Religiöser Illusionismus und Autoritätsgläubigkeit (nicht nur) im Trump-Zeitalter

Über Sinclair Lewis’ Roman „Elmer Gantry“ (1927) und zwei Filme, denen er als Vorlage diente: „Elmer Gantry“ (1960) und „Canaan Land“ (2018)

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Sinclair Lewis’ Buch Elmer Gantry erschien 1927. Richard Brooks Film Elmer GantryGott ist im Geschäft, der weitgehend der Handlung des Romans folgt, kam 1960 ins Kino. Burt Lancaster spielte den Prediger, einen tragischen Komödianten, dessen Ausstrahlungskraft die Zuschauer in Atem hielt. Das Spektakel wurde mit drei Oscars ausgezeichnet. Inzwischen hat Richard Rossi die literarische Vorlage erneut aufgegriffen. Er ist der Regisseur des Films Canaan Land. The Saga of Sister Sara & Brother Gantry, der im November 2018 erscheinen soll, und spielt darin den Prediger, der diesmal mit Vornamen nicht Elmer, sondern Billy heißt, womit auf einen Evangelisten hingewiesen wird, der keine literarische Fiktion war, sondern tatsächlich gelebt hat. Damit rücken die Siamesischen Zwillinge Illusionismus und Autoritätsgläubigkeit im Trump-Zeitalter nicht nur im wirklichen Leben, sondern auch auf der Leinwand wieder in den Fokus des Betrachters. Aber der Reihe nach …

„Elmer Gantry war (…) zum Senator geboren. Er sagte nie etwas Wichtiges und sagte es immer mit sonorer Stimme. Er konnte ‚Guten Morgen’ so profund klingen lassen, als wäre es von Kant (…). Ein Cello war seine Stimme und von ihr bezaubert hörte man nichts von seinem Slang, seinen Aufschneidereien, seinen Zoten (…).“ Mit dieser Beschreibung eines Charmeurs, Säufers und Raufbolds, der sich, nachdem er in einem Baptistenseminar gescheitert ist, der evangelikalen Erweckungsbewegung anschließt und fortan in der Pose des reuigen Sünders seine Mitmenschen zur Umkehr auffordert, beginnt der Roman. Drei Jahre nach der Veröffentlichung erhielt Sinclair Lewis (1885-1951) als erster US-Amerikaner den Literaturnobelpreis. „O Herr …! Wir werden diese Vereinigten Staaten noch zu einer sittlichen Nation machen!“ Mit diesem Satz endet die Geschichte – nicht jedoch die Geschichte des Romanhelden, die bis in die Gegenwart reicht.

Als Vorbild für den Prediger hatte Sinclair Lewis den Evangelisten Billy Sunday (1862-1935) gewählt, einen vormaligen Baseballspieler, der es verstand, religiöse Inbrunst in klingende Münze zu verwandeln. Was damals möglich war, ist heute nicht unmöglich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der US-Fernsehprediger Jesse Duplantis forderte 2018 seine Anhänger zu Spenden für den Kauf eines Privatjets im Wert von 54 Millionen Dollar auf. Er begründete das so: Würde Jesus das Evangelium heute verbreiten, würde auch er nicht mehr auf einem Esel reiten, sondern mit einem Flugzeug um die Welt jetten. Apropos Geld: Jesse Duplantis bekennt sich zum ‚Evangelium des Wohlstands’. Dieser Glaubensrichtung zufolge belohnt Gott seine wahren Getreuen mit irdischem Reichtum (Spiegel Online – http://www.spiegel.de/panorama/us-prediger-jesse-duplantis-will-spenden-fuer-vierten-privatjet-a-1210420.html).

Von göttlicher Gnade – beziehungsweise der Einfalt seiner Anhänger – lebte auch der Prediger Billy Sunday nicht schlecht, der den Teufel bekämpfte, wo immer er ihn erblickte. Das 1920 in den USA erlassene Verbot des Alkoholverkaufs (das 1933 wieder aufgehoben wurde) pries er, weil es dem Teufel das Wasser (beziehungsweise den Whisky) abzugraben schien. Jetzt könne man die Hölle „auf Ewigkeit zum Vermieten” freigegeben, meinte er. Als sich Billy Sunday dann aber im Spiegel, den ihm Sinclair Lewis vor Augen gehalten hatte, als Elmer Gantry wieder erkannte, nahm er die Hölle erneut in Anspruch. Er werde diesen Schriftsteller, den er zur „Kohorte des Satans“ zählte, so „verdreschen, dass für den Teufel nichts mehr übrig“ bleibe. Religiöse Fanatiker gingen damals noch einen Schritt weiter. Sie forderten ihre Anhänger zum Lynchmord auf.

Anders Bob Dylan, der wie Sinclair Lewis in einem Provinznest Minnesotas aufgewachsen ist und Jahrzehnte nach ihm (2016) den Literaturnobelpreis erhalten hat. In seinen autobiographisch verfassten Chronicles (Volume One) lobte Dylan den Schriftsteller als „Meister des absoluten Realismus“, der die „vagen Träume“ des Sängers gewiss verstanden hätte. In dem 1922 erschienen Roman Babbitt portraitierte Lewis einen Immobilienmakler, der den amerikanischen Traum – sprich: narzisstische Größenphantasien – hemmungslos auslebt. Gewinnstreben, moralische Verkommenheit, schlechter Geschmack und Eitelkeit zeichnen ihn aus. Ja, dieser George F. Babbitt, das ist der Donald J. Trump der 1920er Jahre, der, als er an Gäste denkt, die er zum Dinner einladen will, „Bilder von einem prachtvollen Speisesaal vor Augen (hat), von Kristallglas, Kerzen, poliertem Holz, Spitzen, Silber und Rosen“. Das liest sich so, als hätte es den Trump Tower in New York bereits Anfang der 1920er Jahre gegeben, der wurde aber erst 1983 eröffnet. Sinclair Lewis kannte dieses Gebäude nicht, doch er kannte den Charakter seines Besitzers. Die Kritik an einer Gesellschaft, in der sich ein mediokrer Spießer zum Superman aufblähen und in dieser Gestalt Millionen Bewunderer an sich binden kann, ist typisch für Sinclair Lewis’ Werk. In seinem Roman It Can’t Happen Here (1935) beschreibt er einen Mann, der die Macht über alles liebt. Dank populistischer Schläue gelingt es diesem Berzelius „Buzz“ Windrip, zum US-Präsidenten gewählt zu werden. Einmal an der Macht, verwandelt er das Land Schritt für Schritt in eine Diktatur, wobei er sich auf eine „Liga der Vergessenen Männer“ stützen kann. Das Vorbild dieses Scharlatans hieß Adolf Hitler. Heute könnte man aber auch an Trump, Putin, Orbán, Kaczyński, Erdoğan, Netanjahu oder, wenn’s ein paar Nummern kleiner sein darf, an den Schreihals aus Bayern denken, der das Kruzifix zu Wahlkampfzwecken in Amtsstuben aufhängen ließ. Solche Politiker machen Angst – und dann machen sie mit der Angst der kleinen Leute Politik.

Der Menschenflüsterer

Richard Brooks hat, wie eingangs erwähnt, den Roman Elmer Gantry 1960 verfilmt. Davor und danach hat er zwei Theaterstücke von Tennesee Williams fürs Kino aufbereitet: 1958 Die Katze auf dem heißen Blechdach (mit Elizabeth Taylor und Paul Newman in den Hauptrollen) und 1962 Süßer Vogel Jugend (ebenfalls mit Paul Newman). Für diese Filme, die heute als Klassiker des amerikanischen Kinos gelten, erhielt der Regisseur keine Academy Awards, während er für Elmer Gantry in der Kategorie ‚Bestes adaptiertes Drehbuch’ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Zudem bekam Burt Lancaster für seine Rolle als dauergrinsender Prediger einen Oscar. Dieser Menschenflüsterer erzählt jedem das, was er hören will, und so wird er über kurz oder lang jedermanns Freund. Und wenn einer nicht auf ihn hören will, dann wird er mit den Abgründen seiner Seele konfrontiert, die Gantry so genau zu kennen scheint, als wäre es seine eigene. Auf diese Weise sorgt er für sich – und das Wohlergehen der Erweckungsbewegung, der er mit süßen Tönen, rauer Stimme, charmanten Lügen und – wenn es denn sein muss – auch einmal mit moralischer Erpressung dient. Der geschäftstüchtige Christenmensch zum Beispiel, der zu den Honoratioren der Stadt gehört, in der die Evangelisten ihr Zelt aufgeschlagen haben, verspricht, er werde das Missionsunternehmen nun doch unterstützen, nachdem er mit Hinweis auf die Pokerrunde und den Alkoholausschank im Hinterzimmer seines Etablissements von Gantry unter Druck gesetzt worden ist.

In einer anderen Szene des Films sehen wir Gantry, wie er einen Schimpansen präsentiert, von dem er sagt, das Tier könnte Darwins Onkel, aber gewiss kein Verwandter der hier versammelten Gläubigen sein, die, weil sie die Bibel wörtlich nehmen, glauben, der liebe Gott habe alle Lebewesen getrennt voneinander erschaffen. Für diese Szene gibt es ein Pendant in der Wirklichkeit: Zwei Jahre vor Erscheinen des Romans war im US-Bundesstaat Tennesee ein Lehrer, der es gewagt hatte, Darwins Evolutionstheorie zu unterrichten, zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Die Begründung lautete, der Lehrer habe Kindern weismachen wollen, sie stammten von Affen ab. Das Verbot, die Evolutionstheorie im Biologieunterricht zu behandeln, wurde nach dem so genannten ‚Affenprozess’ nicht mehr angewandt, offiziell aufgehoben wurde es in Tennesee aber erst 1967.

Die Glaubensüberzeugungen, die dem Kreationismus zugrunde liegen, sind dennoch nicht von gestern. So wird die biblische Schöpfungsgeschichte in den USA heute in Gestalt des ‚intelligent design’ unterrichtet. Demnach soll die Entstehung der Lebewesen nicht ohne die Annahme eines intelligenten Urhebers zu erklären sein. Diese Theorie stimmt mit der Überzeugung vieler Amerikaner überein. Knapp die Hälfte hält Darwins Lehre für Unsinn. Mehr als ein Drittel will sie aus dem Schulunterricht verbannt wissen. Jeder Vierte bekennt sich zur evangelikalen Bewegung. Achtzig Prozent dieser bibeltreuen Christen stimmten 2016 für Donald Trump. Dessen Vizepräsident Mike Pence gehört zur ‚christlichen Rechten’, deren Anhänger – wie der US-Präsident selbst – den Klimawandel leugnen, die kapitalistische Wirtschaftsordnung als Ausdruck göttlichen Willens deklarieren und die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels als notwendige Voraussetzung für die Wiederkehr des Messias auffassen.

Liebe ist der Morgen- und der Abendstern

Zurück zum Film Elmer Gantry. Der Handelsvertreter, der jetzt in Gottes Diensten steht und die Botschaft des Heils verkündet, will die Stadt, in der er predigt, von der Sünde befreien. Er lässt zu diesem Zweck Spelunken und Bordelle stürmen. Da begegnet ihm Lulu, die er als junges Mädchen verführt und danach sitzen gelassen hat. Sie arbeitet jetzt in einem Bordell der Stadt, in der Gantry fromme Reden hält. Endlich hat sie Gelegenheit, sich an ihm zu rächen. Sie stellt ihm eine Falle, doch als er zu ihr kommt, muss sie erkennen, dass sie ihn noch immer liebt. Sie will ihren Racheplan schon wieder aufgeben, da macht Gantry ihr klar, dass sie als Frau für ihn nicht mehr interessant ist. Schwester Sarah Falconer, mit der er über Land zieht, um den Menschen, die ihre Sünden bereuen, ewige Liebe zu versprechen, ist jetzt seine Favoritin.

„Und was ist Liebe? Liebe ist der Morgen- und der Abendstern.“ Mit solchen und ähnlichen Phrasen umgarnt Gantry die Menschen, die gläubig zu ihm aufschauen. Lulu aber ist wieder nüchtern. Und so verwirklicht sie ihren Racheplan doch: In lasziver Pose hält sie die Geldscheine, die Gantry ihr gegeben hat, um sie zu unterstützen und damit seine (moralische) Schuld zu begleichen, vor die versteckte Kamera, so dass es aussieht, als habe er sie damit für weniger christliche Liebesdienste bezahlt. Das ist eine Schlüsselszene des Films: In der Rolle der Lulu Bains – für die sie einen Oscar als beste Nebendarstellerin bekommen hat – bringt Shirley Jones zunächst die Gefühle einer sehnsuchtsvoll hoffenden, dann die einer bitter enttäuschten und schließlich die einer Frau zum Ausdruck, die sich triumphierend zu rächen versteht.

Kurz darauf kommt es zur Begegnung zwischen Lulu und Sarah. Dabei verlieren die Klischees der Hure und der Heiligen ihre Konturen. Jetzt sehen wir zwei Frauen aus Fleisch und Blut, von denen die eine, die Hure, den Windbeutel hinter der Maske des Gottesmannes erkannt hat, während die andere, die Heilige, deren himmlische Liebe sich mit irdischem Begehren mischt, nun doch daran glauben will, dass Elmer Gantry nicht nur sich selbst, sondern auch andere Menschen lieben könnte. Schwester Sarah Falconer ist bereit, den Preis zu bezahlen, der für die Vernichtung der kompromittierenden Fotos verlangt wird. Doch Lulu will das Geld nicht mehr. Stattdessen gibt sie die Fotos an eine Zeitungsredaktion. Damit ist, so scheint es, Gantrys Karriere als Gottesmann zu Ende. Denn nach der Veröffentlichung der Fotos wenden sich die Anhänger des Predigers bitter enttäuscht von ihm ab. Aus ihrer Liebe wird Hass, der dem Mann ins Gesicht schlägt, der ihnen zu einem Dasein als bessere Menschen verhelfen wollte und nun daran schuld ist, dass sie das idealisierte Bild verloren haben, mit dem sie sich über ihr durchschnittliches Leben erheben konnten. Jetzt erst erkennt Lulu, was sie angerichtet hat. Sie spürt den Schmerz einer Frau, die sich selbst verletzte, als sie den Mann verletzte, den sie (noch immer) liebt. Lulu spricht mit Jim Lefferts, einem Zeitungsreporter, der die Missionstätigkeit der Evangelisten kritisch begleitet, und gesteht, dass sie den Prediger in eine Falle gelockt hat. Nach der Veröffentlichung des Geständnisses wird Gantry als Ehrenmann rehabilitiert – die Gläubigen reagieren so, wie es zu erwarten war: auf ‚Kreuziget ihn!’ folgt ‚Hosianna!’

Vom Verdacht befreit, er selbst sei dem Laster verfallen, gegen das er mit alttestamentarischer Kraft angewettert hat, kann Gantry seine Rolle als Prediger wieder ausfüllen. Und so bleibt er, was er immer war: ein Schürzenjäger, der gestern als Baptistenseminarist Lulu verführte – und heute als Gottesdiener hinter Schwester Sarah Falconer her ist. Deren Vorbild im wirklichen Leben hieß Aimee Semple McPherson (1890-1944). Diese Evangelistin war in den 1920er Jahren in Sachen Gott noch erfolgreicher unterwegs als Billy Sunday. In Kalifornien gründete sie die Church of the Foursquare Gospel. Als erste setzte sie den Rundfunk systematisch für religiöse Propaganda ein. Sie zelebrierte Glaubensheilungen und verkündete, die USA seien eine auf göttlicher Inspiration beruhende Nation, eine Botschaft, die von großem Nutzen ist, wenn wieder einmal gegen das Böse in der Welt zu Felde gezogen werden muss. So verdammte Ronald Reagan die Sowjetunion als „Reich des Bösen“, während er die Vereinigten Staaten – mit Verweis auf Matthäus 5, Vers 14 („Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein“) – als „Shining City upon a Hill“ pries. „God Bless America!“ Diese Parole ging auch dem Wiedergeborenen Christen George W. Bush glatt von den Lippen, der in Guantánamo die Hölle auf Erden einrichten ließ und die Staaten Irak, Iran und Nordkorea zur „Achse des Bösen“ verschweißte. Merke: Autoritäre Politiker, deren Anhänger an Erlösung glauben, schüren die Angst vor dem Bösen, dem Fremden, dem Chaos und versprechen die Wiederherstellung der Ordnung auf Erden (und den Segen des Himmels noch dazu).

Komposition aus Minderwertigkeitsgefühlen und Größenphantasien

Und warum haben heute selbst in demokratisch verfassten Ländern Populisten wieder soviel Zulauf? Auf diese Frage antwortete der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (26.07.2018): „Angst vor der Zukunft spielt hierbei sicherlich eine wichtige Rolle. Nicht wenige Menschen empfinden die globalisierte Welt des digitalen Zeitalters als Bedrohung für das eigene Leben. Die Arbeitswelt verändert sich, die Geschwindigkeit erhöht sich, der Leistungsdruck wird größer, die Flexibilitätserwartungen steigen, die politische Lage erscheint unübersichtlicher (…). Deshalb ist das Bedürfnis sehr groß, wieder in eine vorstrukturierte, überschaubare Welt eintauchen zu können. (…) Dadurch gewinnen geschlossene Weltbilder an Attraktivität. Sie versprechen Sinnstiftung.“ Der israelische Historiker Yuval Noah Harari sieht das genauso. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (15.02.2018) sagte er: „Die Menschen überlegen: Wann hat die Welt zuletzt Sinn gemacht? Lasst uns zurück in dieses Goldene Zeitalter gehen, denken sie und wählen Politiker, die ihnen Konzepte aus der Vergangenheit anbieten.“ Und er setzte hinzu: „Die vielleicht größte Gefahr der populistischen Welle in den USA und in anderen Teilen der Welt besteht darin, dass sie es noch schwieriger machen könnte, die existenziellen Probleme zu lösen, mit denen die Menschheit im 21. Jahrhundert zu tun hat.“ Das heißt – mit anderen Worten: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit (…)“ (Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte – Vorwort zur dritten Auflage, 1885).

Ein halbes Jahrhundert nach dieser Diagnose der Massenangst vor der Zukunft – die in der religiösen Tradition Höllenangst genannt wird, im Falle des Gehorsams gegenüber Gott und der Obrigkeit mit Hinweis auf das Paradies aber wieder beschwichtigt werden kann – kam der Vorbeter einer politischen Religion an die Macht, der, gestützt auf Rassismus und Nationalismus, die Erlösung von allen Übeln bereits auf Erden versprach (und ein ‚Großdeutsches Reich’ noch dazu).

„Make America great again!“ Dieser Slogan eines Hasardeurs, der Deals liebt und Verträge bricht, stellt eine Komposition aus Minderwertigkeitsgefühlen und Größenphantasien dar. Der Erfolg autoritärer Führerfiguren in bisher demokratisch verfassten Staaten sei darauf zurückzuführen, dass „unser politisches System (…) nicht mehr alle Verheißungen einlösen kann“, hieß es 2016 in der ZEIT. Politische Hausierer, die Erlösungsversprechen aller Art feilbieten, haben daher Hochkonjunktur. Und so wäre der (deutsche) Untertitel des Films von Richard Brooks aus dem Jahr 1960 heute nur um ein Worte zu erweitern: Elmer GantryGott ist wieder im Geschäft.

Orientierungslose, die sich in der globalisierten Welt nicht mehr zurechtfinden, Abstiegsbedrohte, die sich undurchschaubaren ökonomischen Mächten ausgeliefert fühlen, Entfremdete, die andere Menschen als ‚Fremde’ stigmatisieren müssen, um sich ihrer eigenen unsicheren Identität vergewissern zu können, Bindungslose, die den Verlust ‚ihrer’ Heimat fürchten, der nicht von ‚Asyltouristen’ (so der bayrische Ministerpräsident Markus Söder) zu verantworten ist, sondern von heimattreuen Politikern (wie der bayrische Ministerpräsident Markus Söder), die täglich mehr ‚Heimat’ unter Asphalt und Beton begraben (allein in Bayern 13 Hektar pro Tag) – suchen neuen Halt in alten Deutungsmustern und finden ihn in der Gemeinsamen Erklärung 2018. Versierte Propagandisten der Angst vor ‚dem’ Islam wie Henryk M. Broder oder Thilo Sarrazin, die den Untergang des Abendlandes beschwören, der 1683 vor Wien gerade noch verhindert werden konnte, und Unheilspropheten wie Uwe Tellkamp oder Matthias Matussek, die diese ‚Erklärung’, die nichts erklärt, mitunterschrieben haben, wenden sich an andere Spießer, die ebenso wütend hinterm Herd sitzen und beobachten, „wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird“. So steht es auf einer Internet-Seite, auf der man angeherrscht wird: „Mitmachen!“ Daneben sieht man das Bild einer Demonstration mit der Unterzeile: „Auf die Straße zu gehen, kann Wunder wirken: Montagsdemonstration in Leipzig, 23. Oktober 1989“ (https://www.erklaerung2018.de/mitmachen.html). So wird heute die Bürgerrechtsbewegung der DDR von gestern für fremdenfeindliche Aktionen missbraucht. Die Fiktion eines „homogenen Volkes“ eint dabei intellektuelle Hetzer, Pegida-Demonstranten und populistische Politiker, die vorgeben, „genau zu wissen, was dieses Volk will. Sie sehen sich selbst als unmittelbare Repräsentanten des Volkes. Wer sie kritisiert, ist daher ein Feind des Volkes“ (Andreas Voßkule – s. oben).

Gott ist auf ‚unserer’ Seite

Bei einer repräsentativen Umfrage (ZEIT online 2014) äußerte rund die Hälfte aller Deutschen Verständnis für Demonstrationen gegen die Islamisierung des Abendlandes. Doch halt! Hab’ keine Angst! Gott ist auf ‚unserer’ Seite. Das steht ja schließlich auf jeder Dollarnote: „In God We Trust.“ Bryan Fischer, ein Moderator des christlich-konservativen American Family Radio, der die USA mit frommen Sprüchen überzieht, konnte die Prämissen der amerikanischen Innen- und Außenpolitik deshalb unmissverständlich so erklären: „We were founded as a Judeo-Christian nation. This nation was built on the truth claims of the Judeo-Christian tradition, built on the laws of nature and nature’s god. And therefore I think as Americans, the only way we can properly view this thing is through the lense of scripture, use the same platform, the same truth-foundation that the founders used when they established the political experiment we call the United States” (https://www.deutschlandfunkkultur.de/christliche-fundamentalisten-in-den-usa-alles-soll-so.976.de.html?dram:article_id=360023).

Global gesehen wechselt Gott allerdings ständig die Seiten. Das führt zu einer gewissen Unübersichtlichkeit – und dazu, dass sich jeder, der die Menschenrechte mit Füßen tritt, auf himmlisches Recht berufen kann. Das gilt für Recep Tayyip Erdoğan, der als Urenkel des osmanischen Reiches und Hüter des ‚wahren’ Islam die Anhänger eines ‚falschen’ Predigers verfolgen lässt, wie für Wladimir Wladimirowitsch Putin, der die Krim als heiliges Erbe des russischen Reiches reklamiert, wobei er sich auf den Klerus der orthodoxen Kirche stützen kann. „Allahu akbar!“ Im Falle ägyptischer Fanatiker heißt das, sie dürfen im Namen ihres Gottes Kopten enthaupten und Kirchen in die Luft sprengen. Das göttliche Gesetz ist auf unserer Seite! In Myanmar heißt das, Rohingyas, die zum ‚falschen’ Gott (Allah) beten und von Buddhisten ‚Terroristen’ genannt werden (eine Etikettierung, die Täter gern benutzen, um ihre Taten zu legitimieren), haben kein Recht weiter im Land zu leben. Die Regierung des indischen Bundesstaates Assam hat sich die Vertreibung der Rohingyas aus Myanmar zum Vorbild genommen: Sie will sieben Millionen Muslime die Staatsbürgerschaft aberkennen. Im nordindischen Ayodhya war man 1992 schon weiter. Damals zerstörten hinduistische Nationalisten die Babri-Moschee, an deren Stelle sie einen Tempel zu Ehren des Gottes Rama errichten wollten, der hier zur Welt gekommen sein soll. Im Namen des Herrn! In Palästina heißt das, jüdische Fundamentalisten dürfen das Land, auf dem sich zwischenzeitlich Andersgläubige breit gemacht haben, in Besitz nehmen, weil Gott es vor Jahrtausenden einem ihrer Vorväter versprochen hat. Damals sagte der Herr zu Abraham: „Und ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewigem Besitz (…)“ (1. Mose 17, 8). Ja, Gott ist groß und seine Gebote sind zu achten. In Saudi Arabien heißt das, wer gegen das göttliche Sittengesetz verstößt, wird öffentlich ausgepeitscht. Im Gottesstaat Iran wird Ehebruch mit Steinigung bestraft. In Nigeria will Boko Haram einen islamischen Staat errichten. In Mali und Somalia kämpft die westliche Wertegemeinschaft gegen den Islamismus. Und am Hindukusch wird Deutschland verteidigt – bisher noch ohne Berufung auf Gott. Das hindert die Taliban nicht daran, sich im Kampf gegen ‚Kreuzritter’ ins Paradies zu bomben.

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Quelle: USA TODAY – Aufruf: 14.04.2018

Ja, überall ist der Teufel los. Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2016 ließ er sich sogar in den USA blicken. Eine Army of Jesus (tatsächlich waren das russische Trolle) veröffentlichte im Internet ein Bild, auf dem Jesus beim Armdrücken mit Satan zu sehen war. Die Botschaft lautete, sollte Satan Jesus besiegen, werde Hillary Clinton die Wahl gewinnen. Mit einem Klick konnte man Jesus (Donald Trump) beim Kampf mit dem Satan (Hillary Clinton) beistehen. Satan war schwarz, während Jesus ganz in Weiß erstrahlte (https://www.usatoday.com/story/news/politics/onpolitics/2017/11/01/onpolitics-today-army-jesus-how-russia-messed-americans-online/823842001/). Apropos schwarz-weiß: In den USA war die Rassentrennung bis Mitte des 20. Jahrhunderts gesetzlich geregelt (in Bussen, Zügen, Krankenhäusern, Schulen, Hotels, Restaurants usw.). Ursprünglich ‚gottgewollt’ (das heißt, theologisch gerechtfertigt) wurde sie später mit Hinweis auf die ‚Rassenlehre’ ‚wissenschaftlich’ begründet. Merke: Wenn Gott nicht mehr hilft, kann die ‚Wissenschaft’ weiterhelfen. Das war mit dem christlichen Judenhass ja auch so: Im 19. Jahrhundert nahm er die Gestalt des ‚modernen’ Antisemitismus an (eine Form des Rassismus).

Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt

Zurück zum Glauben! Mitte des 20. Jahrhunderts empfing eine Sektenpredigerin aus Salt Lake City von einem fernen Stern die Nachricht, bald werde eine Flut kommen und alle Menschen verschlingen – selbstverständlich mit Ausnahme der Anhänger ihrer Gruppe, die sich in fliegenden Untertassen retten könnten. Als die Flut ausblieb, wandten sich die Sektenmitglieder nicht etwa von ihrer Führerin ab, nein, sie hielten umso stärker an ihr fest. Sie begründeten das damit, dass ihre Gebete Gott umgestimmt hätten. „Es wird aber behauptet, daß jeder von uns sich in irgendeinem Punkte ähnlich wie der Paranoiker benimmt, eine ihm unleidliche Seite der Welt durch eine Wunschbildung korrigiert und diesen Wahn in die Realität einträgt. Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt“ (Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930).

Der Sozialpsychologe Leon Festinger interessierte sich für die Gruppendynamik der Sekte, deren Führerin den Untergang der Menschheit etwas zu früh angekündigt hatte. Er trat der Gruppe zum Schein bei. Diese Feldforschung war Ausgangspunkt der Theorie der kognitiven Dissonanz, mit deren Hilfe zu erklären ist, warum Menschen Fakten leugnen, die ihr emotional fundiertes Selbst- und Weltbild erschüttern könnten, während sie jeden Unsinn (heute würde man sagen: ‚alternative Fakten’ oder ‚fake news’) glauben, der die kognitive Kohärenz ihres auf Wünschen und Gefühlen basierenden Bildes von sich und der Welt sichern hilft.

Neuropsychologisch formuliert heißt das: emotional fundierte Hirnstrukturen können durch wissenschaftliche Erkenntnisse und vernünftige Argumente nicht so leicht erschüttert werden. Darauf basiert die Macht autoritär regierender Führer, die wissen, wie fest die Burg des Glaubens ist, in der sich ihre Anhänger verschanzt haben. Bisweilen gibt der eine oder andere dieses Wissen sogar zynisch preis. So hat im türkischen Wahlkampf 2018 ein Schwiegersohn Erdoğans „erzählt, die Wähler der Regierungspartei würden Erdoğan auch glauben, wenn er ihnen eine vierspurige Autobahn zum Mond verspräche“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-das-system-ist-das-problem-1.4046608). Das ist im Morgenland so – und das ist im Abendland genauso. Donald Trump sagte bei einer Wahlkampfveranstaltung in Iowa 2016: „Ich könnte mich auf die Fifth Avenue stellen und jemanden erschießen und würde keinen Wähler verlieren (…)“ (https://www.n-tv.de/der_tag/Trump-Koennte-jemanden-erschiessen-und-wuerde-keinen-Waehler-verlieren-article16845766.html). Und als er hundert Tage im Amt war, da sagte Trump über Trump auch noch: „Ich wurde auf jene Bibel meiner Mutter eingeschworen, mit der sie uns Kinder erzogen hat. Dieser Glaube lebt noch heute in meinem Herzen“ (https://www.deutschlandfunk.de/evangelikale-und-trump-beten-fuer-mr-president.886.de.html?dram:article_id=384634). Apropos Mutter, Kind und Bibeltreue: Donald Trump ließ Migrantenkinder von ihren Müttern trennen und in „Kinderknästen“ einsperren, deren Betreiber damit Millionen Doller verdienten (http://www.spiegel.de/politik/ausland/usa-konzerne-profitieren-von-inhaftierung-von-migrantenkindern-a-1218195.html).

So wahr mir Gott helfe – diese Formel hat also nicht nur eine religiöse Bedeutung, sie hat auch eine psychologische Dimension. Selbst dann, wenn es Gott nicht geben sollte, der Glaube an Gott kann Berge versetzen. Wer an Gott glaubt, der kann auch Extremtraumatisierungen noch einen Sinn abgewinnen. Man denke an Hiob oder an diesen – Nietzsches Götzen-Dämmerung entnommenen – Aphorismus: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?“ Das heißt, solange man ein Ziel vor Augen hat, bleibt man nicht stehen (gibt man nicht auf). Und wo finden wir das letzte Ziel? Richtig: im Himmel! Bei Freud heißt es dazu: „Es ist (…) nur die Religion, die die Frage nach einem Zweck des Lebens zu beantworten weiß. Man wird kaum irren zu entscheiden, daß die Idee eines Lebenszweckes mit dem religiösen System steht und fällt.“ Religion sei ein „Rauschmittel“, meinte Freud, wobei er sich (implizit) auf diesen Satz von Karl Marx bezog: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur (…). Sie ist das Opium des Volkes“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844). „Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren“ (Freud,Das Unbehagen in der Kultur, 1930). Und auch in seiner letzten religionskritischen Schrift spricht Freud wieder vom „,Rauschgift’ der Religion“ (Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 1939). Ja, Freud war wie Marx ein gelehriger Rezipient der Religionskritik Ludwig Feuerbachs.

„Ein Land, darin Milch und Honig fließt“ (2. Moses 3, 8)

Die Religion als „Rauschmittel“ (Freud), als „Opium des Volkes“ (Marx) … Hätten die Sklaven in den von Gott gesegneten Südstaaten der USA ihren Glauben an ein Jenseits denn überhaupt aufgeben können? Dieser Glaube gab ihnen die Kraft, die sie im Diesseits am Leben hielt. Daraus speiste sich ihr Durchhaltewille, der sie den Weg gehen ließ, der sie in eine bessere Welt führen sollte. Diese Zuversicht brachten sie in ihren Spirituals und Gospels zum Ausdruck. Und so hören wir am Anfang und am Ende des Films Elmer Gantry, in dessen Verlauf aus dem Handlungsreisenden ein Diener Gottes wird, der sich am Ende der Geschichte wieder ins Nirgendwo verabschieden wird, dieses Lied:

I’m on my way
Off to Canaan land
(…)
Had a mighty hard time
But I’m on my way
(…)
Every night and day
Satan lies a-waitin’
Hear
me shout and say
Get behind me, Satan
I’m on my way
Glory, hallelujah

Als Prediger konnte Elmer Gantry das Böse mit Worten bekämpfen – und als Tramp, der er früher war, konnte er sich gegen die Bösen mit Fäusten wehren, als er im Waggon eines Güterzugs im Schlaf von Landstreichern überfallen wird, arme Teufel wie er, die es auf seine Schuhe abgesehen haben. Mit einem Sprung aus dem fahrenden Zug rettet Gantry seine Haut – und gerät so per Zufall in die Stadt, in der er Schwester Sarah Falconer begegnen sollte, die hier ihr Missionszelt aufgeschlagen hat. Zunächst aber sehen wir Gantry, wie er im zerknitterten Anzug barfuss am Bahngleis entlang läuft und – angezogen von einem Lied – eine kleine Kirche betritt, in der er mit seiner alle Zweifel niederschmetternden Bassstimme in den Gesang I’m On My Way to Canaan Land einfällt. Als einziger Weißer unter all den Schwarzen gewinnt er die Sympathie des Pastors und dann auch die der zunächst noch misstrauisch blickenden Gemeinde. Nach dem Gottesdienst nimmt der Pastor Gantry auf und spendiert ihm eine warme Malzeit. Ja, das Land, in dem Milch und Honig fließen, gibt es, man muss nur wissen, was man tun muss, um eingelassen zu werden.

Am Ende des Films – Schwester Sarah Falconer ist inzwischen in ihrem mit Spendengeldern finanzierten Tabernakel in einem Feuersturm umgekommen – sehen wir Elmer Gantry abermals umringt von Gläubigen. Jetzt ist er aber kein Tramp mehr, der mit billigen Waren hausieren geht, sondern ein Prediger, der die Herzen der Menschen mit biblischen Sprüchen speist. Er schaut ernsten Blickes gen Himmel und empfängt den Segen der dort oben zu ewigem Leben erwachten Evangelistin, den er großzügig an die Gemeinde weiterreicht. Dann hören wir das Lied I’m On My Way to Canaan Land ein letztes Mal. Jetzt bedeutet das, Gantry muss die trauernde Gemeinde verlassen, um andernorts ein neues Glück zu suchen. Doch da stellt sich ihm William Morgan, Schwester Sarahs Adjutant auf Erden, in den Weg, den Gantrys Vulgarität anfangs noch abgestoßen hatte. Inzwischen weiß er dessen Beredsamkeit aber zu schätzen. Morgan bittet Gantry, zu bleiben und Schwester Sarahs Nachfolge anzutreten. Doch der denkt gar nicht daran, denn alles, woran er dachte, solange Schwester Sarah noch am Leben war, das war die Frau, die jetzt im Himmel und damit für ihn unerreichbar ist. Gantry lächelt wieder und zitiert noch einmal verschmitzt die Bibel: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Paulus 1. Brief an die Korinther, Kapitel 13, Vers 11.“ Soviel Chuzpe nötigt selbst dem Zeitungsreporter Jim Lefferts Respekt ab, der vergebens versucht hatte, Gantry als Clown des evangelikalen Zirkus zu entlarven. Mit einem breiten Lachen um den Mund, in dem, wenn er es gut (mit sich) meint, die gefletschten Zähne aufblitzen, verschwindet Gantry, wie man das von einem Westernhelden erwarten kann: Heroisch einsam geht er hinaus ins weite Land.

Erziehung zur Realität

Im Vorspann des Films wird auf die Religionsfreiheit und auf die Gefahr hingewiesen, dass das Bedürfnis der Menschen zu glauben auch missbraucht werden könne. Wegen des kontroversen Inhalts sollte man den Film Kindern aber besser nicht zeigen, heißt es weiter. Warum denn nicht? Warum sollte man Kindern, die das, was man ihnen erzählt, noch gar nicht kritisch reflektieren können, religiöse Inhalte als ewig gültige Wahrheiten präsentieren dürfen, ihnen aber vorenthalten müssen, wie mit scheinbar unhinterfragbaren Wahrheiten Schindluder zu treiben ist? Auf die Frage des Pfarrers Johann Friedrich Zöllner „Was ist Aufklärung?“ antwortete Immanuel Kant 1784: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Und dann heißt es noch, „Faulheit und Feigheit“ seien die „Ursache“ dafür, dass „ein so großer Teil der Menschen (…) zeitlebens unmündig“ – sprich: in kindlicher Gläubigkeit an Autoritäten gebunden – bleibe. „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat … usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“ (Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?).

Freud hat diese Kritik des fremdbestimmten Denkens im fiktiven Dialog mit einem Verteidiger der Religion aufgegriffen, in dem er die Metaphern Rausch-„Gift“ und „Intoxikation“ benutzte und der Auffassung widersprach, „daß der Mensch (…) den Trost der religiösen Illusion nicht entbehren kann, daß er ohne sie die Schwere des Lebens, die grausame Wirklichkeit, nicht ertragen würde. Ja, der Mensch nicht, dem Sie das süße – oder bittersüße – Gift von Kindheit an eingeflößt haben. Aber der andere, der nüchtern aufgezogen wurde? Vielleicht braucht der, der nicht an der Neurose leidet, auch keine Intoxikation, um sie zu betäuben. Gewiß wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen (…). Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben (…). Man darf das ‚die Erziehung zur Realität’ heißen, brauche ich Ihnen noch zu verraten, daß es die einzige Absicht meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit dieses Fortschritts aufmerksam zu machen?“ Mit dieser Schrift war Die Zukunft einer Illusion gemeint, die 1927, also im selben Jahr wie Sinclair Lewis’ Roman Elmer Gantry, erschienen ist. Freud verband darin die Kritik der Religion mit dem Plädoyer für selbst bestimmtes Denken, das sich durch ewige Wahrheiten (beziehungsweise durch Autoritäten, die solche Wahrheiten für ihre Zwecke zu nutzen verstehen) nicht einschüchtern lässt.

Damals, 1927, äußerte Freud verhalten optimistisch: Die „Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch.“ Ist das heute, in einer Zeit, in der der Einfluss des Religiösen auf das Politische zunehmend stärker wird und fundamentalistische Gewissheiten wieder an Überzeugungskraft gewinnen, noch eine realistische Prognose? Die Windmühlen, die das Wunschdenken produziert, haben doch bisher jedem Sturm widerstanden. Sei’s drum, es werden künftige Generationen sein, die darüber entscheiden, wer in unserer Zeit Don Quijotes tatsächliche Nachfolger waren.

Fakten und Phantasien

Und damit sind wir bei Richard Rossi und seinem Film Canaan Land angelangt, der die Zuversicht des Gospelsongs Canaanland is just in sight aufgreift, die den Regisseur beseelt, der gestern noch als charismatischer Rock’n’Roll-Prediger unterwegs war und heute als evangelikaler Prediger für den ‚wahren’ gegen den ‚falschen’ Glauben zu Felde zieht. Dabei handelt es sich um einen ‚Indie’-Film (‚Independent-Film’), dessen Erscheinen bereits mehrfach angekündigt worden ist (zuletzt für November 2018) und mit vielfältigem Material beworben wird. Er wurde außerhalb herkömmlicher Strukturen gedreht und – wie es sich für einen von einem Evangelisten produzierten Film gehört – durch Spenden finanziert.

Wie der fiktive Elmer Gantry so distanziert sich auch der reale Prediger Richard Rossi reuig von früheren Verfehlungen: “This film is my coming out as a former fundamentalist who can no longer subscribe to the beliefs and practices I did before” (http://www.patheos.com/blogs/frankschaeffer/2016/07/an-interview-with-minister-turned-moviemaker-the-one-and-only-richard-rossi/). Von seriösen Evangelisten sollten nur Glaubensheilungen bezeugt werden, deren Ergebnis medizinisch bestätigt werden konnte. Im Dokumentar-Film Quest for Truth: An Expose of Exorcism and Faith Healing (1992), für den Rossi als Co-Produzent verantwortlich war, erhält man dazu nähere Auskunft. Auf der Internet-Seite von Amazon, auf der dieser Film zu bestellen ist (https://www.amazon.com/Quest-Truth-Expose-Exorcism-Healing/dp/B0055EHW1Q), heißt es: “Whether you‘re a believer or a skeptic, or somewhere in between, this documentary shot for FOX-TV is a fascinating and riveting behind-the-scenes look at a miracle man who eventually left the pulpit, disgusted that religious leaders wanted to make a gospel enterprise and big business out of his gifts. ‘Rev. Rossi was the only minister I‘ve known, who cared more about the people and the ministry than the money’, journalist Steven Sanders said.” Das Non-profit-Gottvertrauen, das Rossi an dieser Stelle zugeschrieben wird, ist das Fundament, das die simple Handlung seines Canaan-Films trägt, in dem Sister Sara Sunday, gespielt von Rebecca Holden, ein Star der Knight-Rider-Fernsehserie, sich um das Seelenheil von Billy Gantry zu kümmern hat. Mit ‚wahrer’ Liebe zu Gott gelingt es ihr, Billy vom ‚falschen’ Weg abzubringen, auf dem er bisher mit vorgetäuschten Wundern – so behauptete er, Goldstaub und Federn von Engeln erhalten zu haben – gutes Geld verdienen konnte. Die Namen der Protagonisten seines Films hat Rossi teils der tatsächlichen Geschichte (Billy Sunday), teils der von Sinclair Lewis gut erfundenen Geschichte (Sarah Falconer, Elmer Gantry) entnommen – und dann bunt zusammengewürfelt (Sara Sunday, Billy Gantry). Dieser Mix aus facts and fiction (so lautet sinnigerweise der Firmenname eines in Köln ansässigen Eventmanagement-Unternehmens) gewinnt eine tiefere Bedeutung, sobald man Rossis Lebensgeschichte genauer betrachtet, denn darin sind Fakten und Phantasien ebenfalls bunt (und bisweilen ziemlich bizarr) gemischt.

Nachdem sein Vater, ein Jazzgitarrist, manisch-depressiv erkrankte und in eine Klinik eingewiesen wurde, lernte Rossi in einer evangelikalen Pflegefamilie schon als Kind die Gottesfurcht kennen. Als junger Mann nahm er dann an einer privaten christlichen Hochschule (Liberty University in Virginia) das Bibelstudium auf, das er mit einem Masterabschluss hinter sich brachte. Nach Drogenmissbrauch (daran starb später einer seiner Brüder) führte ihn der Herr auf den rechten Weg zurück. Und so wurde aus Richard Rossi (wie aus George W. Bush, bei dem es um Alkoholmissbrauch ging) ein Wiedergeborener Christ. Wegen versuchten Mordes an seiner Frau stand er dann allerdings 1995 vor Gericht. Nachdem sie ihre Anzeige zurückgenommen hatte (man erinnere sich an Lulu, die Elmer Gantry erst bloßstellt und dann dafür sorgt, dass er rehabilitiert werden kann), wurde Rossi nur noch wegen häuslicher Gewalt zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Freilassung kam er als frommer Hirte bei der Immanuel Baptist Church unter. Doch als man von der früheren Anklage und Verurteilung erfuhr, war Rossi seinen Job wieder los. Aber Rossi hält es mit Johannes Kapitel 8, Vers 7 („Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“) und ist deshalb nicht nachtragend. So fragt er die Leser seines Blogs, warum Bill Clinton der Fehltritt mit Monica Lewinsky und Donald Trump die Bekanntschaft mit der Porno-Schaustellerin Stormy Daniels (im Februar 2007 war sie Penthouse Pet of the Month) nicht vergeben werden sollte? (http://richardrossi.blogspot.com/).

In Richard Rossis Film Canaan Land geht es ja schließlich auch darum, einen armen Sünder (Billy Gantry) auf den rechten Weg zurückzuführen. Schwester Sara ist hier aber nicht die Verführerin Eva (Monica Lewinsky, Stormy Daniels), sondern die Erlöserin Maria. In einem Interview stellte Rossi Canaan Land in eine Reihe mit früheren Filmen: “Canaan Land is my third feature which will show the dangers of fundamentalism. My first was Sister Aimee (2006), about faith healer Aimee Semple McPherson. My last film was Baseball’s Last Hero21 Clemente Stories (2013), about my childhood idol Roberto Clemente” (http://www.patheos.com/blogs/frankschaeffer/2016/07/an-interview-with-minister-turned-moviemaker-the-one-and-only-richard-rossi/).

Wunder gibt es immer wieder

Roberto Clemente war kein Prediger, doch er war mindestens ein so guter Baseballspieler wie Billy Sunday (posthum wurde Clemente in die National Baseball Hall of Fame aufgenommen). 1972, im Alter von 38 Jahren, kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Er war auf dem Weg nach Nicaragua, wohin er Hilfsgüter für die Opfer eines Erdbebens bringen wollte. Dieses Beispiel von Barmherzigkeit bewog Rossi, sich für die Heiligsprechung seines Idols Roberto Clemente einzusetzen. Der Film Baseball’s Last Hero diente eben diesem Zweck. Rossi erhielt dafür 2014 ein anerkennendes Schreiben des päpstlichen Sekretariats der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse (Faksimilie s. http://catholicnewswire.blogspot.com/2015/01/roberto-clementes-canonization-receives.html). Voraussetzung für eine Heiligsprechung ist nun aber das eine oder andere Wunder. Zwar sang Katja Ebstein beim Eurovision Song Contest 1970 Wunder gibt es immer wieder, doch genau unter dieser Zwischenüberschrift („Wunder gibt es immer wieder“) findet sich auf einer frommen Internet-Seite der einschränkende Hinweis „Wunder geschehen nicht einfach so. Die Kirche legt dabei strenge Maßstäbe an. (…) Mehrere Wissenschaftler müssen den Vorgang untersuchen (…) und zu dem Schluss kommen können, dass das Wunder mit den Kriterien der Wissenschaft nicht erklärt werden kann.“ (http://www.katholisch.de/glaube/unsere-vorbilder/heiligsprechung). Eben, darum geht es doch: „Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt?“ (Paulus 1. Korintherbrief 1, 20)

Wunder werden aufgrund der Allmacht Gottes möglich, die ihn befähigt, die von ihm geschaffenen Gesetze der Natur von Fall zu Fall außer Kraft zu setzen. Tritt ein solcher Fall ein (etwa Stigmata, das heißt, ein Mensch blutet aus Wunden, die denen des Heilands am Kreuz entsprechen; oder unheilbar erscheinende Krankheiten werden durch Glaubenskraft geheilt), kann ein Mensch, an dem oder durch den das geschieht, zum Heiligen erhoben werden. Diesbezüglich war Johannes Paul II, dessen Pontifikat von 1998 bis 2005 andauerte, besonders erfolgreich. Alle seine Vorgänger seit dem Konklave von 1592, bei dem Clemens VIII zum Stellvertreter Christ auf Erden gewählt wurde, fanden zusammen weniger Heilige als er. Es dauerte dann nicht lang und Johannes Paul II selbst wurde von seinem Nachfolger Benedikt XVI erst selig (2011) und dann heilig (2014) gesprochen. Bei Richard Rossis Idol geht es nicht so rasch voran – doch der Evangelist, der dafür eintritt, dass aus dem Baseballspieler Roberto Clemente ein katholischer Heiliger wird, gibt nicht so schnell auf.

Ob es Wunder gibt, darüber mag man streiten, doch der Glaube an Wunder ist eine unbestreitbare Tatsache. Dieser Glaube versetzt Berge – oder mit Freud gesagt: „Es gibt soviel mehr Menschen, die an die Wunder der heiligen Jungfrau, als die an die Existenz des Unbewußten glauben“ (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1933). Doch trotz aller Skepsis hat Freud den Beitrag der Religionen zur „menschlichen Kulturentwicklung“ anerkannt. An dieser Stelle heißt es weiter: „An der Entwicklung der alten Religionen glaubt man zu erkennen, daß vieles, worauf der Mensch als ‚Frevel’ verzichtet hatte, dem Gotte abgetreten und noch im Namen des Gottes erlaubt war, so daß die Überlassung an die Gottheit der Weg war, auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft böser, sozialschädlicher Triebe befreite“ (Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen, 1907).

Der Verzicht auf die Erfüllung archaischer (aggressiver und sexueller) Wünsche – zum Beispiel: „Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‚Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der HERR’“ (Römer 12, 19) – ist laut Freud eine Voraussetzung des Fortschritts zu mehr Humanität. Und da die Religionen für diese Verzichtleistung eine Belohung in Aussicht gestellt haben (sei’s als reines Gewissen auf Erden, sei’s als spätere Anerkennung vor Gott), haben sie zum ethischen Fortschritt der Menschheit entscheidend beigetragen. Doch halt, die Sache hat einen Pferdefuß, der in einem Halbsatz versteckt ist, in dem Freud doppeldeutig formuliert, „daß vieles, worauf der Mensch als ‚Frevel’ verzichtet hatte, (…) noch im Namen des Gottes erlaubt war“ (Herv. B. N.). Das heißt, man kann guten Gewissens tun, was Gott verboten hat, wenn man theologische Kniffe anwendet und sich dann darauf beruft, im Namen Gottes zu handeln. Klassisches Beispiel wäre die Inquisition, deren Praxis der Ketzerverbrennung als Rückkehr zum Kult des Menschenopfers zu deuten ist.

Wenn es ein Axiom gibt, das Freuds Werk kennzeichnet, dann lautet es: Wo Progression ist, kann Regression werden. Dieser so genannte ‚Rückfall in die Barbarei’ tritt unter Bedingungen ein, die das Fundament erschüttern, auf dem das stolze Gebäude der Humanität ruht. Anders gesagt: Fortschritt ohne Rückschritt bleibt eine Utopie. Religionen und ihrer weltlichen Nachfolger – die politischen Religionen, zu denen Bolschewismus, Nationalsozialismus und Maoismus gehören (der Begriff ‚Mao-Bibel’ ist daher treffsicher gewählt) – bieten nun aber Interpretationsschemata an, mit deren Hilfe jedes historische Ereignis – sei es auch noch so grausam oder sinnlos – in einen Welterklärungszusammenhang gebracht werden kann, der nur eine Richtung und daher auch ein Ziel der Geschichte kennt: die Endzeit (Buch Daniel, alttestamentarisch; Johannes Apokalypse, neutestamentarisch; klassenlose Gesellschaft, irdisch). Dieser Gedanke linearer Progression geht mit einer Einteilung einher, die mit geringem intellektuellem Aufwand vorzunehmen ist. Man muss nur zwischen Gott und Teufel, Gut und Böse, Freund und Feind unterscheiden können. Dann lässt sich zwischen der Niederlage von gestern und der Erlösung von morgen Zeit für die Opfer von heute finden. Das sind die Feinde der Ordnung, die dem Fortschritt im Wege stehen – und daher aus dem Weg zu räumen sind.

Martin Riesebrodt hat in seinem Buch Die Rückkehr der Religionen (2000) – dieser Titel wäre inzwischen durch die Zweitüberschrift Die Wiederkehr politischer Heilsangebote zu ergänzen – den „Deutungs- und Sinngebungszwang der menschlichen Gattung“ thematisiert, der „sich besonders deutlich in Krisensituationen, bei Gefahren und Risiken, beim Zusammenbruch sozialer, moralischer und kognitiver Strukturen (zeigt), wenn Menschen besonders dramatisch mit ihrer eigenen Macht- und Hilflosigkeit konfrontiert werden. Hier setzt die Entwicklung von Ideen ein, die es ihnen erlauben, die Ohnmachtserfahrung kognitiv, moralisch und emotional in die Möglichkeit einer wenigstens indirekten Beherrschbarkeit solcher Krisen umzudeuten oder Gefahr und Leiden in den Zusammenhang eines umfassenderen Heilsplanes zu stellen (…).” Man könnte mit Verweis auf Freuds Interpretation der Magie als frühe Technik der (vermeintlichen) Naturbeherrschung auch sagen, dass es sich bei den Versuchen, Hilflosigkeits- und Ohnmachtgefühle mit Hilfe religiöser oder politischer Heilspläne zu bewältigen, um eine magische Sozialtechnik handelt, mit deren Hilfe Sicherheit durch Ausgrenzung, Verfolgung oder gar Vernichtung derjenigen erreicht werden soll, die für die Krise verantwortlich gemacht werden.

Als klassisches Beispiel dieser Art der ‚Krisenbewältigung’ sei die Zeit der Pest (um 1350) genannt. Man hat damals rasch die Schuldigen gefunden, die Juden, und an ihnen im Namen Gottes die Wut ausgelassen, die Ohnmachtgefühlen stets auf dem Fuße folgt. Aber warum in die Ferne schweifen? Die Gegenwart ist doch so nah. In einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) wurden die Daten von 800 Wahlen seit 1870 in 20 Industrieländern ausgewertet. Man stellte fest, dass sich nach wirtschaftlichen Krisen das Wählerverhalten deutlich verändert. Das war auch nach der Finanzkrise 2008 so. In vielen Ländern erstarkten rechtspopulistische Bewegungen, darunter die Waffen-Bibel-Fraktion in den USA, die Trump an die Macht brachte, und die Heimat-das-Volk-sind-wir-Front, die in Deutschland unter der Abkürzung AfD bekannt ist.

Rechtspopulisten mit autoritären Führerfiguren profitieren von der in Krisenzeiten ausgelösten allgemeinen Verunsicherung deshalb besonders stark, weil sie klare Feindbilder vorgeben (in den USA derzeit Mexikaner und Moslems, in der BRD Türken und andere Moslems) und diese Stereotype mit monokausalen Erklärungen und simplen Lösungsvorschlägen verbinden. So ließ zum Beispiel die CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla 2016 auf Twitter wissen: „Die Umvolkung Deutschlands hat längst begonnen. Handlungsbedarf besteht!“ (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-09/cdu-bettina-kudla-nazi-sprech-umvolkung-twitter). „Handlungsbedarf besteht“, das heißt: die Kontrolle droht zu entgleiten und muss daher schnellstens gesichert werden.

Das Bedürfnis der Menschen, die Kontrolle über die Welt, in der sie leben, aufrecht zu erhalten oder, wenn sie verloren zu gehen droht, zu festigen, das ist der Ansatzpunkt, den politische Führer oder von Gott beauftragte geistliche Führer dazu benutzen, das Verhalten der Menschen zu kontrollieren. Sie greifen Wünsche und Ängste auf und versprechen für den Fall, dass man ihnen, beziehungsweise ihren Lehren folgt, die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Kontrolle über die Welt, in der wir leben. Ob Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus oder Angehörige einer sonstigen Religion – bei allen verstärkt sich der Glaube an eine ‚höhere’ Ordnungsmacht in dem Maße, in dem das Vertrauen in die irdische Regierung abnimmt. Das konnte eine Forschergruppe anhand von Daten aufzeigen, die zwischen 2005 und 2009 in 155 Ländern erhoben wurden (Zuckerman et al., Personality and Social Psychology Bulletin, 2018). Überraschend ist dieser Befund nicht, stimmt er doch mit einer Erkenntnis überein, die bereits vor hundert Jahren vorhanden war: „Die Religiosität führt sich biologisch auf die lang anhaltende Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des kleinen Menschenkindes zurück, welches, wenn es später seine wirkliche Verlassenheit und Schwäche gegen die großen Mächte des Lebens erkannt hat, seine Lage ähnlich wie in der Kindheit empfindet und deren Trostlosigkeit durch die regressive Erneuerung der infantilen Schutzmächte zu verleugnen sucht“ (Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 1910). So gesehen sind wir alle für ‚höhere’ Mächte empfänglich (und sei es, dass wir sie in weltlichen Führern lokalisieren), denn im unbewussten Seelenleben bleiben wir Kinder. Das war und ist die Geschäftsgrundlage für Elmer Gantry alias Billy Sunday alias Billy Gantry alias Richard Rossi alias George Forman, Schwergewichtsboxweltmeister 1973 ff., der heute Küchengeräte und das Wort des Herrn vertreibt. In einem Interview sagte Forman: „Ich bin ein Verkäufer geworden, von Tür zu Tür, ich verkaufe alles: Grills, das Wort Gottes. Als Priester musste ich anfangen, an Straßenecken zu predigen, es wollte mich am Anfang ja keine Kirche haben. Dabei habe ich gelernt, wie man seine Botschaft an die Leute bringt. Das ist die harte Schule, Menschen auf der Straße dazu zu bringen anzuhalten, Die wollen irgendwo hin. Ich wurde Weltmeister im Verkaufen“ (Süddeutsche Zeitung 21./22.07.2018).

Elmer Gantry Gott ist im Geschäft.
USA 1960.
Regie: Richard Brooks.
Darsteller: Burt Lancaster, Jean Simmons, Arthur Kennedy.
Länge (deutsch synchr.) 140 min.

Canaan Land. The Saga of Sister Sara & Brother Gantry.
USA 2018.
Regie: Richard Rossi.
Darsteller: Richard Rossi, Rebecca Holden, Sally Kirkland.