhundert, von dem fast jeder schon einmal einen Ausschnitt zu Gesicht bekommen hat. Er erzählt die Geschichte der Eroberung Englands durch den Herzog der Normandie Wilhelm II., die einen Höhepunkt in der Schlacht bei Hastings gegen König Harold 1066 fand. Häufig werden die einzelnen Szenen jedoch aus ihrem Kontext genommen und als singuläre Beispiele für bestimmte Personen, die Bekleidung oder Ausrüstung, das Alltagsleben oder den Krieg im Mittelalter herangezogen. Auch in der bisherigen Forschung zum Teppich von Bayeux wurden meist unzusammenhängende Szenen herausgegriffen und analysiert, nur selten erfolgte eine Betrachtung des gesamten Kunstwerks. Diese Lücke schließt das neue Buch der französischen Historiker Pierre Bouet und François Neveux. Die Autoren sind ausgewiesene Kenner der Stickerei und haben sich bereits lange und ausführlich mit ihren Geheimnissen und Rätseln beschäftigt. Das Ziel ihres Werkes ist es, die sehr umfangreiche, zum Teil verwirrende und sich widersprechende Forschungsliteratur in einem Band zusammenzufassen und mit den neusten Erkenntnissen zu ergänzen. Darüber hinaus ist in diesem Band der Teppich von Bayeux zum ersten Mal vollständig und in Farbe abgedruckt.

Beim schnellen Durchblättern des 76 Seiten umfassenden Panoramas gleich zu Beginn des Bandes ergibt sich für den Leser tatsächlich das Gefühl einen Animationsfilm aus dem Mittelalter zu betrachten. Besonders die schmalen Überlappungen am linken und rechten Bildrand sorgen dafür, dass die Bilder nahtlos ineinanderfließen können. Doch es lohnt sich, auch die kurzen Bildbeschreibungen der einzelnen Szenen zu lesen, die sich im unteren Drittel der Seite befinden. Dort werden neben der Übersetzung der lateinischen Inschriften die abgebildeten Personen, Bauwerke und Ereignisse vorgestellt. Auch einige typische Sitten und Bräuche greifen die Autoren auf: In Szene 15 wird etwa die Tochter Wilhelms des Eroberers von einem Geistlichen geohrfeigt. Dies war laut Bouet und Neveux im Mittelalter ein üblicher Akt, um die betreffende Person an einen wichtigen Sachverhalt zu erinnern.

Ohnehin sind viele der Szenen nur mit Hilfe der Betrachtungsanleitung der französischen Autoren zu entschlüsseln, weshalb es sogar sinnvoll sein kann, das Buch von hinten nach vorne zu lesen. Gerade nach dem Lesen des schriftlichen Teils mit einer ausführlichen Analyse und Beschreibung sowie geschichtlichen Einordnung des Teppichs von Bayeux fallen bei der Betrachtung der Stickerei immer neue Details ins Auge. Besonders interessant ist der systematische Vergleich der Abbildungen mit den lateinischen, altfranzösischen und altenglischen Quellen der Zeit wie etwa der Chronik Guillaumes de Poitiers oder den Werken von Wace und Benoît Sainte-Maure. Dabei werden immer wieder Bildausschnitte der Stickerei in den Text integriert, sodass man den Erläuterungen leicht folgen und sich auf dem 68,58 Meter langen Wandbehang gut orientieren kann. Karten und Stammtafeln helfen darüber hinaus, sich in den historischen Fakten rund um die dargestellten Ereignisse zurechtzufinden. Dabei zeigen die französischen Autoren auf, dass der Teppich von Bayeux weitgehend unabhängig von den zeitgenössischen Quellen entstand und durchaus eigenständige Szenen aufweist, die in keinem der Textdokumente zu finden sind.

Sehr spannend ist auch das Kapitel über die Herstellung der Stickerei, in dem die verwendeten Materialien, das handwerkliche Vorgehen sowie die verschiedenen Restaurierungsstufen vorgestellt werden. Im letzten Kapitel gehen die Autoren ausführlich auf die Rezeptionsgeschichte der Stickerei ein. Dort wird deutlich, dass die Faszination für das mittelalterliche Kunstwerk seit seiner Wiederentdeckung durch den französischen, bibliophilen Verwaltungsbeamten Nicolas-Joseph Foucault im 17. Jahrhundert bis heute sowohl in der Forschung als auch in der Öffentlichkeit weiterlebt.

Eine besonders eindrückliche Sequenz, deren Darstellung sich im Band über zehn Seiten erstreckt, befindet sich etwa in der Mitte des Teppichs von Bayeux. Sie zeigt in fünf Szenen das Bauen und Beladen der normannischen Schiffe sowie das Übersetzen nach England. Durch die Zeichentechnik der Überlagerung und der Darstellung von weiteren Schiffen im Hintergrund wird eine besondere Tiefe und Dynamik im zweidimensionalen Bild erzeugt. Noch deutlicher wird diese Technik in der dynamischen Kampfdarstellung der Schlacht bei Hastings, die fast ein Drittel des Wandbehangs einnimmt: Pfeile fliegen umher, Pferde galoppieren durch das Bild und stürzen, Kämpfer werden verletzt und fallen zu Boden, Tote werden geplündert. Selbst in der unteren Randborte, die sonst mit verschiedenen Tiermotiven oder Fabelerzählungen bestickt ist, liegen die in der Schlacht gefallenen Soldaten. Das wilde Durcheinander offenbart in eindrucksvoller und realistischer Weise die Gräuel und Brutalität des Krieges.

Der einem Animationsfilm ähnliche Charakter der Stickerei sticht besonders in einer Szene gleich zu Beginn der Schlacht bei Hastings (Szene 48 B) heraus. In dieser Szene sind fünfzehn Soldaten der normannischen Kavallerie dargestellt, die sich Schritt für Schritt in Bewegung setzen und schließlich mit erhobenen Lanzen gegen den Feind vorpreschen. Auf diese Weise werden in einer eigentlich statischen Darstellung mehrere Handlungsphasen gezeigt, die zeitlich versetzt stattfinden, wodurch dem Bild eine besondere Lebendigkeit verliehen wird. Bouet und Neveux heben an dieser Stelle zu Recht hervor, dass es sich bei dem Zeichner der Stickereivorlage um einen sehr begabten Künstler gehandelt haben muss, der die Techniken der Erzeugung von Bildtiefe und Dynamik bewusst und gekonnt einsetzte. Zwar sind aus dem 11. und 12. Jahrhundert weder in England noch in Frankreich ähnliche Stickereien überliefert, die man dem Teppich von Bayeux gegenüberstellen könnte, im Vergleich zu zeitgenössischen Buchmalereien sind die Stickereien nach Angaben der beiden französischen Autoren jedoch höchst komplex und vielfältig gestaltet.

Einige der Aussagen werden im Text allerdings nicht hinreichend belegt oder erklärt. So behaupten die Autoren etwa, dass der Zeichner der Stickereivorlage Augenzeuge der Schlacht bei Hastings gewesen sei. Dabei geben sie jedoch nicht an, wie sie zu dieser Erkenntnis kommen und weshalb gerade der Zeichner dieser Sequenz ein Augenzeuge gewesen sein soll, der oder die Zeichner der vorangegangenen Szenen hingegen nicht. Auch weichen Bouet und Neveux an einigen Stellen von der sachlichen und wissenschaftlichen Schilderung ab und lassen sich etwas zu sehr von ihrer Begeisterung für das mittelalterliche Kunstwerk tragen.

Selbstverständlich können auch in diesem Band nicht alle Geheimnisse und Rätsel des Teppichs von Bayeux vollends gelüftet werden und so bleiben viele Aspekte selbst nach jahrhundertelanger Betrachtung und Analyse weiterhin ungewiss. Insbesondere die Randborten, die neben Fabeln des römischen Dichters Phaedrus ein großes Bestiarium mit zahlreichen Wild- und Fabeltieren sowie einige erotische Szenen mit nackten Figuren zeigen, werfen nach wie vor viele Fragen auf. Wie sind diese Randborten in den Gesamtzusammenhang der Stickerei zu integrieren, oder sind sie vollkommen losgelöst von der Hauptgeschichte und nur als bloße Zier zu betrachten? Diese und einige andere Fragen können auch die Autoren des Bandes nicht abschließend beantworten.

In jedem Fall gibt es in einem vielschichtigen Werk wie dem Teppich von Bayeux Vieles zu entdecken, sodass sich auch das mehrfache Durchblättern des Bildteils lohnt. Dass die Faszination für die Darstellung von Geschichte(n) auf einem derartigen Wandbehang selbst in der heutigen Zeit der digitalen Animationsfilme nach wie vor vorhanden ist, zeigen einige durch den Teppich von Bayeux inspirierte Kunstprojekte. Eines davon ist die in Portsmouth im D-Day Museum ausgestellte Overlord Embroidery, welche die Geschichte der Landung der Alliierten in der Normandie – der Operation Overlord – am 6. Juni 1944 dokumentiert. Eine dem Teppich von Bayeux deutlich ähnlichere Stickerei ist The Njálurefill Tapestry im Saga Centre in Südisland. Bei diesem sich noch in der Bearbeitung befindenden Projekt wird eine etwa 90 Meter lange Stoffbahn mit Szenen aus der Njals-Saga bestickt. Die von der isländischen Künstlerin Kristín Ragna Gunnarsdóttir entworfene Stickerei folgt bei ihrer Gestaltung in auffallender Weise dem Teppich von Bayeux mit dem Hauptgeschehen in der Mitte und den beiden ebenfalls bestickten Randborten. Selbst bei der Sticktechnik hält sich das isländische Projekt genau an die mittelalterliche Vorlage und verwendet zum Füllen der Bildflächen den nach dem Teppich von Bayeux benannten Bayeux-Stich. Das Interesse an diesem Meisterwerk aus dem 11. Jahrhundert flaut demnach auch heute nicht ab und so wird der Band von Bouet und Neveux vermutlich nicht das letzte zu diesem Thema veröffentliche Buch sein. In jedem Fall ist es aber ein gutes Überblickswerk, das viele Aspekte von der Herstellung über die historischen Hintergründe bis zu kleinsten Details in der Stickerei aufgreift und in einem reichlich bebilderten Band der Öffentlichkeit zugänglich macht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Pierre Bouet / François Neveux: Der Teppich von Bayeux. Ein mittelalterliches Meisterwerk.
Übersetzt aus dem Französischen von Heike Rosbach und Hanne Henninger.
Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2018.
236 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783806236903

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