Das geschriebene Alter lesen

Alexander Schwieren untersucht historische Voraussetzungen gegenwärtiger Begriffe und Problematisierungen des Alters

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn seiner Untersuchung, die sich als Titel den heuristischen Begriff der „Gerontographien“ aufschreibt, stellt Alexander Schwieren eine Frage, nämlich ob eine Vergangenheit ohne Alter denkbar sei, so wie in Michel Houellebecqs 2005 erschienenem Roman Die Möglichkeit einer Insel eine Zukunft ohne Alter vorgestellt wird? Diese Frage mag auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheinen, doch kulturwissenschaftlich geübt etwa durch wiederholte Foucault-Lektüren fällt es Schwieren nicht schwer, das Alter als etwas anzusehen, was es womöglich einmal gar nicht gegeben hat. Schwieren möchte mithin eine Geschichte erzählen, die „zu jenem Alter führt, das wir als natürlichen – wenn auch problematischen – Teil des Lebens begreifen“, gleichsam zur Urszene des (gegenwärtigen) Alters-Diskurses. Rechtfertigen muss sich ein solches Unternehmen nicht. „Das Alter steht wie kaum zuvor im Fokus von Demographie, Soziologie, von Biologie und Medizin. Oftmals erscheint es dabei als eines der zentralen Probleme des 21. Jahrhunderts.“

Aber ist das Alter tatsächlich nicht ahistorisch? Schwieren schreibt: „Vom Alter zu reden ist mindestens antik. Das Alter erscheint aus diesem Grund ahistorisch. Sein häufig attributiver Gebrauch deutet auf etwas ‚Natürliches‘ hin, das unterschiedlich erfahren werden kann, an sich aber unverändert bleibt.“ Dieses Erscheinen des Alters führe in den gegenwärtigen Problematisierungen des Alters dazu, so Schwieren, dass gar nicht „das Alter selbst“ problematisiert werde, „sondern dessen politische, kulturelle oder epistemische Kontexte“. Dieser Wahrnehmung eines ahistorischen Alters widerspricht Schwieren nachdrücklich; er geht davon aus, dass „sich historische Begriffe des Alters rekonstruieren lassen, die spezifisch modern und damit mehr sind als neue Namen oder Wertungen universeller, ahistorischer Tatsachen.“ Mit dieser Annahme ist eine weitere verbunden, nämlich dass „die Problematisierungen des Alters in der Gegenwart nicht allein Folge von zunehmender Langlebigkeit und rückläufigen Geburtenraten“, sondern dass hier auch „kultur- und wissenshistorische Zusammenhänge von Bedeutung“ seien.

Die Grundlage dieser historischen Begriffe des Alters verortet Schwieren in Praktiken, das Alter zu lesen. Er schreibt also eine Geschichte des Lesens (des Alters), wobei Lesen hier als ein Verfahren verstanden wird, „das dem Alter auf unterschiedliche Art und Weise Bedeutung zuweist“. Sein zeitlicher Einsatz wird auf „um 1800“ verortet: „Erst in diesem Zeitraum machen sich Literaturhistoriker und Philologen auf die Suche nach ‚Spuren des Alters‘, nach ‚Stilunterschieden‘.“ Die von Schwieren untersuchten Texte werden wiederum in der von Sigrid Weigel initiierten Nachfolge Walter Benjamins als „Schauplätze des Wissens“ gesehen, „auf denen sich mit der Lektüre ‚neues‘ Wissen“ über das Alter konstituiere. An dieser Stelle erfährt auch der Titel eine nähere Bestimmung: „Aufgrund der Bindung dieses Wissens an die Schrift wird hier der Neologismus Gerontographie verwendet, um das untersuchte Material – und zugleich den spezifischen Blick auf dieses Material – zu kennzeichnen. Gerontographien: Das sind demnach gleichermaßen die Texte, in denen mit dem und durch das Lesen von Literatur Wissen vom Alter hervorgebracht wird. Gerontographien sind – aus der Perspektive dieser Texte – aber auch die von ihnen verhandelten literarischen Texte“. Schwieren wählt für seine Geschichte des Lesens des Alters, wie der Untertitel schon verrät, eine begriffsgeschichtliche Perspektive, mit der der Ausgangsannahme – dass es keine Universalien gibt, sondern nur (sich verändernde) Begriffe – Rechnung getragen und im Unterschied zu einer Motiv- oder Ideengeschichte des Alters auf Brüche in dieser Geschichte aufmerksam gemacht werden kann. Als Begriff wird dann aber nicht das Alter, sondern das Alterswerk gewählt. Diese nach der Hinführung zum Thema trotz des Untertitels zunächst etwas überraschende Wahl wird von Schwieren nachvollziehbar begründet: „Der Begriff des Alterswerks erlaubt es, in der Vielfalt von Bezeichnungsmöglichkeiten des Alters – das Alter eines Menschen, der Menschheit, eines Gegenstands oder einer Vorstellung, Alter als höheres Lebensalter im Gegensatz zum Alter als kontinuierliche Veränderung (Altern), aber auch Alter als Wertung (veraltet) – eine Geschichte zu fokussieren. Diese Geschichte, das zeigt die vorliegende Untersuchung, ist mehr als eine Randnotiz, wenn es darum geht, das Alter in der Gegenwart zu reflektieren. Denn auch wenn die Wortgeschichte des Alters bis in die Antike zurückreicht: Die wesentlichen Urszenen (Freud) in der Genealogie gegenwärtiger Altersbegriffe, insbesondere derjenigen der Sozio- und Psychogerontologie, sind erst seit dem späten 18. Jahrhundert zu entdecken – und zwar häufig in engem Zusammenhang mit Begriffen des Alterswerks bzw. der diesen Begriffen zugrunde liegenden Praktik, das Alter zu lesen.“

Mit seiner kulturwissenschaftlich reformulierten Begriffsgeschichte des Alterswerks und seiner Kontexte, die eine spezifische Altersfigur quer durch die Diskurse zu verfolgen und damit eine Voraussetzung für eine umfassendere Alters-Diskursanalyse zu schaffen versucht, möchte Schwieren nicht nur einen begriffshistorischen Beitrag zur Kulturgeschichte des Alters leisten, sondern auch eine Art Gegengeschichte zu zeitgenössischen gerontologischen und demographischen Debatten schreiben. In der begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion ihrer Voraussetzungen werden diese ihrerseits problematisiert, ihre „dramatische Inszenierung“ dabei relativiert: „Die prozentuale Zunahme alter Menschen in einer Bevölkerung als Gefahr zu interpretieren, ist (offenbar) möglich, aber nicht notwendig. Weil diese Interpretation historisch ist, muss es – vor ihrer Durchsetzung – andere Möglichkeiten gegeben haben, sowohl gesellschaftliche Prozesse als auch das Alter zu begreifen.“ Aktuelle Forschungen zum Alter sollen damit allerdings nicht völlig in Frage gestellt werden – so sind ja beispielsweise, wie Schwieren einräumt, die „Beobachtungen abnehmender Geburtenraten und einer steigenden Lebenserwartung (…) keine Fiktion, sondern Befunde“ –; es geht Schwieren nicht um eine Revision der Befunde, sondern um eine Reflexion der Perspektiven und eine Infragestellung scheinbarer Gewissheiten; es geht ihm darum, bestimmte Wirkmächtigkeiten von Diagnosen insbesondere der auf Statistik sich berufenden Demographie in Frage zu stellen, ihre „diskursiven Zwänge“ zu verschieben. Dahinter steht zum einen eine Hoffnung: „Womöglich kann eine (historisch informierte) Reflexion aktueller Denk- und Sprechweisen gegenwärtig ebenso viel zum Umgang mit dem Alter beitragen, wie die demographische Vermessung der Gesellschaft und die gerontologische Arbeit an einem besseren Alter.“ Dahinter steckt zum anderen eine These, die Schwierens Arbeit nicht nur auf dem Feld der Gerontologie eine gewisse Sprengkraft zu geben verspricht, insofern sie dann doch mehr zum Umgang mit dem Alter beitragen will als „ebenso viel“. Die These lautet, dass die Gerontologie sich „weder aus der rationalistischen Erkenntnis unentdeckten Wissens noch aus der Reaktion auf die Demographie“ speise, „sondern ganz wesentlich aus dem philologischen bzw. ästhetischen Diskurs über die Spätwerke“, den Schwierens Gerontographien rekonstruieren.

Auf literaturwissenschaftliche Vorarbeiten kann Schwieren nur bedingt zurückgreifen. Als „überraschend neuer Gegenstand der Literaturwissenschaft“ sei das Alter seit den 1990er Jahren zwar zunehmend, jedoch meist im Anschluss an die Humangerontologie behandelt worden, was Schwieren als „kurzsichtig“ kritisiert: da sie sich, ob „kritisch oder affirmativ, allein in den Diskursen bewegen, an die sie anschließen“, würden sich die meisten bisherigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten über das Alter nicht von der zu problematisierenden gerontologischen Logik absetzen können. So schließt er an vereinzelte Studien an, die sich „methodisch deutlich“ von der Gerontologik abgrenzen, wie zum Beispiel Gert Mattenklotts Text „Poetik der Lebensalter“ von 1996 oder Thomas Küppers Buch „Das inszenierte Alter“ von 2004.

Schwieren entfaltet seine Begriffsgeschichte in drei Kapiteln, die jeweils eine bestimmte historische Konstellation fokussieren, die für die Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs entscheidend war: „Die Geburt der ‚Alterswerke‘ aus dem Geist der Genie-Ästhetik“ (1750-1880, Kapitel III), „Das Alterswerk zwischen Philosophie und Psychologie“ (1880-1945, Kapitel IV) und „Altersbegriffe nach der Geschichte“ (nach 1945, Kapitel V). Im ersten dieser Kapitel werden „die ästhetischen Zusammenhänge um 1800 im Hinblick auf ihre Arbeit an Möglichkeitsbedingungen für den Kurzschluss von Alter und Stil“ auseinandergelegt: „Das Alterswerk ist (…) zunächst nichts anderes als eine Metapher, deren Promotion zu einem ästhetischen Begriff Fixpunkte für eine Analyse dessen liefert, was es unter Begriffen wie Alterswerk oder auch Alters- bzw. Spätstil (in dieser Reihenfolge) als Kapitel in der modernen Problemgeschichte des Alters zu rekonstruieren gilt.“ Kapitel IV fährt in der Rekonstruktion des gewählten Begriffs fort, indem es untersucht, wie „vor dem Horizont einer Pathologisierung der Kunst, veränderter biologischer und bevölkerungspolitischer Altersdiskurse sowie einer ihre radikalisierte Zeitlichkeit im Namen tragenden ästhetischen Avantgarde (‚Futurismus‘) (…) das Alter in den Zusammenhang einer kritischen Moderne“ übertragen wird. Die „größte, im engeren Sinn philologische Konjunktur des Spätwerksbegriffs“, nämlich die Rede vom Alterswerk nach 1945, nimmt dann das fünfte Kapitel in den Blick.

In Folgendem sei in groben Zügen skizziert, wie sich Schwierens begriffsgeschichtliche Diskursanalyse in den drei Hauptkapiteln ausfaltet: Zunächst gilt es, Voraussetzungen der Metapher des in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Georg Gottfried Gervinus als (von ihm pejorativ verstandenen) Neologismus geprägten Alterswerks zu umreißen, also denjenigen „Worten, die die Metapher buchstäblich ermöglicht haben, Aufmerksamkeit zu schenken“ bzw., noch zuvor, den – mit einer unnachahmlichen Formulierung Anselm Haverkamps – „Bodensatz der Gesagtseinsgeschichte“ hervorzukratzen. Diesen Bodensatz findet Schwieren, auf den ersten Blick paradoxerweise, in den Programmtexten der Genie-Ästhetik. In ihrer Konzeption einer (die Moderne insgesamt kennzeichnenden) Zeitlichkeit des neuen, originären, jungen Präsentischen, die unentwegte Überbietung erfordert, steckt von vornherein, wie Schwieren ausführlich herausarbeitet, eine „zukünftige Problematik“, denn alle Werke eines Genies „werden zunehmend Werke eines alten Autors als auch Werke eines Alten im Sinne der Ästhetik, eines antiken Dichters oder eben: eines Klassikers.“ Genau an dieser Problematik arbeitete sich nicht zuletzt Goethe ab, dessen zweiter Teil des Faust in der Rezeption die Rede vom Alterswerk im 19. Jahrhundert begründen sollte. Genie-Ästhetik und Goethes diesbezügliche autorschaftstheoretische Arbeit, die sich bemüht, die eine Verfallsgeschichte erzählende Kritik mit einer stringenten Werkpolitik zu kontern, markieren somit die „Möglichkeitsbedingungen“ einer „erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfolgenden Promotion des ‚Späteren‘ bzw. ‚Alten‘ zu einem ästhetischen Begriff“. Von hier aus untersucht Schwieren dann die Genese eines ästhetischen Alterswerkbegriffs aus einer physiologisch orientierten Goethe-Philologie, die an dessen Alterswerk noch kein ästhetisches, aber physiologisch-psychologisches Interesse habe: Goethes Alter, schreibt Schwieren mit Gervinus, „liefert keine mustergültige Poesie, sondern mustergültige Physiologie“. Neben Gervinus wird in diesem Zusammenhang vor allem Carl Gustav Carus mit seinem Hauptwerk Göthe. Zu dessen näherem Verständniß von 1843 eine zentrale Stellung attestiert. Carus habe zugleich eine Philologie des Altersstils und eine Psychologie des Alters vorbereitet, insofern bei ihm die Korrelation von Leben und Werk eine noch gegenwärtige Diskurse prägende Formulierung findet, die in der, mit den Worten von Carus, „schönen harmonischen Gestaltung“ des „hohen, ja höchsten Alters“ die Vollendung des „Kunstwerks des Lebens“ zu entdecken glaubt. In Opposition zur pejorativen Rede vom Alterswerk, „die die Verunsicherung professioneller Lektüren der Physiologie des Autors anlastete“, gerate so die Physiologie des Autors zum „Anlass (…), die Bedeutung der Dichtung allein noch im Ausdruck eines – außergewöhnlichen – Lebens zu suchen.“

Die dezidiert auf der Grundlage von Goethes Literatur vorgenommene Zusammenführung von Stil und Alter im Spannungsfeld von Philologie, Diätetik und Physiologie verliert dabei zunehmend die Erklärungsbedürftigkeit. Am Ende des 19. Jahrhunderts, hält Schwieren fest, ist „nicht mehr die Frage, ob das Alter den Stil und insofern das Werk prägt, sondern wie.“ Unter anderem dieser Frage geht das vierte Kapitel „Gerontologik der Ästhetik“ nach. Wesentliche Bedeutung wird hier Wilhelm Dilthey und seiner Unterscheidung von Verstehen und Erkennen zugeschrieben, wodurch es möglich wurde, den Altersstilbegriff aus der Ästhetik  in ein Wissen um das Alter zu übertragen, „das sich als empirisch-psychologische und damit ‚naturwissenschaftliche‘ Fortsetzung bzw. als philosophische und dementsprechend ‚geisteswissenschaftliche‘ Ergänzung der Geriatrie in Szene setzt.“ Ausgehend von einer ästhetischen Kritik der Gegenwart (Moderne als Verfall) gewinne hier „eine Lehre vom guten Alter – im psychologischen Kontext der Normalisierungsgesellschaft – langsam an Kontur.“ Für ihre Genese kommt neben Goethes „ganzem“ Leben als mögliche Überwindung der fragmentierten Moderne Theodor Fontane eine bedeutende Rolle zu, insbesondere der Denkfigur des „alten Fontane“, dessen Romane die Möglichkeit einer auf den Begriff des Alterswerks konzentrierten Lektüre öffnen. Das Alter gerät hier, wie Schwieren zeigt, zum „Anderen“ der Moderne, in dem ihre Verwerfungen wenn nicht aufgehoben, so doch zumindest in so weiser wie reifer Weise reflektiert werden. Altersstil heißt dann der Moment, in dem als Gegenfigur zum als Fragmentierung wahrgenommenen und kritisierten modernen gesellschaftlichen Leben der Zusammenhang des Seelenlebens des Menschen vollständig wird und Lebensfragmente einen kohärenten Sinn bekommen. Für die gegenwärtige, gerontologisch geprägte Debatte um das Alter ist dabei insbesondere die Übertragung des Altersstils aus einem ästhetischen Register in Richtung eines, so Schwieren, „zunehmend funktionalistisch organisierten psychologischen Wissens und dessen quantitativer Zurichtung“ folgenreich, und zwar in der 1938 erfolgten Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Altersforschung“, der Vorgängerinstitution der heutigen „Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie“. Das „Material“, über das die Geisteswissenschaften mit den Werkgeschichten verfügen – anders und mit dem Psychologen Helmut von Bracken formuliert: der „Schatz tiefen Wissens um das seelische Altern“ –, wird hier methodisch auf eine Stufe mit physiologischen Prüfungen der Organfunktion gestellt.

Bevor diese Umschreibung Wirkung zeigt, erfährt der Alterswerkdiskurs jedoch noch eine geradezu ungeheure Karriere, die Schwieren zu Beginn des fünften Kapitels „Wiederholungen des Spätwerks nach 1945“ verfolgt. Denn zum einen sind nun Schriftstellerinnen und Schriftsteller damit konfrontiert, im Alter ein Alterswerk geradezu schreiben zu müssen; die Literatur, so Schwieren, wird „das Alter bereits in ihrer Poetologie zu sagen genötigt.“ Insbesondere am Beispiels Thomas Manns zeigt er, mit welcher in jeder Hinsicht problematischen Mächtigkeit der Begriff des Alterswerks inzwischen ausgestattet war, wenn Mann mit seinem Roman Doktor Faustus im Anschluss an Adorno ein Alterswerk konzipiert, das sowohl den erzählerischen Höhepunkt im Roman selbst (nämlich Adrian Leverkühns Kantate D. Fausti Weheklag) bedeutet als auch dem Autor „zur Last für das Schreiben danach, und mehr noch für das Leben“ wird, da Manns Tod mit der „Vollendung des Endwerks“ ausbleibt – womit, gleichsam im Schatten des Alterswerks, alles weitere (Schreiben und Leben) gravierend in Frage gestellt ist. Zum anderen wird nach 1945 – mit den „Diskursbegründern“ Wilhelm Flitner (Goethe im Spätwerk, 1947) und Paul Stöcklein (Wege zum späten Goethe, 1949) – das Alterswerk insbesondere Goethes zum emphatischen Gegenstand einer deutschen Literaturwissenschaft, die, wie Schwieren mit Briegleb formuliert, „um eine möglichst radikale Ausblendung ihrer (…) Unmittelbarkeit zur Epoche des NS-Faschismus“ bemüht ist. Mit der strategisch eingesetzten Alterswerkforschung wird hier sowohl eine politische „Entsagung“ inszenierbar als auch im Jenseits der Geschichte das klassische Erbe zu retten versucht. Beide „Karrieren“ sind dabei Teil einer starken Diskursivierung und Popularisierung des Begriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die zu einer „fundamentally ageist ideology of western culture“ (Kathleen M. Woodward) führt, in deren Zentrum die Gerontologie steht. Diese bringt etwas auf den Weg, das, so Schwieren, zur „Schlüsselmethode aktivierender ‚Altenarbeit‘ bis in die Gegenwart aufsteigt“ und als „Biographiearbeit“ bzw. „Life Review“ (Robert N. Butler) bezeichnet ist. Gegen eine „Disengagement“-Theorie formuliert, die Alter als Distanzierung vom vorhergehenden, „aktiven“ Leben definiert und damit der Gerontologie einen ersten Altersbegriff zur Verfügung gestellt hatte, formt sich ab hier, den frühen 1960er Jahren, zunächst in den USA eine „Theory of Activity“ aus, die unter den Schlagwörtern „anti-aging“ und „erfolgreiches Altern“ Altern als leistungsbetontes, nach außen gerichtetes Leben versteht. Biographiearbeit, schreibt Schwieren, „erlaubt an dieser Stelle, die Aktivität des alten Menschen mit seiner Kontinuität kurzzuschließen. Indem der Mensch seine Retrospektive schreibt, wird er zum Autor seines eigenen Lebens. Dieses Konzept markiert (…) die einflussreichste Übertragungsstelle zwischen Alterswerk- und Altersdiskurs: Das Alterswerk wird zur Norm, sowohl in seiner grundsätzlichen Notwendigkeit (für ein aktives und insofern ‚gutes Alter‘) als auch in seinen Gegenständen und der diesen zukommenden Narratologie.“ Dieses gerontologische Alterswerk-Konzept streicht das Wissen der Philologie um Alterswerke mit einer angeblichen Evidenz gerontologischer Erkenntnisse schlicht durch. Schwieren zitiert Anne M. Wyatt-Brown, die Gerontologen als „the only critics of literature directly concerned with human values rather than with theoretical abstractions and aesthetics“ versteht: „After all, real lives, unlike postmodern novels, have their coherence. They can display Aristotelian characteristics of a beginning, middle, and end. Postmodernists may justly question our ability to find genuine meaning or provide a sense of psychological closure at all times, but they cannot dispute all of Butler’s clinical findings.“

An diesem Punkt seiner Begriffsgeschichte angekommen, an dem die gerontologische Forschung die Literatur „kassiert, indem sie die humanistische Karte spielt“ und „alle Theorie des Feldes“ verweist, und an dem nicht zuletzt der ästhetische Wert des Alterswerks ausradiert ist, insofern es nicht nur als Schicksal jedes Autors, sondern im Zeichen einer Vollendungsästhetik auch jedes Menschen angeschrieben wird, lässt sich Schwierens Untersuchung auch als fundamentale Kritik bestimmter Prämissen der Gerontologie und ihrer unbewusst (bio-)politischen Motivation lesen. Sie zeigt, auf welche Weise Gerontologinnen und Gerontologen normativ vorgehen, etwa wenn sie „life-course-imaginary“ als Aufgabe befehlen und „das Alterswerk als Befreiungserzählung den Subjekten auferleg[en]“. Texte des Life-Review und der dem „Old Age Style“ gewidmeten Creativity-Studies lesen sich dabei nicht selten eher wie Texte des „New Age“ (Stichwort zum Beispiel Alterswerk als „Heilung“ des Lebens). Dass Alterswerke zu anderen Zeiten einzigartig waren und zudem „nicht zwangsläufig die Reihe der Werke eines Autors abschließ[en]“, ist hier längst vergessen. „Old Age Style“ verliert, wie Schwieren zeigt, „im Kontext einer kreativitätspsychologisch gewendeten Gerontologie seinen deskriptiven Charakter“ und fungiert in seiner Charakterisierung als „bold, complex, economical, intense, passionate, restrained, rough, spontaneous, strong and suggestive“ (Martin S. Lindauer) als gesellschaftlichen Altersbildern diametral entgegengesetzter Ausweis erfolgreichen Alterns, das – Fluchtpunkt des „Kreativitäts“-Diskurses – „competitive“ zu sein hat.

Eine Kritik dieser Situation findet Schwieren am Ende seiner Geschichte in der Literatur selbst, und zwar dort, wo Geschlecht als „most obvious critical blind spot in studies of late style“ (Gordon McMullan) in ihr zur Sprache kommt und der „Alterswerk-Fetischismus der Gegenwartskultur“, wie Schwieren leicht gereizt formuliert, unterlaufen wird. In einer das letzte Hauptkapitel abschließenden Lektüre von Friederike Mayröckers Schreibweise macht Schwieren nachvollziehbar, wie die Literatur der Gerontologie auf den Leib zu rücken in der Lage ist, „wenn sie den Körper des Werks selbst zu zerstören oder zumindest an und über seine Grenzen hinaus zu schreiben versucht.“ Mit der sich einer Vollendungsästhetik sperrenden Literatur Mayröckers kommt, so Schwieren, „dem Alterswerk nicht nur das Alter, sondern vor allem auch das Werk abhanden“, selbst wenn Mayröckers Buch ich bin in der Anstalt mit dem Untertitel Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk vom Verlag im Klappentext – dem Alterswerk-Fetischismus ausgeliefert – als „Alterswerk“ beworben wird.

Mit seiner äußerst dichten Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs gelingt Schwieren neben dieser tatsächlich eine Dekonstruktion jener Anthropologie, „mit deren Hilfe die Gerontologie ihren Gegenstand begreift“. Und noch mehr: Die Verbindung von einem kulturwissenschaftlichen Ansatz, der nicht zuletzt aus einer philologisch genauen Lektüre des literarischen Höhenkamms (von Goethe über Fontane, Thomas Mann und Benn zu Frisch und Mayröcker) seine Ergebnisse erzielt, mit einer Diskursgeschichte auf höchstem intellektuellem Niveau ermöglicht es nicht nur, die historisch anderen Möglichkeiten, das Alter zu lesen, sondern auch den „Rahmen einer Normalisierungsgesellschaft“ aufzuzeigen, in der, so Schwieren, „die Segmentierung des Lebenslaufs und die Disziplinierung der entsprechenden Subjektivierungsweisen von zentralem Interesse zu sein scheinen“. ‚Seine‘ Gerontographien fügen dem gerahmten Bild nichts hinzu, sondern machen die Instabilität des Rahmens sichtbar. Es wäre zu wünschen, dass sie mit ihrem Wissen das Alter tatsächlich entdisziplinieren. Dazu müssten sie allerdings auch auf den Feldern außerhalb der Kulturwissenschaften wahrgenommen werden. Nicht nur dort werden sie definitiv mehr als eine Randnotiz sein.

Anmerkung des Verfassers: Die Rezension ist unter demselben Titel zuerst erschienen in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Bd. 50, Heft 4, Juni 2017, S. 376-379. Die erneute Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature.

Titelbild

Alexander Schwieren: Gerontographien. Eine Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015.
439 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783865992444

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